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Havers
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Bewertungen

Insgesamt 1378 Bewertungen
Bewertung vom 31.08.2020
Kalmann
Schmidt, Joachim B.

Kalmann


ausgezeichnet

Seit die Heringsschwärme ausgeblieben sind und die Fischfabrik geschlossen hat, ist es mit Raufarhöfn nur noch bergab gegangen. Die Bewohner sind abgewandert, sodass das Örtchen ganz im Nordosten Islands mittlerweile noch nicht einmal mehr 200 Einwohner hat. Einer von ihnen ist der Jäger und letzte Haifischer Kalmann Odinsson, der mit Cowboyhut, Sheriffstern und seiner Mauser im Gürtel dafür sorgt, dass alles seinen geregelten Gang geht. Bis er eines Tages eine Blutlache im Schnee findet. Eigentlich nicht weiter beachtenswert, wäre nicht zeitgleich Róbert McKenzie verschwunden, ein zwielichtiger Geschäftsmann mit dubiosen Kontakten. Als die Polizei eintrifft, um sich ein Bild vor Ort zu machen, sieht sich Kalmann genötigt, sie im Rahmen seiner Möglichkeiten zu unterstützen.

Kalmann ist speziell, naiv und fast schon so ehrlich, dass es schmerzt. Aber wenn es darauf ankommt ist er durchaus in der Lage, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Und er ist einsam, ganz besonders, seit sein Großvater im Pflegeheim ist, von dem er alles über die Welt und die Herstellung von Gammelhai gelernt hat und für den das Handicap seines Enkels nie ein Problem war.

Es ist ein leise erzählter Roman mit grandiosen Naturschilderungen und einer Hauptfigur, die im Gedächtnis bleiben wird. Mit viel Liebe zum Detail lässt uns der Autor an dem täglichen Leben seines Protagonisten teilhaben, zeigt uns die verschiedenen Facetten seiner Persönlichkeit und entfaltet nach und nach das Panorama eines isländischen Dorfes, das vom Aussterben bedroht ist. Und nicht zuletzt flicht Joachim B. Schmidt die Auswirkungen des Klimawandels auf die isländische Fischerei ein und übt Kritik an der Quotenregelung, die die Konzentration der Fischereirechte in den Händen weniger Geschäftemacher ermöglicht und somit den kleinen Fischern die Lebensgrundlage entzieht.

Bewertung vom 22.08.2020
Der rote Apfel
Seo, Mi-Ae

Der rote Apfel


sehr gut

Es ist bisher eher eine magere Ausbeute, wenn ich in meinen Regalen nach koreanischen Autoren Ausschau halte. Un-Su Kim und Jeong Yu-jeong, das war es dann schon. Nun gesellt sich also Mi-Ae Seos „Der rote Apfel“ dazu, der aktuelle Thriller der in Südkorea sehr bekannten Autorin.

Die Kriminalpsychologin Sonkyong erhält einen Anruf. Lee Byongdo, der Serienmörder, der auf seine Hinrichtung wartet, ist endlich bereit, sein Schweigen zu brechen und verlangt nach ihr. Ein Szenario, das an „Das Schweigen der Lämmer“ erinnert, ist doch der Spitzname besagter Psychologin Clarice (wir erinnern uns an die Dialoge zwischen Clarice Starling und Hannibal Lecter). Fast gleichzeitig beschließt ihr Mann Hayong, seine Tochter aus erster Ehe, bei sich aufzunehmen. Im höchsten Maße traumatisiert, ist sie doch die einzige Überlebende eines Brandes, bei dem sie gerade ihre Großeltern verloren hat.

Die Rückblicke in die Vergangenheit des Täters haben Auswirkungen auf Sonkyongs Sicht auf ihre Stieftochter, führen bei ihr fast schon zur zwanghaften Analyse deren Verhaltens. Sie zieht Vergleiche, entwickelt Ängste, wird unsicher.

Es ist eine subtile Story, die sich langsam und bedächtig entwickelt und leise daherkommt. Die Atmosphäre ist von Beginn an bedrückend, was durch die Perspektivwechsel noch unterstützt wird, aber absolut passend ist, auch wenn dadurch manche Passagen unnötig in die Länge gezogen werden.

Die Autorin gewährt uns interessante Einblicke in eine Kultur des Schweigens, des Unausgesprochenen. Vieles spielt sich in den Köpfen der beteiligten Personen ab, lässt den Leser im Ungewissen mit Vermutungen und animiert dazu, eigene Schlüsse zu ziehen.

All denen empfohlen, die auf actionreiche Handlungen gerne verzichten und Thriller bevorzugen, die tief in die Seelen ihrer Protagonisten abtauchen.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 21.08.2020
Das Spiel - Es geht um Dein Leben / Björk und Brand Bd.1
Beck, Jan

Das Spiel - Es geht um Dein Leben / Björk und Brand Bd.1


weniger gut

Er der unüberlegte Haudrauf, sie die Physiognomie-Expertin mit dem außergewöhnlichen Gedächtnis. Das Ermittlerpaar Brand und Björk, beide natürlich mit Narben auf der Seele, erstmals in einem gemeinsamen Fall ermittelnd. Eine Mordserie, in der die Opfer eine Tätowierung tragen, die nur unter UV-Licht sichtbar ist. Netter Einfall.

ABER:

Darknet, Jäger und Gejagte, der Jackpot für den Gewinner. Unzählige Gewaltdarstellungen, Blut und Brutalität. Sonst nix. Ist ja nicht so, dass der Autor das Rad mit dieser Gewaltorgie neu erfunden hätte. Und es mag durchaus Leser*innen geben, die an solch einem banalen Metzel-Thriller, der die niedersten Instinkte anspricht, ihre Freude haben. Ich jedenfalls nicht.

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 21.08.2020
Wilde Freude
Chalandon, Sorj

Wilde Freude


ausgezeichnet

Schmerzen, die Untersuchung, die Diagnose. Brustkrebs. Von einem Moment auf den anderen ändert sich ein Leben. Zerbricht in seine Einzelteile. Fragil war es schon immer. Seit dem Tod des eigenen Kindes in Stücke gebrochen und nur notdürftig wieder zusammengesetzt. Aber wie soll es weitergehen? Wie mit der Diagnose leben? Wie die Behandlung überstehen? Ohne die unterstützende Hand des Mannes an ihrer Seite? Dieses Feiglings, der damit nicht umgehen kann, der sich plötzlich vor ihr ekelt. Die Flucht ergreift, sie alleine zurücklässt. Mit ihrem Schmerz und ihrer Verzweiflung.

Aber Jeanne hat Glück im Unglück. Sie findet Unterstützung. Drei Frauen, die das gleiche Schicksal teilen, aber sich von dem Kampf gegen die Krankheit nicht unterkriegen lassen. Ihr Leben in die Hand genommen haben und das Beste aus der Zeit machen wollen, die ihnen noch bleibt. Jeden Tag willkommen heißen. Leben, als wäre es der letzte. Und Jeanne ergreift die Hände, die ihr von ihren „Schwestern im Krebs“ angeboten werden und wandelt sich von der Fügsamen zur Kämpferin.

Leider trifft der Klappentext nicht im Entferntesten den Inhalt. Chalandons Roman ist kein Roadmovie, und den Vergleich zu Thelma & Louise kann ich nur in Ansätzen nachvollziehen. „Wilde Freude“ ist nicht nur ein bittersüßer Roman über persönliche Tragödien sondern auch über die weibliche Solidarität im Angesicht des Todes. Ein Aufruf zur Lebenslust und zum Widerstand gegen diese tückische Krankheit, bei der das Ende ungewiss ist. Er leiht den Frauen seine Stimme, beschönigt nichts, aber behandelt die Auswirkungen dieser tückischen Krankheit, sowohl auf die Patientinnen als auch auf die Menschen in ihrer Umgebung, mit viel Fingerspitzengefühl. „Wilde Freude“ ist ein schonungsloses Plädoyer gegen die Duldsamkeit, ein Aufruf, das Leben und die wilde Freude, die es auch in einer scheinbar ausweglosen Situation bieten kann, willkommen zu heißen. Eine beeindruckende, Mut machende Lektüre. Nachdrücklich empfohlen!

Bewertung vom 20.08.2020
Caribou
Major, Kevin

Caribou


gut

„Caribou“ (im Original „Land Beyond the Sea) ist der Abschlussband einer Trilogie, in der sich der Autor Kevin Major mit der Historie seines Heimatlands beschäftigt.

Die Caribou ist ein Fährschiff, das in der Cabotstraße zwischen Neufundland und Nova Scotia auf kanadischer Seite nicht nur Fracht für die Eisenbahngesellschaft sondern auch Passagiere transportiert, neben Zivilisten in den Zeiten des Zweiten Weltkriegs natürlich auf Militärangehörige. Am 14.10.42 kreuzt es den Weg des deutschen U-Boots U 69 und wird von diesem ohne Zögern torpediert. Die Fähre sinkt und mit ihr verlieren 137 Menschen ihr Leben, darunter viele Frauen und Kinder. 100 Passagiere/Besatzungsmitglieder überleben.

Dieses reale historische Ereignis beschreibt Kevin Major in dem Roman, wobei er seinen Blick im Detail zum einen auf den deutschen U-Boot Kommandanten Ulrich Gräf, zum anderen auf den Schiffssteward John Gilbert als Stellvertreter für die Überlebenden richtet. Romantisierende Beschreibungen sucht man glücklicherweise vergebens, die Schilderungen sind eher in einem knappen, realitätsnahen Reportage-Stil gehalten, was allerdings den Zugang nicht nur zu den Protagonisten sondern auch zu diesem tragischen Ereignis erschwert. Hier hätte ich mir mehr Empathie seitens des Autors gewünscht, denn so schaut man distanziert und emotionslos auf den Untergang des Fährschiffes und darauf, welche Auswirkungen er hat.

Der Roman gliedert sich in vier Teile: Im ersten Abschnitt lernen wir Gräf und die Besatzung des U-Bootes sowie einzelne Besatzungsmitglieder und Passagiere der Caribou kennen, dann folgt die Torpedierung und der Überlebenskampf in den Fluten, danach begleiten wir über einen eingeschränkten Zeitraum den Kommandanten des U-Boots Ulrich Gräf und den ehemaligen Schiffsteward und Überlebenden der Caribou John Gilbert, als Abschluss dann die Bombardierung Dresdens durch die amerikanische Luftwaffe.

Für Gräf geht das Leben weiter. Weitgehend unreflektiert. Er stellt weder den Sinn des Krieges noch seine Einsätze in Frage. Selbst dann nicht, als er bei dem Heimaturlaub in Dresden auf dem Bahnhof einen Deportationszug nach Theresienstadt beobachtet. Nur interessiert an seinen Erfolgen in Form der BruttoRegisterTonnen. Gilbert hingegen ist von dem Wunsch nach Vergeltung, nach Rache für die Caribou und die Opfer regelrecht besessen. Und die wird er bekommen.

Bewertung vom 18.08.2020
Lecker-Land ist abgebrannt
Kriener, Manfred

Lecker-Land ist abgebrannt


ausgezeichnet

Bio, Vegan, Vegetarisch, Superfood – die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Ernährung ist ein Thema, das uns alle angeht und überall präsent ist. Und wenn man sich die Vielzahl der Kochsendungen im TV, die Food Blogs und das Angebot an Kochbüchern und Zeitschriften anschaut, sollte man davon ausgehen können, dass sich die Mehrzahl der Konsumenten damit auseinandersetzt, was schlussendlich auf dem Teller landet. Weit gefehlt.

Bei den einen fehlt die Zeit, bei den anderen die Lust am Selbermachen, denn noch nie wurde so wenig gekocht wie heute. Dafür steigt der Verbrauch an Produkten aus dem Convenience-Bereich kontinuierlich an. Weitaus problematischer scheinen mir allerdings die Wissenslücken zum Thema Ernährung, und genau hier setzt Manfred Krieners „Lecker-Land ist abgebrannt“ an. Der Autor sagt uns nicht, was wir essen sollen, sondern gibt uns Informationen an die Hand, damit wir eine Entscheidungsgrundlage dafür haben, was wir essen WOLLEN.

Ohne erhobenen Zeigefinger, nicht wertend und teilweise auch mit Augenzwinkern, bietet Kriener seinen Lesern jede Menge nützliche Informationen. Allerdings sind diese in erster Linie für Verbraucher interessant, die sich noch nicht im Detail mit der Thematik beschäftigt haben. Zucker, Aquakultur und Tierhaltung sind hier die Reizworte, wobei es für die Produktion entsprechender Nahrungsmittel kaum einen Unterschied macht, ob man sich Bio- oder konventionelle Qualität anschaut. Ähnliches gilt für die gehypten Superfoods wie z.B. Chia, Goji, Weizengras etc., die ohne Problem durch heimische Samen und Früchte ersetzt werden können und die Inhaltsstoffe der Exoten meist sogar übertreffen. Und allemal eine besserer Ökobilanz haben. Das allerdings nur als Beispiel, entscheiden muss jeder Verbraucher für sich. Aber Kriener schaut sich auch die aktuellen Strömungen innerhalb unserer Esskultur an: bio, vegetarisch, regional und vegan. Gerade der Veganismus hat eine kulinarische Zeitenwende eingeläutet und eine neue Ernährungswelt geschaffen, die die Essgewohnheiten weltweit auf lange Sicht verändern könnte.

Ein gut recherchierter und faktenreicher Augenöffner, mit ausführlichen Anmerkungen und Quellenverweisen sowie einem detaillierten Register, der hoffentlich nicht nur dazu motiviert, sich mit dem Thema Ernährung auseinanderzusetzen, sondern auch den Rat des Autors zu beherzigen: „Kochen Sie selbst so oft wie möglich, meiden Sie jeden Industriefraß, misstrauen Sie den Fertiggerichten der Ernährungskonzerne.“

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 16.08.2020
Zugvögel
McConaghy, Charlotte

Zugvögel


gut

Das Verhältnis von Mensch und Natur, ein Thema, das seit Jahrzehnten Autoren beschäftigt. Man denke nur an Thoreaus „Walden“, Melvilles „Moby Dick“ oder Hemingways „Der alte Mann und das Meer“. Und in dem Maße, in dem die Zerstörung unserer Umwelt voranschreitet, Lebensräume sich für Menschen und Tiere verändern, Bestände quer durch alle Spezies dezimiert werden, beschäftigen sich auch in der aktuellen Belletristik Autor*innen mit dieser Thematik. Man denke nur an die erfolgreichen Romane von Maja Lund. Nun also Charlotte McConaghy, die von ihrer Liebe zur Natur zu ihrem Debüt „Zugvögel“ inspiriert wurde.

In einer Welt, in der es kaum noch Vögel gibt, setzt sich Franny, eine Ornithologin, den Gefahren des Atlantiks aus und folgt der Wanderung der letzten Küstenseeschwalben von Grönland bis in die Antarktis. Aber es ist nur in geringem Maße das wissenschaftliche Interesse, das sie antreibt, es sind vor allem ihre inneren Dämonen. Die Vergangenheit, die sie nicht ruhen lässt und für ihre Unrast verantwortlich ist.

„Zugvögel“ bedient verschiedene Genres und ist eine Melange aus Love-Story, Krimi, Abenteuerroman und Klima-Fiktion. Letzeres passt natürlich thematisch gut in unsere Zeit und weckt mit Sicherheit Interesse, hat aber leider eine große Schwäche: Wenn es das Anliegen einer Autorin ist, auf die Umweltzerstörung und deren nachfolgende Problem für die Tierwelt aufmerksam zu machen, sollte sie über das bloße Jammern hinausgehen. McConaghy verzichtet leider auf die Benennung der Ursachen, sieht die Probleme nicht in ihrem gesellschaftspolitischen Zusammenhang, sondern überlagert ihr eigentlich brisantes Thema mit den persönlichen Schwierigkeiten der Protagonistin. Eine vertane Chance. Schade.

Bewertung vom 09.08.2020
Old Bones - Tote lügen nie / Nora Kelly und Corrie Swanson Bd.1
Preston, Douglas;Child, Lincoln

Old Bones - Tote lügen nie / Nora Kelly und Corrie Swanson Bd.1


sehr gut

„Old Bones“ ist der Auftakt einer neuen Reihe des Autorenduos Preston/Child. Und es ist gleichzeitig so etwas wie ein Spin Off, denn die beiden Protagonistinnen kennen wir bereits aus den Agent Pendergast-Büchern. Nora Kelly, die Archäologin und Kuratorin in Santa Fe, und Corrie Swanson, das etwas schräge, ehemalige Mündel von Pendergast, mittlerweile FBI-Agentin.

Ausgangspunkt ist eine durch Tagebücher verbriefte tragische Geschichte: 1846 machen sich 87 Siedler, bekannt als die Donner Party, auf den Weg nach Westen, aber nur ein Teil von ihnen wird dort ankommen. Starke Schneefälle in der Sierra Nevada überraschen den Treck und verhindern das Weiterziehen, die Vorräte gehen zur Neige, 34 sterben. Die Übrigen überleben nur, weil sie sich ihre toten Reisegefährten einverleiben. Soweit die Fakten.

Nun zur Fiktion: Der kalifornische Historiker Clive Benton ist im Besitz eines solchen Tagebuch und glaubt, dass er anhand dessen den ehemaligen Lagerplatz der Gruppe bestimmen kann. Aber für den Feldeinsatz benötigt er Noras Hilfe, da es ihm an den nötigen Fähigkeiten für die Ausgrabung mangelt. Sie willigt ein, rechnet aber nicht mit den schrecklichen Ereignissen, die ihren Lauf nehmen, als das Gerücht auftaucht, dass in der Nähe des Lagers ein sagenhafter Goldschatz vergraben sei. Hier kommt dann Corrie ins Spiel, die die Mordermittlungen vor Ort leitet.

Ein interessanter Plot, leider stellenweise mit archäologischem Fachwissen überfrachtet und deshalb nicht unbedingt von Tempo geprägt. Aber die Überschneidungen, Verschränkungen zwischen damals und heute, haben für historisch interessierte Leser durchaus ihren Reiz. Obwohl die Geschichte der Donner-Party, ihres Überlebenskampfes, ihres Kannibalismus, bereits vielfach anhand verschiedenster Prämissen analysiert wurde, liefern Preston/Child mit diesem unterhaltsamen Roman einen verblüffenden Ansatz und eine neue Interpretation der damaligen Ereignisse. Vielleicht war es ja wirklich so, wer weiß?

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 07.08.2020
Der Bluthund / Jack Reacher Bd.22
Child, Lee

Der Bluthund / Jack Reacher Bd.22


ausgezeichnet

Mit schöner Regelmäßigkeit erscheint jedes Jahr ein neuer Roman aus dem Reacher-Universum. Ob das zukünftig so bleiben wird sei dahin gestellt, hat Lee Child doch kürzlich bekanntgegeben, dass er nun seinen Ruhestand genießen möchte und deshalb den Staffelstab an seinen Bruder weiterreicht, der die Reihe fortführen soll. Zunächst mit ihm als Co-Autor, später allein.

„Der Bluthund“ stammt allerdings noch aus seiner Feder, obwohl er sich, zumindest inhaltlich, von den Vorgängern unterscheidet. Der einsame Wolf zeigt zu Beginn seine emotionale Seite, die wir so nicht von ihm kennen. Auch wenn sie nur von kurzer Dauer war, trauert er der Begegnung mit einer außergewöhnlichen Frau hinterher. Ja, richtig, er hat Liebeskummer, aber keine Angst, kurz nach der Eröffnungssequenz verfällt er wieder in alte Muster und schlägert, was das Zeug hält.

Wesentlich überraschender als Reachers Melancholie ist allerdings die eigentliche Storyline. In einem Kaff in Wisconsin entdeckt er in einer Pfandleihe einen Westpoint-Ring, Symbol für die erfolgreiche Absolvierung der Ausbildung an der renommierten Militärakademie. Die ehemalige Besitzerin - dass es eine Frau sein muss, schließt er aus der Größe des Rings - muss in einer großen finanziellen Notlage gewesen sein, wenn sie sich von ihm getrennt hat. Reacher, selbst hochdekorierter Ex-Militär, beschließt, den Ring der Eigentümerin zurückzugeben, aber das gestaltet sich schwieriger als erwartet.

Und da wären wir schon bei der zweiten Überraschung, mit der dieser Roman (im Original 2017 erschienen) aufwartet. Auch wenn er die alten Verhaltensmuster des Protagonisten beibehält, beschäftigt sich der Autor mit einem für die Vereinigten Staaten gesellschaftlich relevanten Thema, denn die im Irak-Einsatz schwerverletzte Veteranin ist abhängig von Schmerzmitteln und musste für deren Beschaffung den Ring versetzen.

Dass die Opioid-Krise ein großes, ein flächendeckendes Problem in den USA ist, dürfte mittlerweile bekannt sein. Ob Stadt oder Land, reich oder arm, die Schmerzmittel-Sucht zieht sich durch alle Schichten. Zur Information, zwischen 1999 und 2017 sind nach Behördenangaben fast 400.000 Menschen in den USA an den Folgen von Opioid-Missbrauch gestorben. Und das sind nur die offiziellen Zahlen, die Dunkelziffer dürfte weit höher sein.

Lee Child hat dieses wichtige Thema in eine gewohnt actionreiche Handlung gepackt, spannend und unterhaltsam inszeniert. Für mich ohne Frage ein Highlight der Reihe. Gerne mehr davon, Mr Child!

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 05.08.2020
Zeiten der Heuchelei
Markaris, Petros

Zeiten der Heuchelei


sehr gut

Die griechische Finanzkrise und ihre Auswirkungen auf die normalen Bürger sind seit 2011 ein wiederkehrendes Thema der Kostas Charitos-Krimis von Petros Markaris. So auch in „Zeiten der Heuchelei“, dem zwölften Band der Reihe, in dem der frischgebackene Großvater sich um besonders vertrackte Morde kümmern muss. Auf den ersten Blick erschließt sich die Wahl der Opfer nicht, handelt es sich doch um unbescholtene Bürger, um hochangesehene Stützen der Gesellschaft. Ein sozial engagierter Hotelier, der Stipendien an notleidende Studenten vergibt, ein Abteilungsleiter im Griechischen Statistikamt sowie zwei EU-Beamte plus ein Grieche, die bei einem Autounfall ums Leben kommen.

Die Gutmenschen-Profile von Opfer 1 und 2 bekommen Risse, als den Medien Bekennerschreiben zugespielt werden. Das „Heer der Nationalen Idioten“ übernimmt die Verantwortung für die Anschläge und bezichtigt die Opfer der Heuchelei. Die Ermittlungen ergeben, dass der Hotelier seinen Firmensitz auf die Kaiman-Inseln ausgelagert hat und so seine Gewinne am griechischen Fiskus vorbei schleust, der Beamte hingegen frisiert Statistiken für die EU. Offenbar wesentlich besser entlohnt, als das Einkommen, dass die „normalen“ Griechen, so sie denn überhaupt eine feste Arbeit haben, als Monatslohn erwarten können. Im Durchschnitt ca. 300 Euro, zu wenig zum Leben, zu viel zum Sterben. Rentenzahlungen, die die Bezeichnung nicht verdienen und die Bezugsberechtigten in die Obdachlosigkeit treiben. Und der Staat? Schaut zu.

Wie viel Frust und Ungerechtigkeit muss erduldet werden, bis sich die Opfer dieses Systems formieren? Bis sie die Öffentlichkeit suchen, die Missstände benennen wollen und dabei in der Wahl der Mittel nicht zimperlich sind?

Wieder einmal brisante Themen des griechischen Alltags, auf die Markaris unseren Blick richtet. Allerdings ist die Umsetzung nur in Teilen gelungen. Viel zu viel Baby-Eia, viel zu viel Großfamilien-Idyll, viel zu viel Bürokraten-Blabla. Dafür viel zu wenig zielgerichtete Ermittlungsarbeit, eher ein kollektives Stochern im Nebel von Kommissar Charitos samt Team und hinzugezogenen Experten. Und der Verzicht auf die gebetsmühlenhaften Wiederholungen der Ermittlungsergebnisse hätte dem Roman sicher nicht zum Nachteil gereicht.