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Buchdoktor
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Deutschland
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Romane, Krimis, Fantasy und Sachbücher zu sozialen und pädagogischen Tehmen interessieren mich.

Bewertungen

Insgesamt 612 Bewertungen
Bewertung vom 04.01.2017
Hasenfest und Hühnerhof
Sixt, Eva

Hasenfest und Hühnerhof


ausgezeichnet

Vom wirklichen Leben der Hasen und Hühner
In diesem Bilderbuch für Kinder ab 5 bringt nicht der Osterhase die Eier – hier geht biologisch alles mit rechten Dingen zu. Auf dem Vorsatzpapier zeigen feine Schwarz-Weiß-Zeichnungen den Unterschied zwischen Feldhase und Wildkaninchen und geben Einblick in natürliche Verhaltensweisen der Langohren und der Hühner. Weiter geht es mit farbigen, sehr natürlich wirkenden, unkitschigen Zeichnungen zum Leben von Hasen, Kaninchen und Hühnern. Wir erfahren, wie und warum Kaninchen in der Großstadt leben, wie es auf einer Hühnerfarm und in einer Legebatterie aussieht und wie sich Henne und Küken verhalten. Auch das Geheimnis wird gelüftet, welche Hühner braune und welche weiße Eier legen. Besonders gut gefallen hat mir die farbig illustrierte Doppelseite mit Eiertypen verschiedener Vögel, z. B. das spitze, grüne Ei der Trottellumme. Eine ganze Bildseite steht jeweils einer Textseite gegenüber, so dass mit dem Bilderbuch bereits Kindergartenkinder und auch noch Erstklässler unterhalten werden können.

Bewertung vom 04.01.2017
Mondhitze
Belli, Gioconda

Mondhitze


gut

Altertümlich
Der Möbelschreiner Ernesto, ein einfacher, ungewöhnlich gebildeter Mann aus Nicaragua, fand am erotischsten an einer Frau schon immer die Füße. Als Ernesto Opfer eines Verkehrsunfalls wird, sind es ausgerechnet die Füße der Unfallverursacherin Emma, die seine Aufmerksamkeit erregen. Die Begegnung mit Ernesto wird Emmas bisher berechenbares Leben völlig aus dem Gleichgewicht bringen. Emma ist knapp 50 Jahre alt, hat stets großen Wert auf ihr gutes Aussehen gelegt und wird sich gerade der ersten Anzeichen der Wechseljahre bewusst. Vielleicht war sie im Straßenverkehr unaufmerksam, weil sie in Gedanken mit ihrer ausbleibenden Menstruation beschäftigt war. Emma und ihr Mann übernehmen Ernestos Krankenhaus-Kosten, sie besucht den Verletzten im Krankenhaus und kümmert sich nach seiner Entlassung weiter um ihn. Ernesto ist auf die finanzielle Unterstützung angewiesen. Solange er noch nicht wieder als Schreiner arbeiten kann, hat er keine Einkünfte. Die Begegnung mit Ernesto und seinen Lebensumständen holt Emma schlagartig aus ihrem Puppenheim bürgerlicher Verhältnisse. Emma hat einst ein Medizinstudium begonnen und abgebrochen, als sie den Arzt Fernando heiratete und Mutter von zwei Kindern wurde. Emma ist so erzogen, dass das wichtigste Ziel im Leben einer Frau die Heirat und damit die finanzielle Versorgung zu sein hat. Auch wenn ihre berufstätige Tochter Elena längst ein anderes Leben lebt, hat Emma die Ehe als Lebenszweck bisher nicht infrage gestellt. Über ihr Leben scheint sie überhaupt kaum nachgedacht zu haben. Die nahenden Wechseljahre werden reduziert auf Emmas Furcht vor dem Nachlassen ihrer äußeren Schönheit und sexuellen Attraktivität. So verwundert es nicht, dass sie stark unter dem „empty nest“ leidet, als ihre Kinder das Haus verlassen. Indem sie Elena unter Druck setzt, bald einen standesgemäßen Ehemann ins Haus zu bringen, projiziert sie ihr eigenes Leben auf ihre Tochter. Emmas mangelnde Reflektion und zu spät stattfindende Lebensbilanz hat mich schlicht gelangweilt. Über was - außer Äußerlichkeiten – könnte man sich mit einer Person wie ihr unterhalten?

Bellis Botschaft lautet, dass das Klimakterium nicht das Ende des Lebens und der Liebe bedeuten muss. Auch nachdem sie nicht mehr schwanger werden kann, liegt das Leben einer Frau noch vor ihr. Die medizinischen Details zum Klimakterium werden von Emmas Mann und ihrer Gynäkologin unangenehm belehrend vorgetragen, selbst beim Lesen habe ich mich als Beobachterin von den beiden bevormundet gefühlt. Die geschilderten Einstellungen (die Ärztin greift gleich zum Rezeptblock, um ein Hormonpräparat zu verordnen) hätte ich den 80ern zugeordnet, nicht jedoch unserem Jahrhundert. Die Revolution in Nicaragua Ende der 70er erlebte Emma als Jugendliche, demnach ist sie Mitte der 60er geboren und die Handlung spielt wohl doch in der Gegenwart. - Andere Länder, andere Sitten. Die 1948 geborene Giaconda Belli projiziert nach meinem Eindruck auf uns Europäer altertümlich wirkende Einstellungen ihrer eigenen Generation auf ihre Protagonistin, die jedoch 20 Jahre später geboren ist als die Autorin. Für die Dramaturgie der Geschichte benötigte Belli offenbar eine zunächst eindimensionale Figur, die sich zum Ende der Story noch zu einer weniger oberflächlichen Person wandeln kann. Um einmal Einblick in den Alltag verschiedener Milieus in Nicaragua zu erhalten, kann man das Buch zwar lesen; mich hat Emma über eine weite Strecke gelangweilt.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 04.01.2017
Jeder Tag ist Muttertag
Mantel, Hilary

Jeder Tag ist Muttertag


sehr gut

Vor langer Zeit hat Evelyn Axon einmal als Medium gearbeitet und Kontakt zu Verstorbenen aufgenommen. Seitdem scheint im Haus die Zeit stillzustehen. Evelyn und ihr inzwischen verstorbener Mann waren stets für sich geblieben. Das war vermutlich auch besser so; denn Evelyn hatte ihren eigenen Kopf und sah nicht ein, ihre Wäsche so auf die Leine zu hängen, wie ihre Nachbarinnen es für richtig hielten. Wir befinden uns im Jahr 1973, als britische Milchmänner die Milch noch in Flaschen vor die Tür stellten und man eine Telefonzelle suchen musste, um von unterwegs jemanden anzurufen. Evelyn lebt mit ihrer vermutlich geistig behinderten Tochter Muriel zusammen. Muriel ist in der Schule zweimal sitzen geblieben und anschließend in der Sozialbürokratie verloren gegangen. Was genau ihre Behinderung ausmacht, bleibt ungeklärt. Muriel könnte ebenso gut völlig normal sein. Vielleicht ist sogar Evelyn das Problem; denn sie hört Stimmen und wird von frechen Wesen in ihrem eigenen Haus bestohlen, geschubst und schikaniert. Das Haus verfällt langsam. Evelyn kann keine Glühbirne auswechseln, wüsste vermutlich noch nicht einmal, wo man so etwas heute kauft. Sozialamt und Jugendamt versuchen, Evelyn dazu zu bringen, Muriel in eine Tagesstätte für Behinderte zu schicken. Schließlich kann Evelyn nicht ewig allein für Muriel sorgen. Doch Evelyn verhält sich den Sozialarbeitern gegenüber feindselig. Wer die Briefe an Evelyn und die Aktennotizen über Mutter und Tochter Axon liest, den wundert das nicht. "Bitte zögern Sie nicht, uns zu kontaktieren," schreiben sie immer wieder. Die Ämter scheinen um ihrer selbst willen zu existieren und nicht zum Wohl der Klienten. In dieser ohnehin beklemmenden Situation gibt es Anzeichen, dass Muriel schwanger sein könnte. Mutter und Tochter sind nicht in der Lage, Hilfe von außen anzunehmen, so dass man für die Schwangere und ihr Baby nun das Schlimmste befürchten muss.

In ihrem ersten (1985 erschienen) Roman erzeugt Hilary Mantel eine beklemmende Situation mit grotesk bis boshaft gezeichneten Figuren. Außer Mutter und Tochter Axon treten die Nachbarin Florence auf, deren Bruder samt Familie und Geliebter und mehrere Sozialarbeiter. Die raffinierte Verknüpfung der Figuren miteinander war für mich erst allmählich durchschaubar. So kompliziert hätte die Konstellation für meinen Geschmack nicht sein müssen. Der dargestellte Konflikt ist - erschreckend - zeitlos, wenn Menschen ohne Hilfe von außen nicht mehr zurechtkommen, diese Hilfe aber vehement und mit allen Tricks ablehnen. Gerade das Wissen, dass die Autorin selbst als Sozialarbeiterin tätig war, ließ mir hier entsetzt die Haare zu Berge stehen. Die Vorgänge im Haus Axon sind unbestreitbar gruselig; sicherlich könnte man sich darüber auch empören. Das Buch hat in seiner Trostlosigkeit bei mir ähnliche Gefühle ausgelöst wie McEwans Zementgarten oder O'Donnells Bienensterben. Wer die genannten Bücher schrecklich fand, wird mit Mantels Erstling vermutlich nicht glücklich. Wer jedoch ihre listige Art der Personenbeschreibung schätzt, liegt hier richtig.

Bewertung vom 04.01.2017
Der Afrikaner
Le Clézio, J. M. G.

Der Afrikaner


ausgezeichnet

Für J.M.G le Clézio und seinen älteren Bruder wurde ihr abwesender Vater irgendwann zum Afrikaner. Wenn einem stets erzählt wird, der Vater arbeite in Nigeria als Arzt und könne wegen des Krieges nicht nach Frankreich zu Besuch kommen, kann man als Kind durchaus Zweifel an den Aussagen der Erwachsenen entwickeln. Le Clézios Vater stammte von der Insel Mauritius (das 1810-1968 zum britischen Weltreich zählte) und studierte in England Medizin. Aus einer momentanen Verärgerung über die britische Upper Class heraus meldet le Clézio senior sich spontan als Arzt für den Kolonialdienst in Guayana, später arbeitet er in Kamerun und Nigeria und verbringt sein gesamtes Berufsleben im Ausland. Seine Frau, die seine Cousine ist, lernt er in Kamerun kennen. Er wird nur zu seiner Hochzeit und zur Geburt seiner Kinder nach Frankreich kommen. 1948, als le Clézio 8 Jahre alt ist, reist die Mutter mit den Söhnen zu einem Besuch nach Nigeria. An diese Zeit pflegt der französische Autor eine in strahlendes Licht getauchte Erinnerung, was jedoch nicht für die übrige Biografie seiner Eltern gilt.

Im Rückblick empfindet le Clézio die Ankunft in Afrika als seinen ersten Schritt ins Erwachsenenleben. Der Sohn erlebt seinen Vater schon bei diesem Besuch als verbrauchten und verbitterten Mann, der lebenslang Enttäuschungen eingesteckt und darüber geschwiegen hat. Vater le Clézio war als einziger Arzt für Tausende von Menschen zuständig, hat lebenslang gegen Amöbenruhr, Bilharziose und Pocken gekämpft und muss im Alter erleben, dass der Staat Nigeria ihn um seine Pension betrügen will.

Im Rückblick des erwachsenen Autors überlagern sich die Erzählungen der Erwachsenen aus der Zeit vor dem Besuch mit seinen eigenen Bildern von Afrika. Heute kann er in bewundernswert versöhnlicher Art die Ereignisse seiner Kindheit aus der Perspektive seiner Eltern sehen. Für die Kinder unverständlich, folgt ihr Vater einer eisernen militärischen Disziplin, die ihm in Afrika Halt gibt und die er nun gegenüber den Söhnen durchsetzen will. Doch wenn der Vater sich auf den Weg zum Krankenhaus gemacht hat, werfen die Jungen die vom Vater vorgeschriebenen Wollstrümpfe und Schuhe weg, um gemeinsam mit den afrikanischen Kindern durch das Gras der Savanne zu rennen. Aus der Beengtheit einer winzigen Wohnung im sechsten Stock befreit und bisher nur von der Mutter und der sehr nachsichtigen Großmutter erzogen, löst das barfüßige Losrennen bei den Jungen ein überwältigendes Gefühl der Freiheit aus. Wenn man sich der Gefahren durch Krankheiten und giftige Tiere bewusst wird, deren Folgen der Vater als Arzt täglich zu behandeln hat, stellt sich das Beharren auf feste Schuhe natürlich ganz anders dar.

Wenn le Clézio nicht den Nobelpreis für Literatur erhalten hätte, wäre ich vermutlich nie auf seine Bücher aufmerksam geworden - und das wäre ein Verlust gewesen. Auf knappen 124 Seiten schreibt le Clézio aus der Distanz des Erwachsenen eine Biografie seines bemerkenswerten Vaters und analysiert zugleich sein eigenes Verhältnis zu Afrika. Bewundernswert finde ich an diesem Buch das Maß an Selbstreflektion, mit der der Autor seine Erinnerungen infrage zu stellen bereit ist; denn Erinnerungen können täuschen und mit den Augen eines Kindes sieht die Welt völlig anders aus.

Bewertung vom 04.01.2017
Wolfsstadt
Ohm, Bernd

Wolfsstadt


sehr gut

München 1948
Fritz Lehmann ist der Sohn eines pommerschen Landarbeiters, für den ursprünglich vorgesehen war, auch in der Landwirtschaft zu arbeiten. Doch der Zweite Weltkrieg hat Lehmann zuerst zur Orpo, der nationalsozialistischen Organisationspolizei der deutschen Besatzer in Osteuropa verschlagen und nach seiner Gefangennahme durch die Amerikaner in Kriegsgefangenenlager mehrerer Länder. Lehmann ist um die 30, jetzt im Jahr 1948 perfekt umerzogen, "entnazifiziert" und er hat Erfahrungen als Verbindungsoffizier der amerikanischen Besatzer. Emsig lernt er für seine Laufbahnprüfung, um auf die nächste freie Stelle bei der Münchener Kripo übernommen zu werden. Gestört wird die Lernerei allein dadurch, dass Lebensmittel noch immer auf Marken verkauft werden, und Lehmann oft vor Hunger zusammenklappen würde - wenn er nicht einen schwunghaften Schwarzhandel mit beschlagnahmten Gegenständen aus der Asservatenkammer treiben würde. Geradezu klassisch für die Zeit, dass Lehmann ein Zimmer bei einer Vermieterin bewohnt, die in 7 ihrer 8 Zimmer Wohnungssuchende aufnehmen musste, die ihr das Wohnungsamt zuteilte. München ist kurz nach der Währungsreform ein Sammelbecken für Displaced Persons aus aller Herren Länder, die in Lagern auf ihre Auswanderung warten. Lehmann bewegt sich in diesem Milieu wir ein Fisch im Wasser, wechselt problemlos zwischen seinem pommerschen Heimatdialekt, Bairisch, Österreichisch oder Englisch.

Als eine Frauenleiche ohne Kopf und auch sonst unvollständig gefunden wird, scheint Lehmann der ideale Ermittler zu sein, weil er sich unter amerikanischen Armeeangehörigen bewegt, als wäre er einer von ihnen. Unter den verschiedenen Nationalitäten, ehemaligen Nazis, Frauen, die sich in der Not prostituieren, und jeder Menge Schlitzohren scheint die Suche nach einem Täter bisher die berühmte Nadel im Heuhaufen zu sein. Lehmann unterschätzt bisher nur, dass ihn nicht nur seine Alpträume, sondern auch seine Zeit bei der OrPo im Osten hier in München schneller einholen werden, als er sich vorstellen kann. Lehmann hat weder damit gerechnet, welch ausgezeichnete Ortskenntnisse amerikanische Offiziere haben können, die aus Deutschland vor den Nationalsozialisten emigrierten, noch über welch exakte Berichte sie verfügen, über Ereignisse, bei denen es angeblich keine Überlebenden gab.

Lehmanns persönliches Schicksal nimmt innerhalb der Rahmenhandlung des Kriminalfalls erheblichen Raum ein, so dass man sich fragen kann, ob Wolfsstadt nicht eher ein Roman über das Jahr 1948 in der amerikanisch besetzten Zone ist als ein historischer Krimi. Lehmann repräsentiert in seiner Wendigkeit genau die tatkräftigen Leute, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg nicht lange mit Luftschlössern aufhielten, sondern anpackten und taten, was getan werden musste. Für einen so plietschen Kerl fand ich es wenig überzeugend, dass Lehmann ganz bewusst wiederholt für sich selbst zwischen den Mundarten übersetzte. Glaubwürdiger hätte ich gefunden, wenn er unbewusst einfach nur gewechselt hätte und den bayrischen Kollegen mit seiner preußischen Schlagfertigkeit den Nerv getötet hätte. An anderer Stelle winkt Bernd Ohm bei einer persönlichen Eigenschaft seines Protagonisten so oft mit dem Zaunpfahl, dass ich mich fragte: hat er es jetzt endlich, es war doch schon beim ersten Hinweis klar, wohin die Sache steuert.

Fazit
Wolfssstadt ist ein atmosphärisch großartiger Roman über das München der Nachkriegszeit, der konkrete Gräueltaten der Nationalsozialisten geschickt mit einem realen Sachverhalt in der Stadt und in dieser Zeit verknüpft. Eine Kürzung hätte der Glaubwürdigkeit der Hauptfigur und der Spannungskurve gutgetan.

Bewertung vom 04.01.2017
Dschihad Calling
Linker, Christian

Dschihad Calling


sehr gut

Der 18-jährige Jakob befindet sich in Haft und sieht mit großer Unruhe seiner Entlassung entgegen. Er hat das Tagebuch seines Freundes und "Bruders" Adil zugeschickt bekommen, der in den Krieg des Islamischen Staates nach Syrien gezogen ist. Die Wege der beiden müssen sich irgendwann getrennt haben. Aus der Rahmenhandlung geht es auf zwei Zeitebenen in die Vergangenheit; Jakob berichtet die Ereignisse eines halben Jahres, wie er selbst mit radikalen Islamisten in Kontakt geriet und Adil schreibt direkt aus dem Krieg. Das Lesen der Tagebucheintragungen geht durch die abweichende Schrifttype nur langsam voran, in der Wirkung handschriftlichen Aufzeichnungen sehr ähnlich. Erst aus dem Tagebuch erfährt Jakob, was Adil in Syrien widerfahren ist. Jakob war Student im ersten Semester, wohnte in einer WG, als er Zeuge eines Übergriffs wurde auf eine junge Frau im Hijab, dem Schleier muslimischer Frauen. Durch Samira lernt er Adil kennen, der sich darauf vorbereitet, in den Krieg des IS zu ziehen, möglichst unbemerkt vom deutschen Verfassungsschutz. Die Geschwister sind deutsche Konvertiten zum Islam, gebildete, in Social Media versierte Salafisten. Jakob war nie gläubig und hatte sich zuvor nie mit dem Islam beschäftigt. Lange gibt er vor, sich nur aus Neugier mit Samiras und Adils Gruppe zu befassen. Während Jakob offiziell noch über seine veränderten Lebensumstände frei von irdischen Gütern herumalbert, ist seinen Freunden längst klar, dass er sich radikalisiert hat. Wer wessen Facebook-Freunde sind und welche Videos geliked werden, lässt sich kaum verbergen. Im Gegenteil, das Posen in Sozialen Medien ist fester Bestandteil der Szene. Noch immer will Jakob nicht begreifen, dass der radikale Islam eine Einbahnstraße ist und eine Rückkehr in sein altes Leben unwahrscheinlich sein wird. Eine letzte Chance zur Umkehr lässt Jakob verstreichen, als Golski, Chef für seinen Studentenjob, ihn auf seine Konvertierung anspricht. Was Radikalisierung für den Einzelnen bedeutet, ist mir durch Jakobs Wandel in Yakub erst in aller Konsequenz klargeworden.

Jakob ist als 18-Jähriger der jüngste der handelnden Figuren, die meisten anderen Personen sind älter als er. Beide jungen Männer haben vorher schon Frauen geliebt und ein Leben geführt, das in krassem Widerspruch zu ihren jetzigen Werten steht. Vom Alter der Figuren, dem Umfang des Buches und der anspruchsvollen Sprache eines Abiturienten wirkt Christian Linkers Roman eines jungen Salafisten eher wie ein Young-Adult-Roman. Als Jugendbuch ab 14 vermarktet wird das Buch vermutlich mit dem Ziel, es als Problembuch im Unterricht zu nutzen. Unterrichtsmaterialien stehen auf der Verlagswebseite zur Verfügung. Ohne Worterläuterungen und Tipps zu weiterführenden Informationen ist der Roman für diese Altersgruppe starker Tobak, aber es ist ein Thema, über das gerade Jungen lesen wollen und sie werden deshalb diesen Roman lesen.

Bewertung vom 04.01.2017
Amnesie
Carey, Peter

Amnesie


gut

Der politisch links stehende australische Journalist Felix Moore erhält den Auftrag über Gabrielle Baillieux zu schreiben. Die junge Hackerin hat einen PC-Wurm in das Sicherheitssystem australischer Gefängnisse eingeschleust und damit weltweit die Türen für alle Gefangenen geöffnet, in deren Gefängnissen dieses System verwendet wird. Nun fordern die USA Gabys Auslieferung - und dort würde ihr die Todesstrafe drohen. Zur Vorgeschichte von Gabys Aktion muss man wissen, dass in Careys Szenario 1975 die amerikanische CIA die australische Regierung gestürzt hat. Das Trauma dieser Kolonialisierung der Neuzeit wurde fortan zur Obsession in Moores Leben. 1975 ist auch Gabrielles Geburtsjahr. Um die Schulgebühren seiner Töchter zahlen zu können, ist Moore gezwungen, im Auftrag seines alten Kumpels Woody Townes über die Hackerin zu schreiben. Unbedarft für einen Mann seiner Berufserfahrung, denkt Moore nicht weiter über Woodys Motiv nach, die Kaution für Gabrielle zu zahlen und ihre Hacker-Biografie schreiben zu lassen. In Woodys Auftrag wird Moore per Boot in eine unwirtliche Gegend am Hawksbury River gebracht und dort zwischen Mangroven und Eukalyptusbäumen quasi ausgesetzt. Statt einer Toilette gibt es einen Spaten. Moores Arbeitsmittel sind eine alte Olivetti-Schreibmaschine und ein Beutel voll schriftlicher Notizen und alter Kassetten, besprochen von Gabrielle und ihrer Mutter Celine, Moores Jugendfreundin. - Gabys Geschichte wird aus der Gegenwart heraus in Rückblenden und Zeugenaussagen aufgerollt. Bindeglied zu Gabrielles Geschichte ist die damalige Clique von Felix, Celine und Woody. Sie verkörpern die typischen Aufsteiger der Nachkriegsgeneration, für die australische Geschichte nur soweit glaubhaft sein konnte, wie sie den eigenen Vätern passiert war. Besonders Celine hat eine schillernde Biografie aufzuweisen, die manch hässliche Wahrheit aus Australiens Nachkriegsgeschichte enthält. Ihre Tochter Gaby war als Schülerin schon Umweltaktivistin. "Ich musste unbedingt die radikalste und coolste Schülerin sein, die sie je gehabt hatten." (S. 419) Gabys außergewöhnliches Interesse an Computern wurde schon in ihrer Kindheit immer wieder von Erwachsenen gefördert. Doch Zweifel sind angebracht, ob im Künstler- und Revoluzzer-Milieu ihrer Jugend außer Gabys Lehrerin jemandem bewusst war, welch ausgebufftes Talent da heranwuchs. Für militante Umweltaktivisten bedeutete es einen Quantensprung, wenn ihre Aktionen statt schweren Geräts nur noch ein Modem voraussetzten! Vom Umschreiben des PC-Spiels Zork zum Hacken eines Großrechners war es für Gabi und ihren Freund Frederic schon in ihrer Schulzeit nur ein kleiner Schritt - während die Erwachsenen sich sorgten, ob die beiden etwa Sex miteinander hätten. - Careys Roman wird gefeiert als Roman der Epoche nach Wikileaks. Für Leser, die in den 90ern die ersten Computerkids aufwachsen sahen, ist Gabys Biografie sicherlich eine faszinierende Lektüre, um die Erotik des Hackens nachvollziehen zu können. Mich hat in erster Linie interessiert, wer Gaby ist und wie ihre Bezugspersonen auf sie reagieren. Dass man als Leser die Ereignisse bis kurz vor dem fulminanten Schluss nur gefiltert durch Moores Unbedarftheit wahrnehmen kann, fand ich hier sehr anstrengend. Sollte Careys Botschaft etwa sein, dass man sich besser nicht von ehemaligen Lehrern und Journalisten regieren lassen sollte, weil sie zu unbedarft für die Welt nach Assange sind? Meine Begeisterung, dass Buch zu empfehlen, hält sich jedoch in Grenzen, weil ich zu oft höre, dass Leser sich in Romanen erkennbare Grenzen zwischen Erzählerstimmen, Dialogen und Ichaussagen der Beteiligten wünschen. Mit seinem unzuverlässigen Berichterstatter Felix Moore und verschwimmenden Übergängen zwischen den Erzählperspektiven stellt Carey hohe Ansprüche an seine Leser. Ein von der Idee her exzellenter Plot, dessen Verwicklungen größtmögliche Aufmerksamkeit erfordern.

Bewertung vom 04.01.2017
Krähengekrächz
Maron, Monika

Krähengekrächz


sehr gut

Monika Maron wollte ursprünglich im Rahmen der Recherche zu einem Roman Krähen beobachten. Doch so wie man Tiere nicht so schnell wieder los wird, wenn man begonnen hat, sie zu füttern, ließ das Thema sie nicht wieder los. Selbst in der Großstadt lässt sich beobachten, dass Krähen kämpferisch und intelligent sind und Hilfsmittel bei der Futterbeschaffung benutzen. Im Gegensatz zu ihrem Beobachter, für den anfangs eine Krähe wie die andere aussieht, können Rabenvögel sehr wohl Menschen unterscheiden und erkennen. Neben dem seit Generationen überlieferten Aberglauben an die Totenvögel hat Krähen stets die Zuschreibung von Weisheit begleitet. Maron betreibt ihre Krähenstudie aus der persönlichen Situation des Alterns und Wartens auf den Tod. Das eigentliche Rechercheziel gerät in den Hintergrund, als sie sich damit beschäftigt, warum die Literatur Rabenvögel braucht und wie Rabendarstellungen aus Balladen und Gedichten adaptiert werden.

Der eigentliche Text umfasst nur 50 Seiten, wird jedoch von einem informativen Nachwort der Literaturwissenschaftlerin Elke Gilson ergänzt, die einen Materialienband zu Maron herausgegeben hat. Ihr Hinweis zu Marons Auseinandersetzung mit Diktaturen regt an, das Werk Monika Marons neu zu lesen mit Blick auf die Tiersymbolik. Diktatoren mögen nämlich keine Tiere und sie mögen kein enges Verhältnis zwischen Tieren und Untertanen.