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Bories vom Berg
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Bewertungen

Insgesamt 832 Bewertungen
Bewertung vom 22.10.2018
Sültzrather
Oberhollenzer, Josef

Sültzrather


ausgezeichnet

Glücksfall

Nachträglich «Chapeau» für die Jury des diesjährigen Deutschen Buchpreises, die sich getraut hat, das neue Buch «Sültzrather» von Josef Oberhollenzer wenigstens auf ihre Longlist zu wählen. Nun ist ein Platz unter den letzen Zwanzig zwar nicht gerade ein literarischer Ritterschlag, aber sieht man sich die weichgespülten, leicht konsumierbaren und damit unverhohlen auf ein Massenpublikum zielenden aktuellen deutschsprachigen Werke der Belletristik, und also auch die in der erwähnten Auswahlliste, mal näher an, dann ist dieser Roman des weitgehend unbekannten Schriftstellers geradezu revolutionär dagegen. Im mit fünf Büchern in 24 Jahren äußerst bescheidenen Œuvre des Südtirolers, der über «Lebensläufe in der Literatur der siebziger Jahre» promovierte, ist von heiler Bergwelt nichts zu lesen, stattdessen geht es auch im vorliegenden Roman um einen literarischen Lebenslauf und die Frage nach den Erinnerungen, die diesem zugrunde liegen.

Der Zimmermann Vitus Sültzrather, Sohn des Kalberhof-Bauern aus dem Südtiroler Ort Aibeln, stürzt am 18. Mai 1959 vom Baugerüst und ist fortan querschnittsgelähmt. Er beginnt zu schreiben und steigert sich in eine regelrechte Schreibwut hinein, in seinem Zimmer türmen sich die beschriebenen Papierstapel meterhoch, seine Zugehfrau Nothburga T. muss ihm jede Woche ein neues Paket mit 500 Blatt Schreibmaschinenpapier besorgen. Er schreibt detailliert gegen das Vergessen an, wobei der Roman, den wir lesen, nicht etwa seine Autobiografie darstellt, sondern den Schreibprozess schildert einschließlich der umfangreichen Recherchen, dabei akribisch die Gedankengänge von Sültzrather offenlegend. «Alles, was mich umgibt, inspiriert mein Schreiben. Ein Satz, eine Begegnung, alles» hat Josef Oberhollenzer in einem Interview erklärt, und genau so geht es auch seinem Protagonisten, der kommt vom Hundertsten ins Tausendste. In einer längeren Passage sinniert er zum Beispiel in allen Einzelheiten darüber nach, wie sein Leben verlaufen wäre, hätte er den Beruf des Lehrers ergriffen. Irgendwann treibt ihn dann schließlich die Frage um, was von der Erinnerung bliebe ohne seine Aufzeichnungen, und er beginnt unbeirrt mit deren Vernichtung, indem er Stück für Stück den Text vom Papier «abschabt», wie es im Roman heißt.

Es ist ein sperriges Stück Prosa, das da auf geduldige Leser wartet, sprachlich eigenwillig wie kein anderes Buch, das ich je gelesen habe, seine knapp 180 Seiten in gemäßigter Kleinschreibung sind fürwahr anstrengend. Ein Anmerkungsapparat von nicht weniger als 205 in Kleinstschrift gedruckten Fußnoten ist dabei noch nicht einmal das größte Problem, denn etliche davon sind reiner Nonsens, «Isidor Sültzrather, Mein wunderbarer Großonkel, Erinnerungen an den Dichter Vitus Sültzrather, Klausen 2012, S. 224» ist ein amüsantes Beispiel dafür, und häufig wird genau so ironisch auch auf angebliche Tagebücher Sültzrathers als Fundquellen verwiesen, ein herrlicher Seitenhieb auf eine allzu gespreizte wissenschaftliche Literatur. Neben orthografischen und typografischen Eigenwilligkeiten gibt es auch diverse «erfundene» Fakten, abseitige Zitate und skurrile Szenen in diesem narrativen Geflecht. Erfreulich ist die üppige Intertextualität, gleich zu Beginn wird der Schuhfimmel von Thomas Bernhard mit dem von Vitus Sültzrather verglichen, dem heiligen 16. Juni der Joycejünger entspricht der «18. Mai als Tag der entpuppung des dichters Sültzrather», der wie ein Meteor vom Baugerüst gefallen sei. Und überhaupt spielt Abseitiges eine wichtige Rolle, was mich unwillkürlich an Arno Schmidt erinnert hat mit seinen als «ewiges Lämpchen» bezeichneten Fouqué-Studien.

Sültzrather begreift schlussendlich, «nichts als teil jenes namenlosen menschenheeres zu sein, das sich in den untiefen der geschichte verloren habe». Aus der Ödnis der zeitgenössischen deutschsprachigen Belletristik taucht dieser vielschichtige Roman jedenfalls wie eine literarische Oase hervor, ein Glücksfall für anspruchsvolle Leser.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 19.10.2018
Nachtleuchten
Barbetta, María C.

Nachtleuchten


weniger gut

Bombastisch

Die in Buenos Aires geborene deutschsprachige Schriftstellerin María Cecilia Barbetta hat mit «Nachtleuchten» ihren zweiten Roman veröffentlicht, er wurde vom Feuilleton wohlwollend aufgenommen und auf die Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2018 gewählt. Seit ihrem 24ten Lebensjahr in Berlin lebend hat die Autorin quasi einen argentinischen Roman geschrieben, Ort der Handlung ist das Stadtviertel Ballester in Buenos Aires, wo sie aufgewachsen ist. Ihre Heimat in der Zeit vor dem Putsch von 1976 bildet nämlich nicht nur das Thema für dieses breit angelegte Epos der kleinen Leute, sie hinterlässt mit vielen - leider meist unübersetzten - spanischen Zitaten auch sprachlich deutliche Spuren im Text.

Der kryptische Titel des Buches bezieht sich auf eine mit Leuchtfarbe angemalte Marienfigur aus Plastik, eine verkleinerte, fluoreszierende Replik der argentinischen Nationalheiligen, die eine sendungsbewusste Schülerin verschiedenen Haushalten als Leihgabe für jeweils eine Woche aufschwatzt, damit sie dort ihre wundersamen Kräfte entfalte. Diese potentielle Integrationsfigur der auseinander strebenden politischen Kräfte des Landes wirkt erzählerisch überzeugend als Leitmotiv. In drei Teile mit jeweils 33 Kapiteln gegliedert, - Jesus wurde 33 Jahre alt, Evita Perón ebenfalls (sic!) -, endet der Roman mit einem die Zeit negierenden Epilog unter dem Titel «Die vierte Dimension». Darin zerschellt diese Figur, wobei im Sturz die gesamte Erzählung in einem einzigen fünfseitigen Satz chorartig noch mal komplett rekapituliert wird.

In dem dreiteiligen Panorama der Gesellschaft Argentiniens mit ihren unterschiedlichen Milieus wird zunächst von den Kameradinnen einer streng katholischen Mädchenschule erzählt, die eine ebenso fromme wie strenge Erziehung genießen und eine religiös geprägte Revolution unter dem Motto «Transformation zum Guten» anstoßen wollen. In der Kfz-Werkstatt «Autopia», beim schwulen Friseur «Ewige Schönheit» oder in der Chemischen Reinigung «Clean Eastwood» erleben wir eine Schar von Laienphilosophen, die allesamt - vor dem politischen Hintergrund des aus dem Exil zurückgekehrten Präsidenten Perón und dem späteren Putsch gegen seine Witwe Isabel - über Gott und die Welt schwadronieren, was amüsant zu lesen ist als unterhaltende, aber kaum ernst zu nehmende Alltagsphilosophie. Es schließt sich zeitlich die Militärdiktatur an mit ihren Todesschwadronen, wobei der unheilschwangere politische Hintergrund hier allenfalls als Kulisse für das Leben der kleinen Leute dient, die Schrecken dieser Zeit werden, meist in Form eingeblendeter Zeitungsmeldungen, nur sehr dezent angedeutet, der Horror bleibt weitgehend ausgespart.

Mit ausufernder Fabulierlust erzählt die Autorin überaus blumig, auf verschlungenen Pfaden und in zahllosen Einzelszenen, aus dem Leben ihrer ebenfalls zahllosen, zumeist über Dialoge erschlossenen, durchweg sympathischen Figuren. Deren schiere Vielzahl aber bleibt nur mit Hilfe eines akribisch geführten Spickzettels wenigstens einigermaßen überschaubar. Geradezu artistisch jongliert Señora Barbetta besonders im spiritistisch geprägten dritten Teil ihrer Geschichte mit handlungsfernen Exkursen sowie diversen sprachlichen, typografischen und kabbalistischen Formen. Und so manche Verzweigung im Plot endet auch ganz unvermutet in einer Sackgasse. Die Vespa fahrende, schöne Nonne zum Beispiel, die anfangs wohl des Lesers Neugier erregen soll, endet sang- und klanglos in einer Blutlache, warum bleibt offen. Spielerisch benutzte Anagramme, lautmalerische Begriffe, aber auch eine Überfülle an nicht immer ernst zu nehmenden Reflektionen garnieren die Geschichte, anbiedernd ergänzt um eine Unzahl typisch deutscher Redensarten. Eher ärgerlich sind Pleonasmen und andere sprachliche Mätzchen in diesem bombastisch aufgemotzten, letztendlich aber langweiligen Roman, in dem die reichlich vorhandenen, intellektuellen Fähigkeiten seiner Autorin ziemlich eitel im Vordergrund stehen.

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 10.10.2018
Eine dieser Nächte
Viragh, Christina

Eine dieser Nächte


weniger gut

Diarrhöartige Suada

Von der Schriftstellerin und Übersetzerin Christina Viragh ist nach zwölf Jahren Pause wieder ein Roman erschienen, dessen Titel «Eine dieser Nächte» bereits andeutet, dass sein Plot eine eng begrenzte Zeitspanne umfasst, die hier zwölf Stunden dauert. Dieser neue Roman der in Rom lebenden Schweizerin mit ungarischen Wurzeln ist innerhalb ihres - mit sechs Romanen in fünfundzwanzig Jahren - überschaubaren Œuvres nicht nur seines üppigen Umfangs wegen ihr Opus Magnum, sie hat scheinbar auch alles hineingepackt, was ihr erzählerisch zur Verfügung stand, hat also ihren jahrelang angesammelten Zettelkasten, so stelle ich mir das bildlich vor, komplett abgearbeitet. Mit der Nominierung für die Longlist des Deutschen Buchpreises 2018, - der übrigens vorgestern mit «Archipel» an ein ebenso ambitioniertes, nämlich chronologisch rückwärts erzähltes Werk ging -, hat die Jury jedenfalls viel Mut bewiesen, denn beide Romane sind wenig massentauglich und spalten die Leserschaft, wie die wenigen Rezensionen bisher zeigen, recht deutlich.

Sprachlich zieht die Autorin alle Register, variiert gekonnt die interschiedlichen Stimmen ihres Figurenensembles und negiert thematisch jedwede Plausibilität in postmoderner Tradition. Natürlich fordert ein solch komplexer Stoff zu eigenen Interpretationen heraus, er macht damit das Lesen in Anbetracht der Fülle von unmotivierten Verästelungen und Erzählfragmenten, so ging es mir jedenfalls, zu einer Sisyphosarbeit auf der Suche nach Zusammenhängen. Die Suada des Protagonisten findet ihre Entsprechung im Plot dieses ebenso langweiligen wie nichtssagenden Romans, bei dem auch das Lesen selbst zu einem unerquicklichen Langstreckenflug wird.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 05.10.2018
Heimkehr nach Fukushima
Muschg, Adolf

Heimkehr nach Fukushima


gut

Glücksinsel

Unwillkürlich ist man irritiert, wenn der Name Fukushima statt in einem Sachbuch im Titel eines Romans erscheint. «Heimkehr nach Fukushima» des Schriftstellers Adolf Muschg ist definitiv Belletristik, jüngst erst erschienen, an seinen Erstling «Im Sommer des Hasen» erinnernd, dem Reich-Ranicki unter dem Titel «Gruppe 47 im Kimono» einst eine kritische Rezension gewidmet hat. Schon vor 52 Jahren also ist Japan der Schauplatz eines Romans von ihm gewesen, wen wundert’s, ist der Schweizer doch mit einer Japanerin verheiratet. Nun also widmet er sich thematisch dem starken Erdbeben vom 11. März 2011, dem dadurch ausgelösten Tsunami und dem anschließenden Super-GAU in diesem japanischen Atomkraftwerk.

Der 62jährige Architekt und Schriftsteller Paul Neuhaus erhält von dem ehemaligen Stipendiaten Ken Temna und dessen Frau Mitsuko die Einladung zu einem Besuch in Fukushima, er soll nahe dem Unglücksmeiler eine Künstlerkolonie ins Leben rufen. Der dortige Bürgermeister erhofft sich davon eine mentale Unterstützung für die von der Regierung gewünschte Rückbesiedlung der kontaminierten Gebiete. Ken kann ihn wegen eines wichtigen Termins nicht auf seiner Reise in die verstrahlten Gebiete begleiten, und so reist er mit dessen Frau als Übersetzerin dorthin. Während ihrer mehrtägigen Besichtigungstour mit permanent bedrohlich tickendem Geigerzähler kommt es plötzlich und unvermittelt zu wildem Sex der Beiden, - die sich gleichwohl weiter siezen, eine Referenz an die japanische Schamhaftigkeit. Am Tage vor ihrer Rückreise taucht unerwartet plötzlich Ken auf, der gesundheitlich schwer angeschlagen ist. Ohne Abschied trennen sich am nächsten Tag die Wege von Paul und Mitsu, wie er sie nach dem phonetisch gleichlautenden Roman von Colette nennt. Er aber verbringt vor seinem Rückflug noch einen Erholungsurlaub in einem ruhigen Hotel in Hankone mit Blick auf den Fuji, er will an seinem Buch weiterschreiben. Der sehnlichst erwartete Anruf von Mitsu bleibt aus, doch kurz vor seinem Abflug erscheint sie doch noch im Frühstücksraum des Flughafenhotels. Als Abschiedsgeschenk hat sie die beiden frisch gereinigten Strahlenschutzanzüge bei sich, die sie sich gegenseitig vom Leibe gerissen hatten beim ersten Sex. Sie begleitet ihn noch zum Check-in, dort trennen sie sich dann mit einem rätselhaft wortkargen Abschied, der fast alles offen lässt.

Für das Gegenüber der westlichen und östlichen Kultur, für die tödliche Reaktorkatastrophe und ihre verheerenden Folgen sowie für die wenig emotionale Liebesgeschichte hat Muschg als literarischen Begleiter Adalbert Stifter auserkoren, dessen « Nachkommenschaften» Paul im Handgepäck hat. Daraus streut der Autor dann sehr häufig mehr oder weniger passende Zitate in seinen Text ein. «Adalbert der Langeweiler» hatte Susanne, Pauls auf Trennungskurs befindliche Lebensgefährtin, den ständigen Begleiter genannt, eine wie ich finde zutreffende Beschreibung dessen, was auch so manchen Leser befremden dürfte, zu abseitig sind doch diese altbackenen, biedermeierlichen Ergüsse. Informativ aber sind die Passagen, in denen detailliert die mit scharfem Blick aufgedeckte, hoffnungslose Situation der dauerhaften Unbewohnbarkeit beschrieben wird, ohne ins Fatalistische abzugleiten, während der unsichtbar lauernde Tod von den Japanern mit ihrer rigiden Schamkultur geradezu stoisch ignoriert wird.

Mit klugen Reflexionen über den Menschen und seinen unvernünftigen Umgang mit der Technik wird hier eine Katastrophe thematisiert, wie sie die Menschheit in ihrer unerbittlichen Zeitdimension noch nicht erlebt hat, die sie letztendlich auch weit überdauern wird mit in Jahrtausende berechneten, radioaktiven Zerfallszeiten. Auch wenn nicht alles schlüssig ist in diesem hoch ambitionierten Roman, so ist er doch bereichernd und vor allem so gut erzählt, dass sich die Lektüre lohnt, auch wenn man sich dabei literarisch nicht unbedingt auf einer Glücksinsel befindet, - das nämlich bedeutet «Fukushima» auf Japanisch.

Bewertung vom 27.09.2018
Ein schönes Paar
Loschütz, Gert

Ein schönes Paar


ausgezeichnet

Exakta Varex

Nach zwölf Jahren ist nun wieder ein Roman von Gert Loschütz erschienen, dessen schon fast kitschig scheinender Titel «Ein schönes Paar» an Harmonie denken lässt, was durch das sepiafarbene Papier, auf dem er gedruckt ist, noch unterstrichen wird, - ein klassischer Liebesroman also? Mitnichten, denn er erzählt genau vom Gegenteil, von tragischer Trennung und jahrzehntelanger Wortlosigkeit bis in den Tod. Wobei es die Teilung Deutschlands ist, die die Liebenden stolpern lässt und das Paar auseinanderreißt in einer an Effi Briest erinnernden, ursachegleichen Tragik.

Ich-Erzähler dieses Eheromans ist Philipp, von seiner schönen Mutter nur Fips genannt, ein Fotograf, der sich an das Liebesglück seiner Eltern erinnert. Der Vater war leitender Angestellter in einem großen Industriebetrieb der DDR und hatte sich bei einem damals, vor dem Mauerbau, noch möglichen Westbesuch bei der Bundeswehr beworben. Ein von dort unbedacht an seine Heimatadresse geschickter Brief wurde ihm zum Verhängnis, er musste Hals über Kopf fliehen, seine Frau und Fips folgten wenig später. Um das Ersparte zu retten wurde noch schnell eine sündhaft teure Spiegelreflexkamera gekauft, die als Startkapital im Westen wieder zu Geld gemacht werden sollte. Ein tragischer Irrtum, denn einen annehmbaren Preis konnte der Vater im westlichen Konsumparadies für die Exakta Varex nicht erzielen. Um seine vergeblichen Verkaufsbemühungen vor seiner Frau zu verschleiern beging er einen folgenschweren Fehler und landete im Gefängnis. Die selbstlose Liebe seiner Frau brachte ihm zwar die Freiheit wieder, bewirkte aber auf fatale Weise die unversöhnliche, lebenslange Trennung des Paares. In Rückblenden erzählt Fips das Geschehen aus seiner Sicht, wobei ihm eine tragische Rolle zufällt. Denn er hat ungestüm handelnd verursacht, dass ein aus Liebe begangenes Fehlverhalten seiner Mutter bekannt wurde und zum Zerwürfnis der Eheleute führen musste, was ihn dann auch selbst lebenslang belastet hat.

Gert Loschütz schreibt hier im Stil des Nouveau Roman, es gibt keine psychologisch sezierten Protagonisten, auch keine stringente Handlung, sondern immer wieder erzählerisch irritierende Sackgassen und Leerstellen in einer Geschichte voller Geheimnisse. Damit lässt er seinen Lesern denn auch reichlich Raum für eigene Interpretationen und zuweilen erforderliche, gedankliche Ergänzungen. Den ominösen Fotoapparat benutzt er sehr raffiniert nicht nur als narrative Klammer, sondern auch als äußere Ursache einer tragischen Verkettung von allenfalls leichtsinnig begangenen Fehlern. Geradezu detektivisch bröselt Fips mit seiner Spurensuche nach dem Tod beider Eltern ihre Geschichte auf, spürt den Umständen ihrer unwiderruflichen Trennung bis zum Tode nach. Und erkennt am Ende, das seine Eltern auf eine von ihnen selbst niemals eingestandene Weise doch untrennbar miteinander verbunden waren. Die Mutter ist heimlich auf dem Friedhof dabei, als der Vater begraben wird, das Pflegeheim der Mutter wurde vom Vater ebenso heimlich mitbezahlt. Und aus der Ferne, über den Fluss hinweg, der sie trennte, hatten die Beiden bis zu ihrem Ende zumindest Sichtkontakt, er konnte aus einer Dachluke ihr Fenster im Pflegeheim sehen, Zigarettenspuren deuten darauf hin, und sie hatte immer den Blick auf das Dach seines Hauses.

Dieser spannende Roman erzählt in poetischen Bildern die Geschichte einer Liebe in ihrer politisch und gesellschaftlich bedingten Dimension. Das selbstverschuldete Scheitern, das spurlose Verschwinden der Mutter, die Sprachlosigkeit über Jahrzehnte hinweg, all das wird geradezu unerbittlich thematisiert, wobei der Autor gekonnt auch dem Insignifikanten breiten Raum gibt in seiner betroffen machenden Geschichte. Erzählt ist all das fragmentarisch in einer wohlgesetzten, klaren Sprache mit nicht immer leicht nachvollziehbaren Zeitsprüngen. Die überraschende Detailfülle bildet in Summe neben der im Zentrum stehenden, menschlichen Tragik auch ein stimmiges Zeitzeugnis.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 23.09.2018
Das Feld
Seethaler, Robert

Das Feld


ausgezeichnet

Seelisch bereichernd

Nach zwei ebenfalls erfolgreichen Vorgängern ist dem österreichischen Schriftstellers Robert Seethaler mit dem aktuellen Roman «Das Feld» erneut ein Bestseller gelungen. In Abkehr von seinen bisherigen Themen hat er sich narrativ dabei dem Tod gewidmet, und zwar aus einer ungewöhnlichen Perspektive, es sind die Toten selbst, die da post mortem erzählen. Als Kosmos dient ihm eine fiktive Kleinstadt, und sein Romantitel weist als erzählerischen Quell den Ort aus, auf dem ein alter Mann Stimmen hört, den Friedhof von Paulstadt, dort nur «Das Feld» genannt. Kein gefälliger Erzählstoff also, ein Tabuthema auch noch, und trotzdem ein Bestseller?

Im ersten Kapitel «Die Stimmen» sinniert der alte Mann, auf seiner vermoderten Holzbank sitzend, inmitten des Gräberfeldes über die Toten, die rings um ihn herum ihre letzte Ruhestätte gefunden haben. «Er malte sich aus, wie es wäre, wenn jede der Stimmen noch einmal Gelegenheit bekäme, gehört zu werden.» Es sind 29 Gestorbene, die da als Ich-Erzähler in ebenso vielen, unterschiedlich großen Kapiteln zu Wort kommen und von ihrem Leben und Sterben erzählen, wobei sich ihre Wege immer wieder kreuzen in einem lockeren Erzählgeflecht. Die Liebe ist natürlich ein Thema, von gescheiterten Beziehungen bis zum Händchenhalten noch im Tod, vom Sex mit einem dicken Geliebten bis zur Frau mit 67 Männern, von denen sie nur einen geliebt hat. Ein verwirrter Pfarrer zündet seine Kirche an, ein arabischer Gemüsehändler bringt die Asche seiner Eltern in die Heimat, ein korrupter Bürgermeister berichtet in Briefform von seinen Schandtaten, ein Spielsüchtiger zerstört sein Leben, ein Junge begeht Suizid im Froschteich, ein anderer erzählt von dem Autounfall, bei dem er stirbt. Wir begleiten den Briefträger auf seiner Runde, der Autohändler erlebt den glücklichsten Tag seines Lebens, der beste Freund verschwindet spurlos für immer, ein Bauer verkauft listig sein wertloses Land. Vom beruflichen Aufstieg eines Zeitungsverlegers wird erzählt und vom Niedergang eines Schuhgeschäfts, vom Sterben einer Hundertfünfjährigen und am Ende auch von einer harmlos scheinenden Verletzung im Urlaub. «Was ist das für ein Strich, Mama? Was meinst du? Der rote Strich an deinem Arm, schau mal, er sieht aus wie eine Straße!» Die Familie ist auf der Heimfahrt, schon kurz vor dem Ziel. «Fred sieht mich an. Dann schaltet er einen Gang zurück und gibt Gas. Von jetzt an geht es schnell» endet das Kapitel lapidar.

Erstaunt hat mich, dass ein Roman über das Sterben und den Tod so entspannend sein kann. Robert Seethaler erzählt sehr gelassenen vom Leben bis zu seinem Ende, wobei es hier kein Totenreich gibt wie bei Dante, weder Himmel noch Hölle, er weist den Toten lediglich eine Stimme zu und lässt sie ganz selbstverständlich mit den Lebenden kommunizieren. Seine Herangehensweise dabei geht konsequent von der menschlichen Würde aus, er diffamiert seine Figuren nicht, sondern beschreibt sie wertfrei mit wenigen treffenden Worten, geradezu plastisch, und zeichnet damit stimmig ein auf seinen Wesenskern reduziertes Panoptikum gelebten Lebens.

Der Autor hat es vorgezogen, seinen Figuren, die ja allesamt das Sterben bereits hinter sich haben, eine einheitliche, klare und treffsichere Sprache zu unterlegen. Bekanntlich macht der Tod alle gleich, und so ist es thematisch angemessen und auch logisch, auf eine unterschiedliche Diktion zu verzichten bei diesen jenseitigen Stimmen. Außerdem reduziert der Autor mit seinem narrativen Kunstgriff das Jenseits gekonnt auf das rein Sprachliche. Und was da episodenweise ziemlich gelassen erzählt wird, das kann man nur als unpathetische Antwort auf die Sinnfrage deuten, es sind jedenfalls überraschende Reflexionen und selten vernommene Lebensweisheiten. Der seines fraktionellen Aufbaus wegen zwar nicht gerade leicht zu lesende, aber versöhnlich stimmende Roman ist insoweit auch existenziell sehr berührend, - seelisch bereichernd ist er als zeitloses Werk allemal.

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 21.09.2018
Acht Berge
Cognetti, Paolo

Acht Berge


gut

Es gibt kein richtiges Leben im falschen

Mit seinem stark autobiografisch geprägten Roman «Acht Berge» hat der italienische Schriftsteller und Dokumentarfilmer Paolo Cognetti nicht nur in seiner Heimat, sondern auch in Deutschland einen Bestseller gelandet. Dafür gibt es vor allem thematische Gründe, einen davon nennt schon der Buchtitel, die Berge nämlich als ewiges Faszinosum mit allen seinen Facetten, - womit hier übrigens auf eine uralte nepalesische Legende angespielt wird. Dieser typische Entwicklungsroman behandelt aber auch sehr intensiv die beiden Themen Männerfreundschaft und Vater-Sohn-Verhältnis und berichtet von den Wendepunkten im Leben, dies alles vor dem Hintergrund einer deutlichen Zivilisationsskepsis, bei der die Berge als zeitloser Fluchtpunkt dienen. «Die Berge sind ein Ort der Wahrheit, der Aufrichtigkeit, fernab vom Maskenspiel der Stadt» hat der Autor im Interview dazu erklärt.

Der Ich-Erzähler Pietro aus Mailand verlebt als Elfjähriger im Juli 1984 zum ersten Mal seine Sommerferien in einem gottverlassenen Bergdorf mit zwölf Einwohnern am Fuße des Monte-Rosa-Massivs in den italienischen Westalpen, seine aus den Dolomiten stammenden Eltern haben dort ein verlassenes Bauernhaus als Feriendomizil gekauft. Der Vater, ein typischer Einzelgänger, der berufsbedingt in die Großstadt gezogen war, lebt in diesem Refugium förmlich auf. Er ist ein geradezu fanatischer, überaus ehrgeiziger Bergwanderer und steckt den Sohn sehr schnell an mit seiner Obsession. Pietro freundet sich auch schon bald mit dem ein Jahr älteren Bauernsohn Bruno an, obwohl sie mental Welten trennen. Ihre wortkarge Freundschaft aber entwickelt sich allmählich zu einer tieferen, geradezu innigen Beziehung, der Roman begleitet die beiden so unterschiedlichen Jugendlichen in ihrer antagonistischen Suche nach dem richtigen Leben über drei Jahrzehnte hinweg bis in ihre Lebensmitte, bis ins Jahr 2014. Der Gegensatz zwischen unverrückbarer Heimatverbundenheit und ewig lockendem Fernweh bestimmt somit den Spannungsbogen in dieser alpinen Männergeschichte, in der den eh schon wenigen Frauen übrigens allenfalls eine unbedeutende Nebenrolle zugewiesen wird.

Wohltuend ist die perfekt der urwüchsigen, kargen Gebirgswelt und dem geradezu archaischen Leben seiner Bewohner gerecht werdende, nüchterne Sprache des Romans. Jedweden Alpenkitsch á la Ganghofer vermeidend beschreibt der Autor stimmig Einsamkeit und ereignislose Stille, aber auch das ewig Bedrohliche der Naturgewalten mit ehrfürchtigem Abstand. Paolo Cognetti hat von einer unerträglichen Rhetorik der Berge gesprochen, er habe sich deshalb «bewusst dafür entschieden, die entsprechenden Adjektive wie ‹zauberhaft›, ‹wunderbar›, ‹herrlich›, ‹fantastisch› nicht zu verwenden». Die Landschaftsbeschreibung dient hier also nicht wie üblich als Hintergrund der Geschichte, mit ihrer Hilfe dringt der Autor vielmehr indirekt zum Wesenskern seiner introvertierten Figuren vor, spiegelt darin ihre ureigensten Gefühle.

Das psychologische Geflecht einer spannungsgeladenen Vater-Sohn-Beziehung gerät hier durch den Freund zu einer Dreieckskonstellation, Bruno nimmt nach dem abrupten Bruch mit dem herrschsüchtigen Vater die Rolle Pietros ein, er wird quasi zum Ziehsohn und geht mit ihm auf gewagte Bergtouren. Die heraufziehende Klimakatastrophe bestimmt das Finale und leitet auch eine Zäsur in Pietros Leben ein. Er kehrt der heimischen Gebirgswelt endgültig den Rücken und geht als Dokumentarfilmer in den Himalaja zurück. Wobei für ihn das Hochgebirge als Hort der Utopie ausgedient hat, er widmet sich den nepalesischen Bergvölkern und erkundet ihre Lebensverhältnisse. Dieser Roman erweist sich beim Lesen als ruhige Lektüre, die als ein Fanal der Entschleunigung aufscheint und uns die stressige Alltagswelt für einige beschauliche Lesestunden vergessen lässt. Wobei sich als Katharsis der geflügelte Satz von Adorno aus den «Minima Moralia» auch hier bewahrheitet: «Es gibt kein richtiges Leben im falschen».

Bewertung vom 16.09.2018
Bruder und Schwester Lenobel
Köhlmeier, Michael

Bruder und Schwester Lenobel


gut

Narrativ überfrachtet

Mit seiner Fabulierkunst ist Michael Köhlmeier ein Solitär unter den profilierten Schriftstellern Österreichs, sein neuer Roman «Bruder und Schwester Lenobel» ist ein weiteres Schwergewicht in seinem beeindruckenden, äußerst vielseitigem Œuvre. Seine großen Themen Leben, Liebe, Tod dienen erzählerisch auch hier wieder dem Versuch einer Annährung an den Kern der menschlichen Existenz, wobei ein Psychoanalytiker als Zentralfigur der Geschichte der Gewährsmann ist für deren geistigen Gehalt. Leichte Kost also wartet da nicht auf den Leser, es geht tief hinein in die Philosophie mit ihren komplizierten Fragestellungen. Die ebenso naive wie ironische Widmung «für die Familie» leitet ein in innere Landschaften, die vor dem Hintergrund dreier Generationen gespiegelt werden, deren jüngste im Hier und Heute angesiedelt ist.

Der in dreizehn Kapitel gegliederte Erzählstoff ist, darin liegt die Ironie der Widmung, gerade dadurch gekennzeichnet, dass er einen resignativen Abgesang auf die Familie darstellt. Knalleffektartig beginnt die Geschichte mit einer E-Mail: «Komm, dein Bruder ist verrückt» schreibt Hanna an ihre Schwägerin Jetti, die in Dublin eine gut gehende Agentur für künstlerische Großprojekte betreibt. Dr. Robert Lenobel, fünfzigjährig, verheiratet, zwei Kinder, hoch angesehener Psychoanalytiker in Wien, ist - ohne Nachricht zu hinterlassen - spurlos verschwunden. In Rückblenden entwickelt Köhlmeier die Vorgeschichte dieses rätselhaften Verschwindens, die bis in die Generation der in den KZs umgekommenen jüdischen Großeltern zurückreicht und als psychische Belastung Nachwirkungen auch auf die folgenden Generationen hat. Jetti musste nach der Einweisung ihrer depressiven Mutter in die Psychiatrie als Sechzehnjährige den Haushalt führen, und sie sorgte auch für die Finanzen, indem sie eine vom Großvater vor den Nazis versteckte, wertvolle Grafiksammlung listig Stück für Stück verkaufte. Mit ihrer Schwägerin Hanna verbindet sie heute eine Hassliebe, deren Ursprünge zwanzig Jahre zurückreichen, als sie den Schriftsteller Sebastian kennenlernte, der bald schon der beste Freund ihres Bruders wurde, ein geduldiger Zuhörer bei dessen schier endlosen Reflexionen zu allerlei daseinsrelevanten Themen.

In den eigenartig verschlungenen Lebensgeschichten der allesamt therapiebedürftigen Familienmitglieder bleibt vieles rätselhaft, wobei alle Liebesabenteuer dadurch gekennzeichnet sind, dass die Initiative dazu immer von den Frauen ausgeht, - was für eine Macho-Fantasie! So ist auch Robert nach über zwanzigjähriger Ehe erstmals untreu geworden, weil eine attraktive Patientin ihm unverhohlen nachstellt. «Na endlich» habe ich auf einen eingeklebten Merkzettel geschrieben, als nach fast 150 sehr zäh zu lesenden Seiten über Gott und die Welt - und über Psychotherapie natürlich - die zerfasernde Geschichte endlich Fahrt aufnahm, eben weil die liebeshungrige Bess zielstrebig auf den Plan trat und man spekulieren konnte, dass womöglich hier die Ursache für die kopflose Flucht des Psychiaters liege.

Die einzelnen Kapitel der ebenso komplexen wie pessimistisch düsteren Geschichte werden von typischen Köhlmeier-Märchen eingeleitet, deren Sinn sich manchmal schwer erkennen lässt. «Im Kern einer jeden Geschichte sitzt ein Märchen» hat der Autor lapidar erklärt, - und dem ist nun mal das Böse immanent. Erfreulich ist die üppige Intertextualität in diesem Roman, in der schieren Überfülle des Erzählten aber fehlen oft die Verknüpfungen, und Vieles wird ganz einfach nicht stimmig zu Ende geführt, so auch die zentrale Geschichte mit Bess. Das Ganze erscheint mir narrativ hoffnungslos überfrachtet, das deprimierende Resümee all der klugen Reflexionen des - in dieser Hinsicht unübersehbar eitlen - Autors ist die Nichtigkeit unseres Glücksstrebens. Sein tragischer Held jedenfalls findet einfach nicht den Weg zu sich selbst, und auch die nachfolgende Generation taumelt gleichermaßen unschlüssig durch das Dilemma ihres Daseins.

2 von 3 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 08.09.2018
Opernball
Haslinger, Josef

Opernball


sehr gut

Ein Möglichkeitsraum wird Realität

Geradezu prophetisch hat der österreichische Schriftsteller Josef Haslinger in seinem 1995 erschienenen Roman «Opernball» beschrieben, was nun tagesaktuell von den Medien als bittere Realität verkündet wird, das beängstige Erstarken eines nationalistisch verblendeten, gewaltbereiten Mobs, dem der Staat auf der Straße fast hilflos gegenüber steht wie jetzt in Chemnitz. «Warum … haben wir nicht rechtzeitig die Zügel in die Hand genommen? Diesem Gesindel die Stirn geboten? Mit eisernen Schlägen vernietet, was noch nicht hoffungslos zerrissen war? Warum haben wir nicht aufgeräumt? Entrümpelt? Das Unkraut ausgerissen, solange es noch klein war?» Der selbstkritische Wiener Polizeipräsident findet deutliche Worte in einer Rede bei der Vereidigung von Revierleitern nach der Opernball-Katastrophe. «Ein Recht ohne Macht sei zum Untergang verurteilt und stürze den ganzen Staat in den Abgrund», heißt es weiter in einer Art Vorwort zu diesem grandiosen Politthriller.

Brutal wird der Leser gleich auf den ersten paar Seiten mit einem bis dato für undenkbar gehaltenen Terroranschlag einer rechtsradikalen Verschwörergruppe konfrontiert, ein von einem Privatsender europaweit live übertragener Massenmord, dem tausende Menschen zum Opfer fallen, neben der alljährlich wie immer dort vollzählig versammelten, snobistischen High Society der Alpenrepublik auch die gesamte politische Prominenz Österreichs. Der in wenigen Minuten eintretende, qualvolle Tod der vielen Menschen beim Opernball wird durch Blausäure verursacht, die, über das Belüftungssystem im Gebäude verteilt, sehr schnell wirksam wird. Dieses grausige Szenario erinnert fatal, - aber bestimmt nicht zufällig -, an den Massenmord mit Zyklon B in den KZs der Nazis. Die von einem - als der «Geringste» bezeichneten – rechten Guru angeführte, neunköpfige Terrorgruppe leitet ihre Heilslehre und ihre «Ausländer raus»-Ideologie gleichermaßen aus der Bibel und «Mein Kampf» ab, der eschatologisch begründete Anschlag wird als Hamargedon herbeigesehnt, ein neues Tausendjähriges Reich würde entstehen.

Josef Haslinger hat seinen pseudo-dokumentarischen Plot multiperspektivisch konstruiert, erzählt wird aus den Blickwinkeln des TV-Regisseurs, der mit der Leitung der Live-Übertragung betraut ist, ferner eines Polizisten, der vor der Oper gegen die Demonstranten eingesetzt wird, schließlich von einem als «Ingenieur» bezeichnetem Mitglied der Terrorgruppe, in kürzeren Kapiteln aber auch aus der Perspektive einer Hausfrau und eines Brotfabrikaten. Geschickt werden dabei die Geschichten seiner Figuren vor und nach dem Anschlag verwoben, wobei er die Fäden der Handlungsstränge in seinem narrativen Netz gekonnt miteinander verknüpft. Die immer eindeutig zuzuordnenden Orts- und Zeitsprünge der einzelnen Kapitel werden zum Teil in Form protokollartiger Aufzeichnungen erzählt, die durchaus spannungsgeladen sind, obwohl das dramatische Ereignis dem Leser ja gleich am Anfang schon bekannt wird. Wie es dazu kam, das also ist hier das Spannende!

Balkankriege, KZs, Drogensucht, Polizeifrust, Migrationsdruck, politische Ränkespiele, sensationslüsternes Privatfernsehen, dunkle Geschäfte mit Osteuropa, schreiendes soziales Unrecht sind Themen dieses Romans, aber auch die glücklichen Zufälle, die einige wenige davor bewahrt haben, im Opernhaus zu sein, weil sie zu spät eintrafen wie die berühmte Operndiva, oder die aus letztendlich glücklichen Umständen den Ball früher verlassen mussten. Der Roman ist das beklemmende Sittenbild eines latent rechtsgesinnten Staates, die sechs Jahre vor 9/11 angesiedelte, brutale Geschichte hat sich als hellsichtige Beschreibung eines Zustands erwiesen, dessen inzwischen bewiesene Realität weit bedrückender ist als die fiktionale Geschichte selbst, die der Autor seinen Lesern da thrillergerecht auftischt. Es sei per se Aufgabe der Fiktion, einen Möglichkeitsraum auszuleuchten, hat Haslinger dazu angemerkt. Das ist ihm fürwahr gelungen!

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Bewertung vom 05.09.2018
Letzte Freunde / Old Filth Trilogie Bd.3
Gardam, Jane

Letzte Freunde / Old Filth Trilogie Bd.3


weniger gut

Vom Kommen und Gehen

Wie die anderen beiden ist auch der letzte Band der Romantrilogie von Jane Gardam mit dem Titel «Letzte Freunde», 2016 auf Deutsch erschienen, völlig eigenständig zu lesen, ohne Cliffhanger also. Mit großem Geschick nämlich hat die Grande Dame der englischen Belletristik ihren üppigen Erzählstoff um die beiden Erfolgsjuristen und die Frau, die zwischen ihnen steht, aus den unterschiedlichen Blickwinkeln auf diese drei dominanten Figuren heraus entwickelt. So steht im ersten Band «Ein untadeliger Mann» Old Filth alias Edward Feathers im Fokus, im zweiten, «Eine treue Frau», seine Frau Betty und im vorliegenden dritten nun der ewige Rivale und Nebenbuhler Terry Verneering. Alle drei sind übrigens tot, wenn der Roman beginnt, im Wesentlichen wird also in ausgedehnten Rückblenden erzählt, und was man da so erfährt, ist oft schon aus den beiden anderen Bänden bekannt, der Reiz liegt in den jeweils verschiedenen Perspektiven.

Als berühmte Juristen der britischen Kronkolonie Hongkong haben die beiden ungleichen Männer schon manchen Strauß vor Gericht ausgefochten. Die hochgeachteten Koryphäen des Baurechts hassen und beneiden sich gleichermaßen, der «untadelige», gepflegte, überkorrekte Gentleman «Old Filth» und der ebenso lebenslustige wie attraktive Frauenheld Terry, den die mit Feathers verheiratete Betty ein Leben lang begehrt. Durch Zufall nach ihrer Pensionierung in einer kleinen Ortschaft der Grafschaft Dorset zu Nachbarn geworden, gehen die ungleichen Männer sich geflissentlich aus dem Weg, ehe sie nach Bettys Tod als einsame alte Herren doch noch zueinander finden. Das alles taucht als narrativer Hintergrund immer wieder auf, wenn Jane Gardam in gewohnt rasantem Tempo die Lebensgeschichte von Terry erzählt. Sie tut dies in verschiedenen Zeitebenen, die sie virtuos wechselt, wobei der Zeitrahmen das gesamte zwanzigste Jahrhundert umfasst mit all den Umbrüchen, die der Niedergang des British Empire mit sich gebracht hat, aber auch die Verheerungen des Zweiten Weltkriegs.

Bemerkenswert plastisch ist die Figurenzeichnung, neben den drei Helden der Trilogie tauchen hier ergänzend eine ganze Reihe weiterer Personen auf, die Terrys Lebensweg begleitet haben, allesamt auf ihre Weise originelle, oft auch recht skurrile Figuren. Mit schwarzem britischem Humor durchtränkt wird dabei aber nicht geschwätzig alles haarklein vor dem Leser ausgebreitet, der hintersinnige Plot lebt auch von dem diskret Ausgespartem, vom beharrlichen Schweigen des zumeist hoch betagten Figurenensembles, von den kleinen Geheimnissen in einem kunstvoll geknüpften narrativen Netz. Das Kommen und Gehen als ewiger Ablauf allen Lebens wird hier in den zurückgelassenen eigenen Kulissen, im ernüchternden Faktum des Weiterlebens der vielen anderen gespiegelt, der Nachgeborenen. Die Häuser wurden verkauft, neue Leute sind eingezogen, das ehemalige Leben darin ist schon bald nicht mehr erkennbar, alle Spuren sind inzwischen verwischt.

Und doch keimt in diesem geriatrischen Roman zaghaft noch die Hoffung auf, sind nicht alle Wege verstellt, selbst wenn dies kitschig erscheinen mag am Ende. Vorzuwerfen aber ist der Autorin das Zuviel an Zufällen, wer wem wann ganz unverhofft über den Weg läuft, wer zufällig auf der Suche nach einem Job in ein Büro hineinstolpert, als dessen Erbe er sich dann unerwartet erweist. Die Lebensgeschichte von Terry ist wahrlich märchenhaft geraten, und auch bei den aberwitzigen Todesarten, - und es wird viel gestorben in diesem Roman -, wird die Nachsicht des Lesers auf eine harte Probe gestellt. Letztendlich aber verzeiht man Jane Gardam solche fiktionalen Übertreibungen, denn die Lektüre ist trotzdem bereichernd, anschaulich und humorvoll wird außerdem die oft schrullige Mentalität der Briten dargestellt. Und auch die Weisheit eines langen Schriftstellerlebens ist - last, but not least - eingearbeitet in diesen äußerst vielschichtigen Roman, der genau an seinem Zuviel aber letztendlich scheitert.

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