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Juti
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Bewertungen

Insgesamt 631 Bewertungen
Bewertung vom 13.07.2019
Die große Heuchelei
Todenhöfer, Jürgen

Die große Heuchelei


gut

Kriegsberichterstattung, Reisebeschreibungen und Historie

Mit Gerd Ruge unterwegs. Ach, ist ja gar nicht Gerd Ruge. Diesen Witz habe ich bei Navid Kermani schon gemacht. Hier passt er nicht so gut, weil Todenhöfer außer in die USA fast nur Kriegsgebiete bereist und im Gegensatz zu Ruge kaum mit der „normalen“ einheimischen Bevölkerung Kontakt hat außer im Jemen.

Der Autor ist mit seinem Sohn ein Einzelkämpfer für den Frieden. Er redet mit dem Militär und den Machthabern. So hat er Frau Merkel ein Friedensangebot von Assad unterbreitet, auf das sie nicht eingehen wollte. Auch wenn mit Irak, Syrien, Gaza, Jemen und den Rohingyas in Myanmar kein Kriegsgebiet fehlt, so gleichen sich doch die Folgen von zerstörten Häusern, Hunger, toten und verstümmelten Kindern in jedem Land. Das Besondere des Buches ist, dass Todenhöfer dorthin geht, wo sich kein anderer hin traut.

Dennoch ist er nicht allein auf der Welt. Sein historischer Überblick über die Geschichte der arabischen Welt ist nicht neu. Über Syrien sowie den Konflikt zwischen Saudi-Arabien und Iran hat Michael Lüders gleiches geschrieben. Er wird mit keinem Wort erwähnt. Stattdessen feiert das Buch Todenhöfers Sieg vor Gericht über den Spiegel. Nach Dirk Müller liegt die Ursache für die Kriege in Myanmar in einem geplanten chinesischen Tiefseehafen, darüber kein Wort. Richtig ist aber, dass sich unsere Medien für solche Konflikte nicht interessieren. Das schrieb aber bereits Mausfeld. Was wir in Deutschland dagegen tun können, bleibt die Frage. Außenpolitik interessiert bei der Wahlentscheidung nicht.

Und noch ein Geografie-Tipp: Im Deutschen unterscheidet man zwischen dem Nahen und dem Mittleren Osten. Todenhöfer scheint das nicht bekannt zu sein, den in Gaza, Syrien und dem Irak ist die Bezeichnung Mittlerer Osten falsch.

Dieses Buch ist für Pazifisten mit Berichten aus Ländern, die kein Tourist besucht. Wer aber schon Bücher über den Nahen und Mittleren Osten gelesen hat, der könnte enttäuscht sein. 3 Sterne

Bewertung vom 11.07.2019
Unsere leeren Herzen
Hettche, Thomas

Unsere leeren Herzen


gut

Welche Tröstung kann Literatur unseren leeren Herzen heute noch sein?

Auf dem Cover steht diese Frage. Enthält das Buch auch die Antwort? Ich möchte sagen teilweise.

Wie so oft bei Essays gefallen mir einigen gut, andere weniger. Die weniger Guten sind bald vergessen, der in obiger Kritik erwähnte Teil „Paris“ mit David Bowie und dem Maler hat mir beispielsweise weniger gefallen. Gut dagegen gleich der erste Aufsatz, Marsyas und die Eberjagd.

Dieses Bändchen machte mir Lust auf „In der Strafkolonie“ von Kafka, was ich dann auch gelesen habe. Dennoch freue ich mich, wenn Thomas Hettche wieder einen Roman wie „Die Pfaueninsel“ schreibt.
3 Sterne

Lieblingszitat:
Das Ideal der aristokratischen griechischen Kultur war der freie Mensch, den keine Tätigkeit zu sehr beanspruchte, und dieses Ideal bestimmte auch die griechische Vorstellung von der Schönheit ihrer Götter. (S.77)

Bewertung vom 08.07.2019
Der Zerfall der Demokratie
Mounk, Yascha

Der Zerfall der Demokratie


ausgezeichnet

Doppelte Bedrohung durch illiberale Demokratie und undemokratischen Liberalismus

Nach dem Buch von Levitsky: „Wie Demokratien sterben“ ist dies das zweite zu diesem Thema. Es lohnt sich, denn während Levitsky doch sehr in Amerika verhaftet bleibt, stellt Mounk die These auf, dass die Demokratie gleich von zwei Seiten bedroht wird.

Zum einen sind es illiberale Demokratien wie in Polen und Ungarn, die die Mehrheit der Wähler an der Urne bekommen haben, aber die Rechte der Minderheiten und die freie Meinungsäußerung sehr einschränken. Auch der Volksentscheid in der Schweiz, der Minarette verbietet, wird genannt. Diese Initiative entstand erst nachdem die Schweizer Gerichte in einer kleinen Stadt im Aargau ein Minarett gegen den Willen des Gemeinderats erlaubt hatten.

Andererseits wird die Demokratie dadurch bedroht, dass immer mehr internationale Verträge die Entscheidungsfreiheit der Abgeordneten einschränken. Außer in den Niederlanden gibt es mittlerweile in jedem Land die „Normenkontrollklage“, das Recht neue Gesetze überprüfen zu lassen, ob sie nicht Minderheiten benachteiligen. Wäre das Buch neuer, wäre auch die Entscheidung des Europäischen Rats Ursula von der Leyen zur Präsidentin zu machen, obwohl sie keine Spitzenkandidatin war, ein Beispiel für eine bürokratische und undemokratische Wahl.
Ganze Bereiche wie die Zentralbanken entziehen sich der demokratischen Kontrolle. Auch die Lobbyarbeit nimmt immer mehr zu, so dass der Abgeordnete seine Entscheidung nicht mehr aufgrund der Mehrheitsmeinung trifft.

Dies führt dazu, dass das Interesse an der Politik in der Bevölkerung immer weiter sinkt und das Demokratieverständnis schwindet. Am Beispiel Polen zeigt der Autor, welche Frühwarnsignale die Politologen übersehen haben. In Polen gab es immer schon eine große Anzahl derer, die sich einen autoritären Führer wünschen.

Im zweiten Kapitel benennt er die Ursachen der Demokratiekrise. Soziale Medien erlauben jedem seine Meinung mit anderen zu teilen und konnten während des arabischen Frühlings zu demokratischen Zwecken genutzt werden, aber eben auch zu undemokratischen.
Nach dem Krieg wuchs die Wirtschaft, heute geht es nur jedem zweiten Kind wirtschaftlich besser als seinen Eltern im gleichen Alter, Abstiegsängste entstehen.
Drittens waren die Staaten Europas nach dem Krieg homogen, während die Zahl der Migranten vor allem in den letzten Jahren zunahm. Auch in Amerika lässt sich beobachten, dass auch demographisch bedingt der Einfluss der weißen Wähler schwindet. Allerdings haben sowohl die Republikaner als auch die AfD ihre Hochburgen in ländlichen Gebieten, wo es kaum Ausländer gibt. Ein möglicher Grund ist, dass die zweite Migrationswelle durch den Kontakt mit anderen ethnischen Gruppen weniger Ängste verursacht als die erste.

Das letzte Kapitel untersucht die Gegenmittel. Es nennt 4 Punkte:
1. Einigkeit der Opposition (z.B. scheiterten viele kleine linke Parteien in Polen am Einzug ins Parlament)
2. die Sorgen der einfachen Leute ernst nehmen.
3. positive Botschaften entwickeln
4. nicht zufrieden sein, mit der illiberalen Regierung

Gegen den Nationalismus wünscht sich der Autor einen inklusiven Patriotismus, so wie Macron die Einwohner Marseilles als Franzosen lobt. Zur Sanierung der Wirtschaft wünscht er sich zur Vermeidung von Ungleichheit die Beseitigung von Steuerschlupflöchern, den Bau von Sozialwohnungen und zur Steigerung der Produktivität mehr Ausgaben in Forschung und Bildung. Bildung ist es auch, was bei der Nutzung der sozialen Netzwerke hilft.

Im Schlusswort schreibt er noch, dass er die Gelassenheit der Stoiker gerne hätte, wenn es um die Auswirkungen und die damit verbundenen Ängste seines Handels geht.

Nur wenige Wiederholungen, deswegen noch 5 Sterne

Bewertung vom 07.07.2019
Tambora und das Jahr ohne Sommer
Behringer, Wolfgang

Tambora und das Jahr ohne Sommer


sehr gut

Wissenslücke gefüllt

1815 Ausbruch, 1816 kein Sommer, keine Ernte, 1817 Jahr des Hungers.

So kurz lässt sich dieses Buch zusammenfassen und doch scheint es so, als hätte der Autor alles, was er zu diesem Thema gefunden hat zusammengetragen. Er sagt selbst, dass es ihm nicht um die naturwissenschaftliche Beschreibung geht, sondern um seine Auswirkungen auf die Politik, die sich nach den Befreiungskriegen gerade neu finden musste.

Dieses Buch wird folglich zu einem Werk, dass sich mit aktuellen Themen wie z.B. Migration befasst. Hungernde Europäer wanderten nach Russland und Amerika aus, selbst die Auswanderung nach Brasilien und Australien bleibt nicht unerwähnt. Sozialeinrichtungen, die sich um hungernde Menschen kümmerten, entstanden in diesen Jahren.
Klimakrise wäre für 1816 das richtige Wort. Aus diesen Beobachtungen entwickelte sich die moderne Meteorologie. Auch Erfindungen wie die moderne Landwirtschaft, die Draisine und der Ausbau der Infrastruktur sind für den Autor Folgen.

Gegen Ende des Buches fragt man sich aber doch, ob alles das, was der Autor schreibt, wirklich vom Vulkanausbruch mit verursacht wurde, z.B. der Ausbruch der Cholera-Epidemie. Lange Passagen widmen sich auch dem zunehmenden Antisemitismus aufgrund des Hungers und die Bekämpfung dagegen, vor allem von den großen Staaten im neu entstanden Deutschen Bund Preußen und Österreich.
Ich muss noch schreiben, dass das Buch die Folgen bis 1820 thematisiert, was bedeutet, dass es nach dem Hunger ein Überangebot und sinkende Lebensmittelpreise gab.

Anfangs sehr spannend hat das Buch gegen Ende doch Längen, daher 4 Sterne.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 27.06.2019
Nach dem Gedächtnis
Stepanova, Maria

Nach dem Gedächtnis


schlecht

Russischer Erinnerungsschinken ohne Spannung

Ja, eigentlich ist es eine spannende Frage, was von einem bleibt. Früher Portraits, heute Fotos. Im dritten Kapitel werden 20 Fotos auf 13 Seiten beschrieben. Sonst ist es wahnsinnig schwer eine roten Faden zu erkennen. Vielleicht sind russische Bücher nicht für Sommerhitze geeignet.

Mein Lob gilt Frau Westermann, die im literarischen Quartett vor diesem Buch warnte. Ich sage zu recht. Bis S.98 habe ich die ersten 5 Kapitel gelesen. Es gibt bessere Bücher. Nicht zu Ende gelesene Bücher können leider nur mit einem Stern bewertet werden.

Bewertung vom 15.06.2019
Der traurige Gast
Nawrat, Matthias

Der traurige Gast


gut

Berlin-Geschichten mit polnischem Migrationshintergrund

Ruhig und sachlich erzählt Nawrat drei Geschichten im Stile Handkes. Sein Ich-Erzähler bleibt blass, weil er andere Personen reden lässt, die auch in der Ich-Form sprechen. Da auch die wörtliche Rede nicht gekennzeichnet ist, wird dies mitunter verwirrend. Auch konnte ich mich nicht so gut in die Personen hinein fühlen, weil das Thema weit von meinem Alltagsleben entfernt ist.

Im ersten Teil hören wir von einer Architektin, die ihre Häuser nur über Fotos plant und Schöneberg nicht mehr verlässt. Nur der Liebe wegen war sie früher mal segeln im Wannsee. Der letzte Teil erzählt vom Arzt Darius, der in Polen Militärarzt werden sollte, dies aber nicht wollte und in den Westen ausreiste mit Trennung von seiner Familie, die er aber nicht mehr liebte. Alkoholabhängig verliert er seinen Job und lernt den Ich-Erzähler bei einer Arbeit an einer Tankstelle kennen. Ohne vorher Kontakt zu haben, erfährt vom Tod seines Sohnes in Bolivien und reist dann auf dessen Spuren.
Der mittlere Teil gefällt mir weniger, weil er von Nachbarn handelt, die entweder im Treppenhaus hausen oder auch sonst nicht vertrauenswürdig erscheinen. Und dann passiert der Terroranschlag in Berlin und unser Ich-Erzähler traut sich nicht mehr auf die Straße.

Mit dem Leben in Deutschland wird auch der Katholizismus zur Hintergrundmusik. Es bleibt dem Leser selbst überlassen, sich einen Sinn im Leben zu suchen. 3 Sterne.
Ein richtig guter Roman wäre mal wieder schön.

Bewertung vom 11.06.2019
Babel
Cusanit, Kenah

Babel


weniger gut

Verpatztes und verpasstes Debüt

Neue, gute historische Romane gibt es viele: „Der Gott der Barbaren“, „Keyserlings Geheimnis“ und „Fräulein Nettes kurzer Sommer“ sind nur drei.

Dieser Roman, der von der Ausgrabung Babylons durch Koldewey handelt, misslingt aber, was daran liegt, dass der Leser nicht weiß, welches Ziel der Roman hat. Es geht anfangs über Fotografie, später über Pumpen, ellenlang über die Post, die Koldewey erhält und mehrere Seiten eine Liste seiner über 200 Mitarbeiter. Wen soll das interessieren?

Mich interessierte der Ansatz, dass die Bibel Geschichten aus Babylon enthält und deswegen nicht Wort Gottes sein kann, aber dieses Thema ist nur wenige Seiten lang. Frau Duve hat ihrem Roman ein 13 Seiten langes Literaturverzeichnis angefügt, welches hier fehlt. Gelungen ist vielleicht noch der Berlin-Besuch von Koldewey, aber das kann doch nicht der Grund der Lektüre sein.

Also ich habe bis zum Ende durchgehalten und gebe 2 Sterne. Mehr geht wirklich nicht.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 10.06.2019
Die allerseltsamsten Orte der Welt
Bonnett, Alastair

Die allerseltsamsten Orte der Welt


sehr gut

Der Abenteurer wird politisch

Seltsam ist übrigens, dass der Autor Geografie-Professor ist, aber für Wikipedia nicht existiert. Mir kommt er vor wie ein kleiner Junge auf dem Abenteuerspielplatz Erde.

Die Minquiers sind Kanalinseln südlich von Jersey. Mit 12m Tide entsteht bei Ebbe ein großes Territorium, bei Flut bleiben ein paar unbewohnte Felsen. 1953 wurden Ansprüche Frankreichs abgelehnt. Auch die USA besitz solche Mikroinselnd. Historische Grundlage ist der Guano Act, wonach jede Insel, auf der man Vogelscheiße sammeln kann und die kein anderer beansprucht, zur USA gehört. Ein Witzbold hat eine Vereinigung solcher Inseln mit angeblich 68 Bewohnern gegründet. Im südchinesischen Meer liegen die Spratly-Inseln. Es sind nur unbewohnte Felsen. Manche werden künstlich vergrößert, um sie militärisch nutzen zu können. Im botnischen Meerbusen hebt sich nach der Eiszeit am schnellsten das Land. Wegen der Nachricht, dass die Philippinen 534 neue Inseln entdeckt hätten, beschäftigt sich der Autor mit der Definition einer Insel.

Weiter geht es mit der Sprachinsel Ladinisch in den Alpen. Im Kaukasus und auf Neuguinea gäbe es noch mehr Sprachen. Eruv ist eine religiöse Enklave, in der Juden am Sabbat das erlaubt ist, was sie daheim auch dürfen, ein Beispiel ist ein Strand in Sydney. Im Ferghanatal geht es um politsche Enklaven. Das bevölkerungsreichste Tal Zentralasiens gehört von Ost nach West erst Kirgisistan, dann Usbekistan, dann Tadschikistan. Den Sandwall in der Sahara, der die Arabische Republik Sahara und Marokko trennt, kann ich bei google kaum erkennen. Die „allerseltsamsten Orte“ werden zu Kriegsgebieten wie auch bei Neurussland, also der Ostukraine und dem Islamische Staat. Der Malteser-Orden hat nur eine Palast in der Via Condotti 68 in Rom, ansonsten kein Territorium, fühlt sich aber souverän. Ohne Territorium sind auch Cybertopia -also Second Life- und die neuen Nomaden, die in Wahrheit „Kleinunternehmer mit winzigem Wohnwagen“ sind.

Utopische Orte heißt das Kapitel mit dem Felsengarten von Nek Chand in von Le Corbusier geplanten Chandigarh. Im Freistaat Christiania in Kopenhagen darf jeder leben, wie er will, wenn er keinem anderen schadet. Aber mehr als 900 Bewohner nimmt Christiania nicht auf. In Helsinki träumt der Autor von der wilden Ernte. Sao Paulo hat so viele Staus, dass Superreiche mit dem Helikopter über die Stadt fliegen, die so laut sind, dass sie nur über große Straßen und Flüsse fliegen dürfen. In Hongkong funktioniert, was in Newcastle und in Europa nicht klappt: Eine zweite Ebene für Fußgänger, während die Autos auf dem Boden fahren.

Damit wären wir bei den gespenstischen Orte wie im Tokioer Bahnhof Shinjuku, wo es eine tiefen Tunnel geben soll, aus dem Menschen nicht zurückkehren. Boys Village soll ein 1925 errichtetes Feriencamp gewesen sein, 1990 geschlossen. Auf dem alten britischen Friedhof in Shimla sieht man ein neues Hotel und der Drehort des Films Dau ist schlicht ein Haus. Der nie veröffentliche Film stellte den Kommunismus so realistisch dar, dass einige Schauspieler real verhaftet wurden. Mit dem esoterischen, magischen London und mit Tsunami-Steinen, die vor der Bebauung des Ufers in Japan warnen endet das Kapitel.

Die Müllstadt von Kairo, in der Kopten schufften, sieht bei google wie ein Golfplatz aus. Auf Street view fehlen die Hidden Hills in Kalifornien wegen Reichtum und die Slums in Sri Lanka wegen Armut. Trap Streets sind Straßen, die aus Urheberrechtsgründen in Karten eingezeichnet werden. Der Urwald im Kongo ist ein weißer Fleck. Über Steueroasen, Dornenlandschaften gegen Obdachlose, Hainan geht es in Jerusalem unter die Erde, um Besitzverhältnisse zu klären und in die Nordsee während der Eiszeit. Schließlich werden neue Handelsrouten in der Arktis und Unterseeforschung von Cousteau beschrieben.

Obwohl mich das Buch fesselte, sind einige Abschnitte überflüssig. 4 Sterne

gekürzt

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 09.06.2019
Bereicherung
Boltanski, Luc;Esquerre, Arnaud

Bereicherung


weniger gut

Wenn das Buch nicht liefert, was der Leser möchte

Reichtum ist weit weniger erforscht als Armut. Und ich hoffte, dass diese Buch den Anfang macht.
Als Wirtschaftsgeograf fand ich auch die ersten Kapitel interessant, wo dargestellt wird, dass selbst ländliche Gebiete eine Bereicherung z.B. durch verstärkten Tourismus erfahren können, wenn sie viele Baudenkmäler haben oder zum UNESCO-Weltkulturerbe gehören. So wurde Arles von einer Industriestadt zu einer Künstlerstadt, Bilbao profitiert vom Guggenheim-Museum.

Dann aber wurde es mir zu wirtschaftswissenschaftlich. Es ging über Preisbildung und Metapreise (nicht jede Ware wird an jedem Ort zum gleichen Preis verkauft, deswegen Metapreise). Waren müssen was besonderes sein, dann kann man fast jeden Preis verlangen, Beispiele sind Wein, Schmuck und Mode. In Statistiken werden diese Güter der Bereicherung selbst in Frankreich, wo sie am wichtigsten sind, nicht zusammen aufgeführt.
Auf S.211beschreibt eine Tabelle den Wert von Dingen. Neben der analytischen Präsentation mit Standardform bei negativem und Anlageform bei positivem Marktpotential gibt es noch die narrative Präsentation mit Trendform, die schnell an Wert verliert, und Sammlerform.
Das wiederum führt zu Beschäftigung mit dem Sammeln, mit Kopie und Original. So sieht man in einem Koordinatensystem auf S.365 mit Erinnerungskraft auf der x-Achse und Anzahl der Exemplare auf der y-Achse (wobei das einzige Exemplar höher angesiedelt ist, da es wertvoller ist), wie man Sammlungen unterscheiden kann. Ein Gemälde von Leonardo da Vinci ist einzigartig und hat hohe Erinnerungskraft, im Gegensatz zu einem Gemälde von Yves Klein. Stücke der Berliner Mauer gibt es häufiger und haben hohe Erinnerungskraft, eine Sammlung von z.B. Streichholzschachteln hat sicher keine einzigartigen Exponate und kaum Erinnerungskraft.
Vorher wurde zwischen Produkten unterschieden, wo auf der x-Achse die Langlebigkeit der Waren dargestellt wird (S.261). Daraus folgt, dass langlebige Qualitätsprodukte wie die Luxuslimousine oder die Luxusuhr im 1. Quadranten, technische Innovationen, die rasch veralten, wie Smartphone oder Laptopim 2. Quadranten, Wegwerfprodukte wie Supermarktuhr oder Kugelschreiber im 3. Quadranten und langlebige Alltagsgegenstände wie Leitern im 4. Quadranten dargestellt werden. Dinge wie z.B. Wein aus Marseille werden weiter vom Herkunftsort teurer.

Mir gefällt das praktische Beispiel vom kleinen Dorf Laguiole, das noch in den 60er Jahren von Dorfhandel und Landwirtschaft lebte, heute aber ein Gourmet-Restaurant und gute Hotels beheimatet. Vor allem aber ist das Dorf heute bekannt für Laguiole-Messer. Billige Messer werden in China oder Pakistan hergestellt, hier werden die Messer von einem Schmied in Handarbeit hergestellt und kosten dementsprechend mehr. Ihr Produkt soll mit einem Siegel geschützt werden, doch das ist nicht so einfach, da weder der Stahl für die Klinge noch der Griff aus Materialien der Region produziert werden. In Thiers werden auch diese Messer hergestellt und Thiers will ebenfalls geographisch geschützt werden. Die Messer werden vor Ort bei Führungen durch die Produktion verkauft. Dabei wird eine lange Historie vorgegaukelt, die im Bereicherungswesen wichtig ist.

Dieses Buch mag für Wirtschaftler interessant sein. Ich musste aber etwa die Hälfte überblättern und kann deswegen nur 2 Sterne geben.

Bewertung vom 07.06.2019
Alles könnte anders sein
Welzer, Harald

Alles könnte anders sein


sehr gut

Gute Laune Buch für eine bessere Zukunft

Nun kann ich mir vorstellen, was sinnvoll ist. Meinem Problem, dass ich den derzeitigen Konsumismus ablehne, wird eine Alternative gegenüber gestellt: Soziale Beziehungen.

Es fängt an mit einer Flussfahrt auf der renaturierten Havel, dann folgen positive Beispiele des Fortschritts: sicherer Rechtsstaat, hohe Lebenserwartung, Rückgang der Armut, in Europa eine lange Friedenszeit, offene Gesellschaft, jeder eine zweite Chance.
Aber unsere Lebensweise ist nicht nachhaltig. Es fehlt nicht an Bildung.
Er geht zurück in die Moderne, wo es mit dem Fahrstuhleffekt für alle nach oben ging, aber auch alle sozial verankert waren (Kirchen, Gewerkschaften Vereine…). Gemeinsam war der Traum einer besseren Zukunft. Heute kann alles sofort befriedigt werden. Und die Klimakrise lockt auch nicht gerade. Träume werden eh nicht wirklich.
Mythen sind wichtig. So erlaubte der Mythos vom „Wirtschaftswachstum“ die Zerstörung der Natur. Ständige Benutzung des Smartphones lässt keine Zeit zum Träumen. Im Exkurs über die Milgram-Experimente mit Stromstößen wird gezeigt, wozu der Mensch fähig ist. Soziale Bindungen verhindern dies. In der Kindheit und in der Todesanzeige wird nicht erzählt, was der Mensch konsumiert hat, sondern welche Beziehungen er hatte.

Legosteine stehen für die Veränderung der Welt:
Wirtschaft ist Mittel zum Zweck. Mit Papst Franziskus fordert er eine Kindheit ohne Entbehrungen, während der Jugend seine Talente entfalten, einer rechtlich gesicherten Arbeit nachgehen kann und im Alter eine würdige Rente bekommt. Dazu gehört auch die Frage: Warum immer arbeiten?
Tom Sawyer lässt Kameraden einen Zaun streichen. Arbeit besteht darin, daß man etwas tun muß, Vergnügen, das ist, was man freiwillig tut. (vgl.S.114) Der Autor stellt fest, dass Sinn der Arbeit proportional zur Ausdehnung der Arbeitszeit schrumpft.(S.118) Die Vorstellung, dass Arbeit zu Tugendhaftigkeit führt, und Müßiggang schlechte Gedanken bringt, hat angefangen mit den Spruch der Benediktiner „Ora et labora!“ Natürlich muss nachhaltig gewirtschaftet werden.
Neben Autonomie (Oberst Stanislaw Petrow hat am 26.9.1983 autonom einen Atomkrieg verhindert) fordert er vom einzelnen Menschen auch Solidarität, wo er ein Experiment mit Theologie-Studenten erwähnt, die eine Predigt über das Gleichnis des barmherziger Samariter halten sollen. Die Hälfte von Ihnen übersieht aber einen Notleidenden. Ebenso wünscht er sich Beziehungen, Liebe, Freundlichkeit und Sinn. Auch soll die Zeit nicht nur mit Beruf und Konsum vertan werden. Ab einem gewissen Jahresgehalt nimmt das Glück nicht mehr zu. Kreuzfahrten dienen oft als Negativ-Beispiel: Zoe ist dort glücklich bis sie die Handy-Rechnung von 1852,65 € bekommt.
Unter Gerechtigkeit versteht der Autor auch ein zwischenstaatliches Gewaltmonopol. Dabei helfen Institutionen, die in einem zivilisatorischer Prozess entstanden sind. Das Gemeinwohl fördert ein öffentliches Schwimmbad, Bibliotheken, Busverbindungen, überhaupt die Infrastruktur.
In Sachen Mobilität und beim Thema Boden, Pässe, Grenzen belegt er, dass diese erst im 20 Jh. entstanden sind und fordert Verschiedenheit und Erfahrung.

Im Kapitel modulare Revolutionen (Heterotopie statt Utopie) ist Migration das schwächste Thema, da er sich nicht um Integration kümmert.
Gut gefällt mir Verkehrswende mit dem Traum der autofreien Stadt, das Arbeitsmodell mit bedingunslosem Grundeinkommen, 15 oder 20h-Woche und ein 80/20 Modell, d.h. nach 80% regulären Arbeit sind 20% ehrenamtliche Tätigkeit Pflicht. Man muss alle Kosten berechnen, auch wenn Transport teurer wird. Die Digitalisierung ist gut für schlechte Jobs. Aber der Mensch kann sich verschlechtern wie die neolithische Revolution zeige. Der reichste Mann der Welt träumt z.B. vom Auszug ins Weltall.
Bildung wird überschätzt.

Manchmal enden mir die Kapitel zu ironisch. Da das Migrationsthema nicht gut behandelt wird nur 4 Sterne. Gelungen fand ich die zahlreichen Exkurse.

g

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.