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Buchdoktor
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Deutschland
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Romane, Krimis, Fantasy und Sachbücher zu sozialen und pädagogischen Tehmen interessieren mich.

Bewertungen

Insgesamt 612 Bewertungen
Bewertung vom 04.01.2017
Zeit für Astronauten
Mohl, Nils

Zeit für Astronauten


sehr gut

Nils Mohl schließt seine in einer Hamburger Hochhaussiedlung spielende Vorstadttrilogie nach „Liebe“ und „Glaube“ nun mit dem Motto „Hoffnung“ ab. Im Viertel gibt es unverändert nur Cems Markt und ein Reisebüro. Einziges Kulturangebot bietet die Kirche. Im Pfarrbüro arbeitet inzwischen Edda, den Lesern vertraut aus den Vorgängerbänden; ihre Videothek hat sich längst überlebt. Neben der ebenfalls vertrauten Domino betritt der 15-jährige Kevin Körts die Bühne, der sein Image mit einem Hörgerät aufpoliert, obwohl er nicht hörbehindert ist. Körts liebt zum Ärger seiner Mutter die 5 Jahre ältere Domino und hat sich ein Geschäftsmodell zur Versorgung betagter Rentner aufgebaut. Damit scheint er direkt auf die schiefe Bahn zuzusteuern, obwohl der Einblick in die Schicksale anderer ihm auch guttut. Kevin braucht dringend einen Praktikumsplatz, besser noch einen Ausbildungsplatz; denn er will auf keinen Fall in der Nachtschicht einer Süßwarenfabrik landen wie sein Vater.

Um Domino rankt sich eine phantastische Geschichte. Sie will nach Sinillyk reisen, auf der Suche nach der ganz bestimmten Landschaftsszene auf einer Ansichtskarte. Die Ansichtskarte ist Dominos Schlüssel, um Bozorg zu finden. Bozorg soll in einer Urlaubsregion eine leer stehende und unwirklich wie das Weltende wirkende Ferienanlage renovieren. Das Zusammentreffen der drei jungen Leute an einem fiktiven Urlaubsort weckte bei mir die vage Hoffnung, dass Körts die Hochhäuser, die „Riegel“ seiner Kindheit, endgültig hinter sich lassen und Arbeit im Tourismus finden wird. Die Suche nach Personen und Lebenszielen hat etwas von einem Road-Movie. Die Sehnsuchtsorte des Buches könnten fiktive Schauplätze von Märchen oder Mythen sein, aber auch Verballhornung deutscher Pauschalurlaubsziele. Liest man Sinillyk rückwärts, lässt sich im Wort ein noch in den 70ern menschenleerer Strand entdecken, den inzwischen der Pauschal-Tourismus verschlungen hat.

Der dritte, unabhängige Band der Reihe berichtet die Ereignisse von 10 Tagen. Wieder wird im Text wie in Film oder Musikstück vor- und zurückgezappt. Bozorg trifft man auch in der Vergangenheit an; blickt in Dominos und Körts Zukunft, jeweils mit einem kurzen Schritt nur ein paar Wochen weiter und mit einem langen Schritt 40 – 60 Jahre später. - Das Bild der Astronauten stammt aus einer Therapiesitzung, steht hier aber auch für ein schwerelos schwebendes Ungeborenes im Mutterleib.

Nils Mohl zeigt junge Leute, die sehr erwachsen wirken und in ihrer Suche nach Lebenssinn und Arbeit mit Problemen Erwachsener zu kämpfen haben. Kevin wirkte allein durch die Anrede mit seinem Nachnamen „alt“ auf mich, so dass ich mir immer wieder ins Gedächtnis rufen musste, dass er noch Jugendlicher ist. Dass die Figuren durch den Blick voraus in meiner Vorstellung tatsächlich erwachsen werden, trägt stark zu dieser Wahrnehmung bei. Das Vor- und Zurückzappen im Leben der Figuren liefert alles andere als leichte Unterhaltungslektüre, lässt Mohls junge Darsteller aber auch nachhaltig in Erinnerung bleiben.

Bewertung vom 04.01.2017
Diese gottverdammten Träume
Russo, Richard

Diese gottverdammten Träume


ausgezeichnet

Hinreißender Provinzroman um einen ewigen Zauderer
Miles Roby hatte eine gehörige Distanz zwischen sich und seinen Heimatort Empire Falls in Maine gelegt, als er zum Studium aufs College ging. Dass Miles je wieder zurückkehren würde, hätte niemand im Ort erwartet. Doch als seine Mutter im Sterben liegt, bittet ihn Francine Whiting, zurückzukommen und vertretungsweise den Empire Grill im Ort zu übernehmen. Den Whitings gehört die halbe Stadt; doch mit dem wirtschaftlichen Niedergang ihrer Textil- und Papierfabriken ging es mit dem ganzen Ort bergab. Aus dem geplanten einen Jahr sind inzwischen 20 Jahre geworden. Miles ist nur Pächter des Diners; um jede noch so geringe Investition muss er mit der betagten Francine ringen. Das Lokal ist eine unscheinbare Laube, deren Wände jedes Mal eingedellt werden, wenn ein Gast zu forsch einparkt. Miles Traum wäre ein Restaurant mit Lizenz zum Alkoholausschank. Er müsste dann nicht jeden Abend grübeln, ob sich die Plackerei an diesem Tag überhaupt gelohnt hat und könnte endlich das Personal anständig zu bezahlen. Man fragt sich, warum Miles noch immer in Empire Falls feststeckt. Wartet er, dass sich seine Probleme von allein lösen, oder hat er sich hoffnungslos in Verpflichtungen gegenüber anderen verstrickt?

Auf den ersten Blick scheinen die Dinge in Empire Falls sehr übersichtlich zu sein. Miles müsste endlich mit Francine über die Zukunft des Diners sprechen, nach seiner Scheidung die Finanzen in Ordnung bringen und seine Wohnung entrümpeln. Bei Männern wie Miles heulen Frauen sich aus, aber sie verlieben sich nicht in gute Kumpels. Miles findet den Mut nicht zum ersten Schritt aus seinem Labyrinth. Er lässt sich von seinem trinkfreudigen senilen Vater immer wieder beklauen und streicht ehrenamtlich die Kirche, obwohl abzusehen ist, dass die Gemeinde bald keine Verwendung mehr für das Gebäude haben wird. Miles scheint viel zu gut für diese Welt und opfert sich für einen Deal auf, den der Leser erst allmählich durchschauen kann. Mit fortschreitender Handlung habe ich mich gefragt, wer sich für wen opfert und ob sich all das Aufopfern nicht als gewaltiger Irrtum herausstellen wird.

Derzeit ist Miles Tochter Tick die Leidtragende des Kleinstadtklüngels von River Falls. Weil sie gegen die exakt abgezirkelten Regeln des Datings verstoßen und sich von ihrem Freund getrennt hat, wird Tick aktuell von der Clique ihres Ex drangsaliert. Seit Tick sich im Urlaub auf Martha's Vineyard verliebt hat, ist sie dem Familientraum vom populären wie kostspieligen Urlaubsort an der Ostküste verfallen. Die Insel war in Miles Kindheit schon Sehnsuchtsort seiner Mutter Grace und könnte ihm nun einen Ausweg bieten aus dem ewigen Warten, dass sich seine Probleme von selbst lösen. Wenn das Wörtchen wenn nicht wäre ...

Mit wechselndem Focus und in mehreren Rückblenden entwirrt Richard Russo allmählich das erstickende lokale Netzwerk von River Falls, in das außer dem katholischen Pfarrer auch der Dorfpolizist, der Schuldirektor, ein elternloser Jugendlicher und Miles Schwiegermutter Bea eingebunden sind. Unterschiedliche Zeitebenen bleiben optisch klar voneinander getrennt; im ersten Satz jedes Kapitels wird sofort deutlich, auf welche Person und welchen Ort Russo gerade seinen Blick richtet. Die Tragik ungelebter Träume entfaltet Russo mit Wärme und nicht ohne Ironie. Seine Figuren sind hinreißend charakterisiert, ob es sich nun um Jugendliche oder demente alte Männer handelt. Ein Provinzroman, in dem der Autor stets alle Handlungsfäden im Griff hat und dessen Charme sich erst zögernd aufbaut.

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 04.01.2017
Ferne Verabredungen
Munro, Alice

Ferne Verabredungen


ausgezeichnet

Die Erzählungen dieses Bandes stammen aus Family Furnishings: Selected Stories, 1995-2014 Alfred A. Knopf 2014, zusätzlich ist von 1950 die kurze frühe Erzählung enthalten "Die Dimensionen eines Schattens", die hier auf Deutsch zum ersten Mal in Buchform erscheint. Deutsche Leser finden damit sechs längere Erzählungen Munros (50 bis 70 Seiten Umfang), von denen jede aus einem anderen in Deutschland erschienenen Erzählband stammt. Die Wahrscheinlichkeit, dass man noch nicht alle Erzählungen kennt, ist also hoch.
In "Jakarta" erzählt Munro von der Situation ihrer eigenen Frauen-Generation während die Kinder noch klein waren. Zwei Freundinnen beobachten andere Mütter und deren lautstarkes, demonstratives Muttersein. Sonje hat von ihrem Mann mitgeteilt bekommen, welche Romane sie als seine Ehefrau zu lesen hat und trägt ihre Pflichtlektüre brav mit an den Strand. Ohne Wissen ihres Mannes leistet sie sich allerdings den Luxus eines eigenen Geschmacks und liest zwischendurch Texte, die sie interessieren. Die Handlung spielt zur Zeit des Kalten Krieges, als die Bewertung von Ost und West, Gut und Böse nach einfachen Mustern erfolgte. Frauen sollten möglichst vor dem 25. Lebensjahr verheiratet sein und bald Kinder bekommen. Schwangere dagegen waren Kunden nicht zuzumuten und wurden zur freiwilligen Kündigung gedrängt.
In "Die Kinder bleiben hier" gibt der Schwiegervater seinem Sohn und der jungen Mutter Pauline seine Vorstellungen von Elternschaft vor. Brians und Paulines Urlaube mit den Eltern sind eine Fortsetzung von Brians Kindheit. Kritik am Großvater darf es nicht geben. Konflikte mit dem Sohn werden in dieser Familie nicht direkt und auf Paulines Kosten ausgetragen, Freiräume, die Pauline sich durch ihr Laientheaterspiel zu verschaffen sucht, vom Ehemann unsensibel zerstört. Pauline erlebt Liebe zu etwas und jemand Unvorsehbarem und opfert dafür ihre Kinder.
In "Hasst er mich, mag er mich, liebt er mich, Hochzeit" wird die verschachtelte Beziehung zwischen einem Paar erzählt, das Betrüger und Betrogener zugleich ist und eine sehr eigenartige Zweckbeziehung eingeht. ...
Mit Figuren, die aus dem Krieg zurückkehren oder von der Wirtschaftskrise betroffen sind, lassen sich einige Geschichten Munros der Zeit des Zweiten Weltkriegs und der unmittelbaren Nachkriegszeit zuordnen. Während Männer im Krieg sind, müssen Frauen sich nicht für ihr Alleinleben oder ihr Selbstbewusstsein rechtfertigen und haben die Chance, Neues zu riskieren. Auch Heimkehrer (wie in "Zug") nutzen die Möglichkeit zum Neuanfang mit einer neuen Identität.
Munros frühe Erzählung "Die Dimensionen eines Schattens" erzählt von einer besonderen Beziehung zwischen einer Lehrerin und ihrem Schüler - und lohnt sich unbedingt zu lesen.
Munros Themen sind Lebensverhältnisse kanadischer Frauen und Mädchen in den 50ern bis 70ern. Mit fein beobachteten Alltagszenen wirft die Autorin die Frage auf, welche Zugeständnisse Frauen für ihre Vorstellung von Glück machen, was sie aufgeben für Vernunftbeziehungen, mit denen sie ihren Unterhalt und die Versorgung ihrer Kinder sicherstellen. Aufbruch, Trennung und Neuorientierung waren in den 60ern und 70ern charakteristische Themen.
Alice Munro erzählt auf wenigen Seiten ein ganzes Leben, hat Jonathan Franzen treffend über seine kanadische Kollegin festgestellt. Wer sich intensiv mit Munros Werk befasst, wird darin als biografischen Bezug zu ihrem eigenen Leben die unangepasste Frau finden, um die wegen ihres Schreibens oder ihrer nicht rollenkonformen Interessen befürchtet wird, dass sie keinen Mann finden wird. Für die biografischen Bezüge muss man sich nicht interessieren; meine Lektüre der Erzählungen Munros haben diese Verknüpfungen in Wozu wollen Sie das wissen?: Elf Geschichten aus meiner Familie erheblich bereichert.

Bewertung vom 04.01.2017
Lonely Planet Reiseführer Portugal

Lonely Planet Reiseführer Portugal


sehr gut

2. Auflage 2014

Gliederung
Der Lonely Planet Reiseführer Portugal ist übersichtlich in vier Kapitel (Reiseplanung, Reiseziele, das Land verstehen, Praktische Informationen) gegliedert, stets geordnet vom Wichtigen zum Ausführlichen und mit leichtem Zugriff über ein Daumenregister am seitlichen Schnitt. Ungewöhnlich wie praktisch: die allgemeinen Reiseinformationen stehen weiter hinten im Buch. Die Aufteilung des Reiseteils ähnelt einem mit Symbolen klar gegliederten Hotelführer. Die Bedeutung der Symbole findet sich im vorderen Buchdeckel.

Die erste Orientierung bietet eine farbige Übersichtskarte, die direkt zu 13 ausgesuchten Reisehöhepunkten für unterschiedliche Interessen führt. Dazu gehören Porto, Coimbra, Sintra, Lissabon, Évora und Cabo de Sao Vicente. Auf diese Höhepunkte folgen Portugals Top 25 aus Stadt und Land. Ausgewählte Touren mit einer Dauer zwischen 10 Tagen und 3 Wochen führen in den Süden, an die Atlantikküste oder von Lissabon aus ins Landesinnere. Zu den einzelnen Regionalkapiteln führen jeweils das Daumenregister und eine Übersichtsseite.

Inhalt
Die stets übersichtlichen Kapitel mit Landkarten, Stadtplänen, Stadtrundgängen informieren über öffentliche Verkehrsmittel, Unterkunft, Restaurants, Events, Shoppen, Sport, Wandern und zahlreiche Spezialthemen. Verschiedenste Interessen werden berücksichtigt, wie das Reisen mit Kindern, das noch ausbaufähig wäre. Generell finden malerische Orte abseits ausgetretener Pfade und das Erleben der Natur viel Raum, leider aber auch kommerzielle Tour-Angebote. Positiv aufgefallen sind mir der kritische Blick auf die Lebensbedingungen im Land, auf ökologische Folgen des Tourismus und schließlich die Aufforderung, nicht nur die Touristenzentren zu besuchen, sondern das gesamte Land zu entdecken.

Unter Portugal verstehen kann man sich weiter hinten im Buch in Geschichte, Kultur und Religion des Landes vertiefen, findet Informationen zu Kultur, Sport, Natur und Umwelt, interessante Statistiken (auf dem Stand von 2013), Tipps zu Romanen und Filmen.

Fazit
Der Lonelyplanet präsentiert sich als umfangreiches Infopaket mit ausführlichen und vielfältigen Hintergrundinformationen. Die Gliederung ist von anderen Bänden der Reihe vertraut übersichtlich, allerdings sind die Kontraste im Layout und bei Karten und Plänen durch die blassen Blautöne sehr schwach.
Wer es kürzer, aktueller und mit attraktiverem Kartenmaterial mag, sollte sich den Baedeker SMART Reiseführer Portugal ansehen, der gerade von einem Teil der Familie vor Ort getestet wurde.

Bewertung vom 04.01.2017
Bobby (eBook, ePUB)
Joyce, Eddie

Bobby (eBook, ePUB)


sehr gut

Sehr emotionaler Familienroman und Denkmal für im Einsatz vermisste Feuerwehrleute
Zu Bobby juniors Geburtstag wird die gesamte Familie Amendola zusammentreffen. Sein Vater, Bobby senior, ist als Feuerwehrmann beim Anschlag auf das World Trade Center ums Leben gekommen. Seitdem hat Tina Amendola mit Unterstützung ihrer Schwiegermutter ihre Kinder allein erzogen. Nach langer Trauerphase ist Tina frisch verliebt und will vor dem geplanten Kindergeburtstag Gail endlich diese Nachricht anvertrauen. Schlimmer noch als das Gespräch mit Gail wird das mit Bobbys Bruder Franky für Tina sein. Dass Wade, Tinas Neuer, ein guter Freund von Bobbys Bruder Peter ist, bringt alte Familiengeschichten und alte Schuldgefühle innerhalb des Amendola-Clans zum Vorschein. In Rückblenden in die Kindheit der Brüder Amendola und in die ersten Ehejahre von Gail und Bobby senior entfaltet Eddie Joyce die Geschichte einer irisch-italienischen Einwanderer-Familie. Zugleich erzählt er von New Yorks fünftem Stadtteil Staten Island, der von Manhattan aus gesehen stets leicht hochnäsig als provinziell betrachtet wurde. Gail, die selbst aus einer irischen Familie stammt, hat sich durch die enge Beziehung zu ihrer eigenen Schwiegermutter zu einer klassischen italienischen Mama entwickelt, vermutlich emotionaler und italienischer als eine Italienerin je sein könnte. Die Brüder Amendola verkörpern fast lehrbuchhaft unterschiedliche Typen innerhalb einer Geschwisterreihe: Peter, der immer von der Insel fort wollte und Karriere in einer angesehenen Kanzlei in Manhattan macht, Bobby, der beruflich dem Vater nacheifert und zu Gails Befriedigung auf der Insel bleibt, und schließlich Franky, das ewige Sorgenkind, das unter die Räder geraten ist.

Eddie Joyce wählt hier seinen eigenen Stadtteil als Schauplatz und zoomt in das Leben einer italienischen Familie nach 9/11, wie sie nicht typischer für New York sein könnte. Psychologisch höchst interessant, wie das Familiengefüge durch Bobbys Tod wegbricht und wie erst sein Tod ein Nachdenken ermöglicht, inwieweit die Eltern Amendola Schuld am Schicksal ihrer Söhne tragen könnten. Eine italienische Matriarchin kann nur schwer ohne stereotype Wirkung auftreten - und der Roman kommt nicht ohne typisch amerikanisches Pathos aus. Als Denkmal für im Einsatz vermisste Feuerwehrleute und als Roman Staten Islands ein gelungenes Buch.

Zitat
"Die Farbe der Nacht geht von Schwarz in dunkelstes Blau über. Der Morgen gaut. Der Tag wird erst über Long Island anbrechen und auf dem Weg über die Stadtbezirke zuletzt Staten Island erreichen. Ihr Blick richtet sich auf die Insel, die noch in tiefem, wisperndem Dunkel liegt. Der einzige Fleck, der für sie jemals Zuhause war. Sie wünschte, sie könnte das Morgengrauen aufhalten, das Licht daran hindern, die Verrazano[-Bridge] zu überqueren, den Tag aufhalten und die unvermeidliche Traurigkeit, die er allen bringen würde, die sie liebt." (Seite 70)

Bewertung vom 04.01.2017
Augustas Garten
Heuser, Andrea

Augustas Garten


ausgezeichnet

Augustas Mutter ist mit ihrer fünfjährigen Tochter zu einem neuen Partner gezogen. Auf Fragen, wann Augusta wieder in ihr vertrautes Zuhause ziehen und wann sie ihren Vater wiedersehen wird, antwortet die Mutter ausweichend 'bald'. Über ihre Beziehung zu Eduard hüllt sie sich in Schweigen, zumindest kommt bei Augusta nichts darüber an. Bei Eduard soll das kleine Mädchen sich anpassen, respektvoll und leise sein. Augusta fühlt sich in seinem Haus nicht wie ein Kind, eher als Besuch. Die Beziehung der Erwachsenen schließt Augusta und ihre Gefühle aus. Eduard wirkt geradezu altmodisch streng. Moralischer Druck - aus Richtung von Augustas Mutter - ist spürbar, dass Augusta doch möglichst Eduard in die Kirche begleiten sollte, selbst wenn die Mutter das nicht tut. Die Kleine sieht nur einen Ausweg, sie erträumt sich einen Fantasiegarten und schafft sich einen imaginären Freund, der in diesem Garten lebt.

Der Focus der Geschichte richtet sich auf Denken und Fühlen einer Fünfjährigen, der nicht erklärt worden ist, warum ihre Eltern sich getrennt haben. Doch bald wird deutlich, dass die Eltern Barbara und Andreas beide während des Zweiten Weltkriegs geboren und Kinder von Kriegsteilnehmern sind. Ihre Väter haben die Kriegserlebnisse in sich verschlossen, kannten vermutlich auch keinen anderen Weg der Verarbeitung. Die folgende Generation lernte in der Nachkriegszeit nur strenge, hart strafende Väter kennen und Mütter, die dazu schwiegen. Sie selbst haben als Kriegskinder den Umgang mit ihren Gefühlen und Enttäuschungen nicht gelernt und erziehen nun eine neue Generation von Kriegsenkeln. Dass Andreas auf der Suche nach seinem im Krieg verschollenen Vater ist, erfährt Barbara nur zufällig, gesprochen wird über ihre Familiengeschichten offenbar nicht. Den Kontakt zu ihren eigenen Empfindungen als Kind hat Barbara verloren; denn auch sie hat sich als Kind ungerecht behandelt gefühlt. Augusta durchbricht die sich abzeichnende Wiederholung des Familienschicksals. Sie fühlt sich bei Eduard und ihrer veränderten Mutter nicht willkommen - und darüber hinaus von Mutter Barbara belogen. Mit kleinem Gepäck macht sie sich auf den Weg zu ihrem Vater und setzt damit eine dramatische Entwicklung in Gang.

In ihrem bewundernswerten Einblick in die Gefühlswelt einer Fünfjährigen lässt Andra Heuser ihre Leser mit Augusta und wie Augusta fühlen. Die zeitlose Geschichte eines aus seiner vertrauten Umgebung herausgerissenen Kindes zeigt beispielhaft, wie Sprachlosigkeit und fehlende Einfühlung in andere über Generationen weitergegeben werden kann. Die Sprache hat mich nicht vollständig überzeugt, sie könnte - harmonierend mit Augustas gradlinigen Gedanken - an einigen Stellen knapper sein. Inhaltlich ein großartiges Porträt einer Fünfjährigen.

Bewertung vom 04.01.2017
Septembermeer
Jaskulla, Gabriela

Septembermeer


sehr gut

Atmosphärisch eindringlich - und ohne Hauptfigur
Svea und Daniel haben das getan, von dem viele träumen, ihr Leben in der Stadt aufgegeben, um auf eine kleine Ostseeinsel zu ziehen. Daniel übernimmt eine dort bestehende Buchhandlung und Svea sucht eigene Wege. Das Paar pflegt eine recht eigenwillige Beziehung, in der Svea sich kleiner und unselbstständiger macht als sie ist. Beide Partner halten sich jeweils für einen guten Menschenkenner, wenn nur der andere das endlich anerkennen würde. Die Inselbewohner - wen wundert es - sind überzeugt, dass "Neue" keine Ahnung haben und Jahre brauchen werden, bis sie sich in das Inselleben einfügen. Man braucht sich gegenseitig auf der Insel und hilft sich in der Not, sollte jedoch durch kluge Distanz die Beziehungen langfristig erhalten, damit man sich nicht eines Tages hasst. Auch früher muss die Insel schon Fluchtpunkt für Unangepasste gewesen sein. Die Insel ist noch deutlich durch ihre DDR-Vergangenheit geprägt, eine interessante Kombination aus Systemwechsel und Strukturproblemen, die andere ländliche Gebiete ebenso kennen. Über die Fischer, den Bäcker, die Lebensmittelhändler, den ehemaligen Tierarzt weiß Gabriele Jaskulla sehr einfühlsam zu erzählen. Ein Heimatdichter, dessen Nachlass auf der Insel gepflegt wird, gibt der Geschichte ein kulturelles Fundament. Svea und Daniel sind nur ein Paar unter weiteren handelnden Personen, Paare, Eltern und Kinder, erwachsene (alte) Freundinnen, Kollegen agieren zu zweit und in Gruppen. Schließlich sorgt eine sonderbare Gestalt für Aufruhr im Ort, die ein sehr persönliches Schicksal trägt, das weit in die DDR-Zeit zurückreicht.

Die Leseprobe zu Gabriele Jaskullas zweitem Ostsee-Roman hat mich sofort für das Buch eingenommen. Eine Handlung am Meer, ein Buchhändler-Paar als Aussteiger und der wirtschaftliche Hintergrund einer Region, in der in drei Monaten Touristensaison das Jahreseinkommen erwirtschaftet werden muss - all diese Themen interessieren mich. Bei Lesern der Ostseeliebe wird dieser Band sicher Erfolg haben.

Das Eingangsszenario der peinlichen Havarie mit Sveas und Daniels Boot bleibt ebenso wie die Buchhandlung leider nur Kulisse der Handlung, die sich stark auf die Beziehungsebene konzentriert. Wie schon in Ostseeliebe nimmt die Autorin sehr viele Handlungsfäden auf, die jedoch an der Oberfläche bleiben. Im Gegensatz zur stimmungsvollen Herbst- und Winter-Atmosphäre am Meer und den feinen Tönen des Zwischenmenschlichen hapert es im Buch an präzise formulierten und sachlich korrekten Schilderungen technischer Abläufe, sei es das Funktionieren eines Leuchtturms, das Wechseln eines Kameraobjektivs oder der Alltag in einer Buchhandlung. Ob Daniel gelernter Buchhändler ist oder ein Aussteiger, der sich den Beruf später aneignet, bleibt offen. Die Figur Daniel leidet jedoch unter einer Erzählerstimme, die Daniels Arbeitsalltag nicht glaubwürdig schildert. Neben der Korrektur an Kleinigkeiten wie Svea, die ein Boot bezahlt hat_ , dessen Eigner nach einem Drittel des Buches dann (für mich) überraschend Daniel ist, hätte der Roman ein Lektorat verdient, das konsequent alle Themen kürzt, die weder Autorin noch Lektorin präzise schildern können.

Bewertung vom 04.01.2017
Das Labyrinth
Eklund, Sigge

Das Labyrinth


sehr gut

Als die elfjährige Magda verschwindet, verdächtigt die Polizei zunächst die Eltern des Mädchens. Der geheimnisvolle Unbekannte als Täter wäre in der heimeligen Wohngegend reichlich unwahrscheinlich. Åsa und Martin sind keine einfachen Menschen. Sie geht in ihrer Arbeit als Psychologin in einer Klinik auf, er ist erfolgreicher Programmleiter eines Verlages. In ihrer Beziehung hatte es in letzter Zeit gekriselt und über Magdas Erziehung gab es schon immer Auseinandersetzungen zwischen den Eltern. Solange die Polizei am Vater als Hauptverdächtigem festhält, wird der wahre Täter nicht gefunden, befürchtet die Mutter des Mädchens. Åsa hält es anfangs für denkbar, dass einer ihrer Patienten mit Magdas Verschwinden zu tun haben könnte. Im Zeitalter Sozialer Medien sind die betroffenen Eltern längst zum Besitz der Öffentlichkeit geworden, die jede Regung intensiv diskutiert. Åsa ist in einer Person Zeugin, betroffene Angehörige und als Psychologin Expertin für die Dynamik der Ereignisse. Von beiden Eltern konnte ich mir anfangs vorstellen, dass das Verschwinden Magdas ein Racheakt einer gekränkten Person an einem von ihnen sein könnte, mit der es zuvor einen Konflikt gab.

Im Focus des Romans stehen nun vier erwachsene Personen und deren Beziehungen untereinander. Åsa und Martin als Eltern, an Magdas Schule die Schulkrankenschwester Katja und deren Partner Tom, der für Martin Horn arbeitet. Auch die Beziehung zwischen den beiden Männern ist nicht gerade unkompliziert. Es finden keine polizeilichen Ermittlungen am Tatort statt, keine Suche nach Motiv, Gelegenheit und Tatwaffe. Es geht hier allein darum, wer diese Vier sind, aus welchen Motiven sie handeln und was jeder von ihnen von sich preisgibt. In einem raffiniert verschlungenen Plot und mit einigen Zeitsprüngen erfährt man als Leser aus den Vorgeschichten der Beteiligten wenig beruhigende Details, Details - die der Polizei nicht bekannt sind. Am Ende ist zwar ein Bild der Vorgänge entstanden, das jedoch nicht unbedingt als Lösung des Falls anzusehen ist.

„Das Labyrinth“, bescheiden als Roman bezeichnet, hat durchaus Merkmale eines Psychothrillers. Den Einblick in bisher sorgsam verborgene Züge der Figuren fand ich nicht gerade zum Nägelkauen spannend, jedoch psychologisch interessant genug, um das Buch in einem Zug auszulesen.

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 04.01.2017
Die Verwandlung des Schmetterlings
Axat, Federico

Die Verwandlung des Schmetterlings


gut

Der letzte Sommer vor der Pubertät ... ein Roman mit Perspektiv-Problemen
Die Person, die in Rückblicken die Geschichte der 12-jährigen Freunde Sam, Billy und Miranda erzählt, ist in der Gegenwart Ende 30 wie der Autor Federico Axat. Im legendären letzten Sommer vor dem Erwachsenwerden der Clique wollen die Freunde das rätselhafte Verschwinden von Sams Mutter aufklären und weitere damit verknüpfte unheimliche Vorkommnisse im Ort. Miranda ist mit ihren Eltern gerade frisch in das Haus ihrer Großeltern gezogen, das jahrelang leer gestanden und die Einwohner zu fantastischen Geschichten angeregt hatte. Sam verliebt sich sofort in Miranda und hinterlegt ihr anonym ein Geschenk.

Mehr als 10 Jahre vorher hatte Sam als Kleinkind mit in dem Auto gesessen, mit dem seine Mutter verunglückte. Eine Leiche wurde nicht gefunden, so dass das Unfallopfer theoretisch noch leben könnte. Da Sams Vater unbekannt war, kam das Kleinkind als eins der 14 Pflege- und Adoptivkinder einer Bauernfamilie auf deren Hof in Carnival Falls, wo Gemüse angebaut wird. Über den Kindern schwebt stets die Drohung, dass es als letzten Schritt nach diesem Hof nur das staatliche Waisenhaus geben wird, falls sie etwas anstellen sollten. In der Pflegefamilie hat Sam einen äußerst aggressiven Gegenspieler, Orson, der mit allen Mitteln versucht, Sam zu drangsalieren und in ein schlechtes Licht zu stellen. Mehr als die bevorstehende Pubertät beschäftigen Sam das unheimliche Haus der Mathesons, seine heimliche Liebe zu Miranda, Orsons Mobbing-Kampagne und das rätselhafte Verschwinden seiner Mutter.

Hätte ich den Prolog des Buches vorher als Leseprobe lesen können, hätte ich das Buch sicher nicht angefordert. In der ersten Hälfte des Romans trifft der erwachsene Erzähler m. A. sprachlich nur selten die Perspektive eines Kindes. Die Wortwahl klingt in den Dialogen übertrieben erwachsen, zu verschnörkelt bis gestelzt für ganz normale Menschen und 12-jährige Kinder. Dass ein Einjähriges (!) seine Erinnerung an seine Mutter mit „sie ist wunderschön“ ausdrückt, finde ich selbst aus der Rückschau des Erwachsenen nicht nur unglaubwürdig, sondern übelst kitschig. Dem erwachsenen Erzähler gelingt es m. M. anfangs nicht, mit der Urteilsfähigkeit der Gegenwart seine Gefühle als 12-Jähriger glaubwürdig zu beschreiben. Die zweite Hälfte, die mit einem Paukenschlag endet, fand ich sprachlich überzeugender. Atmosphäre der USA in den 80ern fand ich im Buch kaum vor, die Geschichte könnte irgendwo spielen. Zum Thema letzter Sommer à la Stand by Me gibt es eine Reihe von überzeugenderen Büchern (Wer hat Angst vor Jasper Jones, Der dreizehnte Monat), an die Die Verwandlung des Schmetterlings atmosphärisch nicht heranreicht.

Bewertung vom 04.01.2017
Die Jupitermonde
Munro, Alice

Die Jupitermonde


ausgezeichnet

Als es noch alte Jungfern gab ... Neuübersetzung des Erzählbandes von 1986
Im neu übersetzten Band (1986 bereits als Klett Cotta Ausgabe erschienen) zeigt Alice Munro pointiert das Frauenbild um 1980, der Entstehungszeit dieser Texte. Im Frauenbild scheint sich seit der Vorkriegszeit wenig verändert zu haben. Frauen erlebten sich damals noch als Besitz ihrer Ehemänner, die sie erst formten und erzogen und sich ihrer Geschöpfe wieder entledigten, wenn diese Erziehung nicht zu ihrer Zufriedenheit ausfiel. Das Motiv des Entledigens von einer alternden oder zu unabhängigen Frau durchzieht den gesamten Band. Der Zusammenhang zum Lebensentwurf der Autorin ist nicht zu übersehen, die selbst anderes im Leben erstrebte, als an Kaffeeeinladungen teilzunehmen.
Der Zwang, sich ein für alle Mal zwischen Ehe und Berufstätigkeit plus Unabhängigkeit entscheiden zu müssen tritt hier zugleich mit dem Bild der unverheirateten Frau als „alte Jungfer“ auf. In „Die Chaddeleys und die Flemings“ bilden unverheiratete Schwestern und Kusinen in beiden Familienzweigen eine starke Hausmacht. Für die Erzählerin sind die Kusinen der Mutter das Fenster zu einer fernen Welt, in der die Tanten auf bewundernswerte Weise zurechtkommen. Die Mutter als einzige verheiratete Frau einer ganzen Generation könnte von der Mehrheit der Tanten durchaus zu bemitleiden sein. Ihre Ehe samt Pflicht zum Gehorsam und zur Arbeitsleistung für den Ehemann kann als Abstieg angesehen werden. In dieser Familie treffen Welten aufeinander, zwischen denen es nur wenig gemeinsame Gesprächsthemen gibt, unterlegt von dezent verborgenem Neid aufeinander. Auch in „Bardon Bus“ geht es um das Thema der alternden unverheirateten Frau.
In „Dulse“ sinniert die ungefähr 45-jährige Lektorin Lydia über ihre abnehmende Attraktivität für andere, verbunden mit Existenzängsten ihres Berufsstands. Ihr Partner fordert Anpassung, zu der sie nicht bereit zu sein scheint. Die Schuld für ihr Beziehungsproblem sucht Lydia in ihrem beruflichen Ehrgeiz. Wäre sie glücklicher, wenn sie nicht studiert und die elterliche Farm nie verlassen hätte? „Die Putensaison“ und „Unfall“ spielen in den 40ern, als bereits viele kanadische Männer im Zweiten Weltkrieg kämpften.
Zwei betagte Freundinnen treten in „Mrs Cross und Mrs Kidd“ auf, die sich kennen, seit sie Kleiderschürzen und dicke Zöpfe trugen. Obwohl gesundheitlich angeschlagen, haben beide noch etwas in petto und zumindest eine geht dabei nicht unbedingt zartfühlend vor. Je oller, je doller.
In der Einleitung (1985) äußert sich Alice Munro über das Erzählen als Teil ihrer selbst, der mit dem Abschluss einer Erzählung von ihr getrennt wird und sie damit befreit. Sie berichtet, dass sie in ihren Kurzgeschichten persönliche Erfahrungen und Beobachtungen mit biografischen Anteilen verknüpft.
Alice Munros Produktivität überrascht mich immer wieder. Ihre feinsinnigen Beobachtungen des Alltags von Mädchen und Frauen drehen sich immer wieder um Liebe, Ehe und den profanen Lebensunterhalt. Auch nachdem ich die biografischen Bezüge zum Leben der Autorin entdeckt habe, werden mir Munros exakte Beschreibungen alltäglicher Ereignisse nie langweilig. Sie schreibt so überzeugend, weil sie die Menschen durchschaut, bevor ihre Figuren das selbst tun.