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Bories vom Berg
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Bewertungen

Insgesamt 832 Bewertungen
Bewertung vom 31.08.2018
Kudos
Cusk, Rachel

Kudos


sehr gut

Selbstoffenbarungen

Der englischen Schriftstellerin Rachel Cusk, die 1993 ihren ersten Roman veröffentlicht hat, ist der literarischer Durchbruch erst recht spät mit einer Romantrilogie gelungen, deren letzter, völlig eigenständig lesbarer Band «Kudos» jetzt auf Deutsch vorliegt, sie gilt damit auch hierzulande als innovative literarische Entdeckung. Gemeinsam ist diesen stark autobiografisch geprägten drei neuen Romanen die Erzählperspektive einer als Alter Ego der Autorin angelegten, schweigend im Hintergrund bleibenden Protagonistin. Faye, eine geschiedene Schriftstellerin mittleren Alters (sic!), befindet sich auf einer Promotiontour durch Europa, um ihr neues Buch vorzustellen. Ihre Rolle bei den verschiedenen Begegnungen, die sie auf dieser Reise hat und die im Wesentlichen den Inhalt dieses Buches ausmachen, beschränkt sich ziemlich einseitig auf das bloße Zuhören, ganz selten spricht sie auch mal selbst. Diese praktisch handlungslose, originelle Erzählform einer akribischen, fast schon simultanen Protokollierung der Erzählungen von Alltagsproblemen unterschiedlichster Figuren wird, ihrer narrativen Radikalität wegen, im englischen Sprachraum, vor allem in den USA, hoch gelobt. Zu Recht?

Der Reigen von Monologen jener Leute, denen Faye begegnet und die ihr ungeniert und freimütig, zuweilen geradezu zwanghaft aus ihrem Leben erzählen, beginnt mit dem Sitznachbarn im Flugzeug, ein Riese mit Problemen, seine langen Beine in dem engen Flugzeug irgendwie unterzubringen, - normalerweise fliege er Business-Class, erklärt der Geschäftsmann entschuldigend. Im Nu beginnt er eine Erzählung über seinen Beruf, seine Familie, den großen Hund, den er angeschafft habe als Kompensation für seine geschäftsbedingt häufige Abwesenheit von zuhause. Kurz vor einer gemeinsamen Reise der Familie sei der Hund plötzlich krank geworden, Diagnose Krebs im Endstadium. Er habe die ahnungslose Familie vorgeschickt, den Hund dann, mit schlechtem Gewissen den Seinen gegenüber, einschläfern lassen und äußerst mühsam nachts im Garten vergraben. Voll verdreckt habe er dann schnell geduscht und sei gleich anschließend zum Flughafen gefahren, um der Familie nachzureisen. Nachdenklich seine gepflegten Hände betrachtend fügt er am Ende überraschend hinzu: «Nur den Dreck unter meinen Fingernägeln, den habe ich nicht weggekriegt».

Fayes Reise zu zwei Literaturfestivals dient ihr persönlich auch zur Bewältigung eigener Probleme, sie möchte Abstand gewinnen zur privaten Katastrophe und hofft außerdem endlich auf Anerkennung als Schriftstellerin. Die zeitnahe Thematik dieser einer Beichte ähnelnden Berichte beschäftigt sich aus femininer Sicht vor allem mit dem schwierigen, oft kämpferischen Verhältnis der Geschlechter zueinander sowie der fatalen Brüchigkeit ihrer Partnerschaften. Den Leser erwarten aber auch interessante Einblicke in den Literaturbetrieb, von der Angst der Autoren vor dem leeren Blatt über die Szene der Verleger bis hin zu Feuilleton und Leserschaft. Der dem Griechischen entlehnte, ironisch gemeinte Buchtitel bedeutet Ruhm, wozu dann auch der oft unverhohlen satirische Ton dieser feinsinnigen Branchenschelte passt, - die aber durchaus auch lehrreich ist. Faye erlebt redselige Kollegen, die geradezu obsessiv merkwürdigste Ansichten vertreten, sie wird interviewt und kommt dabei selbst nicht ein einziges Mal zu Wort, sie nimmt an Gesprächsrunden teil, in denen niemand ihr wirklich zuhört.

Die Stärke der Autorin liegt in der messerscharfen Beobachtung subtilster Erscheinungen und irrelevanter Begebenheiten, die sie psychologisch stimmig und äußerst geschickt in ihre monologisch angelegten Selbstoffenbarungen einbaut. Sprachlich gekonnt benutzt sie bei ihrer auf Einseitigkeit beharrenden Erzählkonstellation zumeist die Form des Zitats, selten die direkte Rede, aber auch eine Mischform von beiden. Rachel Cusk hat damit literarisch ihren ganz eigenen Stil kreiert, der ebenso bereichernd ist wie die Geschichten, die er transportiert.

Bewertung vom 28.08.2018
Bei Regen im Saal
Genazino, Wilhelm

Bei Regen im Saal


gut

Die Romanhaftigkeit des Lebens

Das Markenzeichen des Büchner-Preisträgers Wilhelm Genazino ist ‹der gedehnten Blick›, den er in seinem gleichnamigen Essay konkret beschrieben hat und der auch den Roman «Bei Regen im Saal» prägt. Gemeint ist damit eine zeitlich gedehnte, intensive Wahrnehmung auch kleinster, banaler Details des Alltags. Erst bei längerer Betrachtung erschließe sich «die Tiefendimension eines Gegenstandes oder einer Situation», und damit verliere sich auch das Triviale, hat er im Interview erklärt. Ein weiteres Merkmal seiner Prosa ist der elegische, resignative Grundton, die Protagonisten sind misanthropische Antihelden, das Milieu ist durch die «kleinen Leute» gekennzeichnet im Kampf mit dem alltäglichen Wahnsinn unserer immer komplizierter werdenden, modernen Zeit.

Der erst ganz am Ende als Reinhard ‹benamste› Ich-Erzähler ist ein 43jähriger, promovierter Philosoph, ein Verlierertyp, der sich mit Gelegenheitsjobs durchs Leben schlägt und schließlich als Redakteur bei einer Lokalzeitung landet. Als unverbesserlicher Eigenbrötler wohnt er im Chaos seiner spartanisch möblierten, verschmutzten Wohnung, ein schlecht gekleideter, schlecht rasierter, schmuddeliger und ungepflegter Mann. Er ist antriebslos und verrichtet seine Arbeit gleichgültig, ohne jeden Ehrgeiz. Seinem tristen Zuhause, seiner ereignislosen Existenz entflieht der Flaneur durch häufige Streifzüge durch die Stadt, er beobachtet dabei mit scharfem Blick sein ihm immer unverständlicher werdendes, urbanes Umfeld. Einziger Lichtblick in seinem ansonsten bindungsarmen Leben ist seine Freundin Sonja, eine dralle Finanzbeamtin, mit der er ein äußerst erfülltes Sexualleben führt. Der auch vom Aussehen her wenig attraktive Mann mit seinen Marotten ist ein ausgesprochener Busenfetischist, BHs und Brüste üben eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf ihn aus. Und erstaunlicher Weise machen ihm viele Frauen recht deutlich Avancen, weil sie seine Begehrlichkeit spüren, er aber weicht dem immer aus, seine eh schon schwach ausgeprägte Bindungsfähigkeit lässt ihn vor flüchtigen Affären zurückschrecken, seine Liebe gilt allein Sonja.

Eine Handlung ist in diesem kurzen Roman kaum auszumachen, das Wenige davon hier auszuplaudern wäre unfair, denn eine gewisse Spannung ergibt sich trotzdem, - es geht ja schließlich um Liebe, und die ist immer für Überraschungen gut! Die Geschichte als Ganzes lebt von den als Gedankenstrom erzählten Grübeleien und inneren Monologen des ewigen Flaneurs, den jede noch so kleine Begebenheit interessiert und oft zu abseitigen, philosophischen Betrachtungen animiert. Das Große im Kleinen zu erkennen, die tiefere Bedeutung auszuloten ist das erklärte Anliegen des Autors. Wobei politische, religiöse, ökonomische oder soziologische Aspekte ausgeklammert bleiben, das alltäglich Banale des menschlichen Seins steht im Fokus, hinzu kommen gelegentlich auch Beobachtungen in der Natur. Als Ergebnis solcher Selbstreflexion, als Extrakt dieser willkürlichen, sprunghaften Denkprozesse ergeben sich dann häufig völlig absurde, eigenwillige Einsichten und skurrile Assoziationen.

Wilhelm Genazino überrascht seine Leser zuweilen mit gelungenen Wortschöpfungen in einer angenehm lesbaren, den narrativ vorherrschenden Bewusstseinsstrom stimmig abbildenden, schnörkellosen Sprache. Zu der allfälligen Kritik an seinen handlungsarmen Plots hat der sich selbst als randständig verortende Schriftsteller in einem Interview angemerkt: «Denn unter den Lesern sind natürlich auch sehr viele, die nicht die entsprechende Muße aufbringen und stattdessen mehr Action wollen. Für diese Leser muss es viel mehr vordergründige Handlungsmuster geben, da müssen irgendwelche Scheidungen stattfinden und Liebesabenteuer usw. Wenn das nicht stattfindet, dann legen diese Leser so ein Buch wie eines von mir schnell beiseite und sagen: ‹Ach, wie langweilig›!» Die Romanhaftigkeit des Lebens ist selten actionreich, das wird beim Lesen dieses Romans sehr deutlich.

Bewertung vom 27.08.2018
Phantome
Prosser, Robert

Phantome


weniger gut

Titos Erben

Mit den ethnisch-religiösen Säuberungen im Verlauf des unsäglichen Jugoslawienkriegs hat sich der österreichische Schriftsteller Robert Prosser an ein Thema gewagt, das literarisch bisher kaum beachtet wurde. «Phantome» lautet der kryptische Titel seines Romans. Es sind jedoch keine Trugbilder, die da thematisiert werden, sondern die inzwischen fast vergessenen Gräuel eines so in Europa nicht mehr für möglich gehaltenen Gemetzels unter den Balkanvölkern. Die dadurch ausgelöste Flüchtlingswelle findet in der aktuellen Flüchtlingsproblematik ihr Pendant, dieser Roman passt mit seiner Thematik als Mahnzeichen also bestens in unsere Gegenwart. Wird er seinem Thema auch narrativ gerecht, ist nach der Longlist-Platzierung 2017 die Frage.

Der dreiteilig aufgebaute Roman erzählt im ersten Teil von einem namenlos bleibenden, jungen Wiener Graffitisprayer, der 2015 bei seinen gewagten nächtlichen Streifzügen durch die U-Bahnschächte den Kick sucht, den begehrten Adrenalinstoß. «Das Wabern im Hirn bewirkt einen zusätzlichen Kick, wenn man einen Wholetrain und pro Waggon einen Buchstaben malt, und zugleich beklagen sie sich über nachlassendes Gedächtnis und löchrigen Wortschatz. Man pumpt Nächte mit Energie voll, damit sie wie eine Piñata zerplatzen, derweil weichen die Farben das Denken auf. Warum tut man sich das an?» Der in nervigem Szene-Jargon erzählte Selbstfindungstrip des unbedarften Ich-Erzählers kontrastieren mit den beklemmenden Eindrücken, die er dann bei einem Besuch mit seiner Freundin Sara in Bosnien-Herzegowina hat, als sie dort nach Spuren ihrer Mutter Anisa suchen und dabei mit dem Schicksal der vielen Kriegsflüchtlinge konfrontiert werden.

Der Hauptteil handelt in zwei ständig wechselnden Erzählsträngen von den Erlebnissen Anisas und ihres Freundes Jovan im Jahre 1992. Deren Liebesgeschichte ist durch die grausamen kriegerischen Ereignisse und dem verheerende Kollateralschaden in ihrer Folge von kurzer Dauer und endet mit der Flucht Anisas nach Wien. Prosser schildert die bis heute nicht wirklich aufgearbeiteten Verbrechen während dieser de facto gesetzlosen Zeit mit scharfem Blick in einer präzise beschreibenden, glasklaren Sprache. Bei all den Gräueln stockt dem Leser häufig der Atem, unsäglich ist das Leiden der zwischen den verschiedenen Fronten stehenden, schutzlosen Zivilisten. Eine derartige Barbarei mitten in Europa kann man sich heute fast gar nicht mehr vorstellen, - sie liegt aber doch erst eine Generation zurück, gerade mal 25 Jahre! Während die bosnische Kroatin Anisa in einem Flüchtlingslager in Wien lebt, muss Jovan als bosnischer Serbe gegen seine Willen auf der anderen Seite kämpfen. Im letzten Teil berichtet Jovan als Ich-Erzähler im Jahre 2015 aus dem Gefängnis in Wien, wobei er immer wieder in Rückblicken auf seine Kriegserlebnisse in Bosnien zurückkommt. Eine unheilvolle Melange aus Angst, Verrat, Denunziation und religiöser Verblendung führte dazu, dass aus bisher guten Freunden und Nachbarn plötzlich erbitterte Feinde wurden. Ja, der Wahnsinn ging so weit, dass im Ausland arbeitende bosnische Flüchtlinge am Wochenende in die Kriegsgebiete fuhren, um dort auf ihrer jeweiligen Seite mitzukämpfen und dann am Montag wieder pünktlich am Arbeitsplatz zu erscheinen, - möglicherweise friedlich vereint neben einem Kollegen, der auf der Gegenseite gekämpft hat.

Der Autor hat in dem völlig überflüssigen ersten Teil eigene Erfahrungen als Sprayer eingebracht, die nicht relevant sind für den reportageartigen Plot, und es scheint so, als wollte er auch haarklein all das im Text unterbringen, was er in Bosnien drei Jahre lang recherchiert hat. Der schwer zu lesende, sprunghaft erzählte Roman hat mich nicht überzeugt, die vielen Figuren rufen keinerlei Empathie hervor, der Hauptteil beginnt schon bald zu nerven mit seiner überbordenden Detailfülle, und als Leser bleibt man allein mit all den Gräueln, Prosser enthält sich jedweden Kommentars darüber, was Titos Erben angerichtet haben.

Bewertung vom 23.08.2018
Auf die sanfte Tour
Freeman, Castle

Auf die sanfte Tour


gut

Ein Pageturner

Mit «Auf die sanfte Tour» ist im vergangenen Jahr der zweite Roman von Castle Freeman auf Deutsch erschienen, auch hier bildet der US-Staat Vermont die Kulisse für das Geschehen. Der seit mehr als vier Jahrzehnten dort ansässige Schriftsteller fand in der von Ahornwäldern geprägten Landschaft und insbesondere in ihrer provinziellen Bevölkerung sein literarisches Thema. Carl Zuckmayer hat dazu geschrieben: «Daher eignet diesen Leuten ein Zug von Starrsinn und Hartnäckigkeit, auch von Verkauztheit, der Europäern leichter verständlich ist als vielen Amerikanern. Ein sonderlich abgeschlossenes Volk mit einem schrulligen, oft etwas maliziösen Humor, nonkonformistisch bis in die Knochen, eigenwillig bis zur Eigenbrötelei, doch niemals ohne die natürliche Bindung in der Gemeinde, die selbstverständliche, phrasenlose Bereitschaft zu gegenseitiger Hilfe». Genau dieser so meisterhaft beschriebene Menschenschlag prägt nun auch wieder den vorliegenden Roman, er ist nichts weniger als dessen narratives Elixier.

Der Titel verweist auf die Arbeitsweise von Lucian Wing, Sheriff einer kleinen Stadt. Im dritten Kapitel heißt es unter der Überschrift «Sheriffsein» dazu: «Der Sheriff vertritt das Gesetz gegenüber Leuten, bei denen das eigentlich nicht nötig ist. Er setzt das Gesetz bei Leuten durch, die nicht – oder nicht sehr – dagegen verstoßen. Sheriffsein ist ungefähr so, als wäre man Rausschmeißer beim Wohltätigkeitsball: Wenn alles normal läuft, hat man nicht viel zu tun». Mit dieser Auffassung, den Dingen also ihren Lauf zu lassen und möglichst wenig zu intervenieren, wird er seit vielen Wahlperioden immer wieder neu zum Sheriff gewählt, die Leute wissen sehr gut, was sie an ihm haben. Und so trägt dieser unkonventionelle Sheriff niemals seine Uniform, benutzt statt des Polizeiautos seinen privaten Pickup und ist immer ohne Dienstwaffe unterwegs.

Auf die sanfte Tour reagiert er auch, als in ein - der Russenmafia gehörendes - pompöses Landhaus eingebrochen und der Tresor entwendet wird. Sheriff Wing weiß mit einem Blick, wer der Täter ist, er erkennt den stadtbekannten Tagedieb an seiner brachialen Vorgehensweise. Seine Sympathie gilt aber eher dem «Superboy» genannten, jungen Kleinkriminellen Sean als den Opfern des Diebstahls, die als äußerst brutale russische Mafiosi den ihm so wichtigen Frieden in seinem County nachhaltig stören. Dieser amerikanische Roman ist ein typischer Pageturner, er lebt also von der Spannung, wie diese böse Geschichte mit den mafiosen Russen und dem kleinkriminellen Frauenliebling «Superboy» denn wohl ausgeht, soviel aber darf spoilerfrei verraten werden, es kommt zu einer geradezu salomonischen Lösung.

Neben der sorgsam aufgebauten Spannung des Plots sorgt insbesondere die zielgerichtet knappe Sprache, in welcher aus Sicht des Sheriffs in Ich-Form erzählt wird, für den eigentlichen Lesegenuss. Zum einen sind da die köstlichen Dialoge der hinterwäldlerischen, knorrigen Figuren, in ihrer Einsilbigkeit kaum zu übertreffen, zum anderen aber auch die Lakonie des Autors, mit der er fast beiläufig, journalistisch knapp, ja geradezu lässig erzählt. Hinter der unübersehbaren Ironie schimmert dabei immer ein durchaus lebenskluger, alltagsphilosophischer Hintergrund mit durch, der manchmal beißende Witz ist niemals substanz- oder gar geistlos. Die überwiegend männlichen Figuren sind treffend beschrieben, sie wirken allesamt sympathisch, die wenigen Frauen in dieser macho-perspektivischen Geschichte sind als Ehefrau, Geliebte oder Betthäschen eher unscheinbare Randfiguren, oft in zwei dieser urweiblichen Daseinsvarianten gleichzeitig. Vor meinem inneren Auge, im Kopfkino also, habe ich als Sheriff immer John Wayne agieren sehen, eine unwillkürliche Assoziation, die darauf hindeutet, dass man hier durchaus von einem modernen Western sprechen könnte, auch wenn die Handlung im Osten der USA angesiedelt ist. Man wird jedenfalls bestens unterhalten in diesem ebenso herben wie weisen, amüsanten Roman.

Bewertung vom 21.08.2018
Weshalb die Herren Seesterne tragen
Weidenholzer, Anna

Weshalb die Herren Seesterne tragen


schlecht

Die Angst vor dem Nichts

Schon der kryptische Titel «Weshalb die Herren Seesterne tragen» von Anna Weidenholzers zweitem Roman weist auf eine seltsame Geschichte hin, die junge österreichische Autorin thematisiert darin nämlich die Idee vom «Bruttonationalglück». Mit der im asiatischen Königreich Bhutan entwickelten Methode zur Messung des Lebensstandards wird nicht nur nach ökonomischen, sondern auch nach soziologischen, humanistischen und psychologischen Maßstäben bewertet. Kann man Glück erforschen, fragt man sich als staunender Leser. Natürlich nicht, lautet die Antwort, nachdem man diesen 2016 für die Longlist des Deutschen Buchpreises nominierten Roman gelesen hat.

Als Hobby-Glücksforscher bricht der pensionierte Lehrer Karl Hellmann eines Tages in ein trostloses österreichisches Kaff auf, das er nach dem Zufallsprinzip ausgesucht hat, um die Einwohner seines Landes zu ihrem Glücksempfinden zu befragen. Er quartiert sich als einziger Gast in einem schäbigen Hotel des schneelosen Skiortes ein, das von einer namenlos bleibenden Frau bewirtschaftet wird. Von diesem Quartier aus startet er mit seinen Interviews, für die er an das Original aus Bhutan angelehnte Fragebogen ausgearbeitet hat, deren Beantwortung etwa drei Stunden dauert. Fast immer aber läuft die Befragung dabei in die falsche Richtung, gerät das eigentliche Thema in den Hintergrund, ändert er spontan die Fragen ab, weil sie sich als kaum zu beantworten erweisen. Und häufig ist er plötzlich selbst der Befragte, die Leute interessieren sich für den Sonderling, der da in ihrem Kaff so ganz unvermutet aufgetaucht ist. Seine Probanden werden anonym befragt, er will ihre Namen auch selber nicht wissen und führt sie ausschließlich unter verschlüsselten Kürzeln. Da trifft dann zum Beispiel M1 bei einer dörflichen Veranstaltung mit F3 zusammen in dieser seltsamen Erzählung.

Unterbrochen wird die fragmentarisch in zahlreiche kleinste Erzählschnipsel aufgeteilte Geschichte durch häufige Telefonate mit Margit, der Frau des schrulligen Helden, die an der Vorbereitung seiner Mission mutmaßlich beteiligt war. Von deren unangekündigter, plötzlicher Realisierung aber, die einer Flucht gleicht, scheint sie überrascht und wenig begeistert zu sein. Als sie seine Anrufe nicht mehr entgegen nimmt, erfolgt der tägliche Bericht an Margit rein monologisch. Dieser Ehekonflikt auf Telefonebene spiegelt narrativ die Befürchtungen und Ängste der Menschen, denen der kauzige Held begegnet, wobei all diese Kontakte oberflächlich bleiben und keine Emotionen auslösen. Dem Glück als Sehnsuchtsziel wird hier lakonisch das Existenzielle des menschlichen Daseins gegenüber gestellt, und auch wenn man als Leser den Don Quijote-artigen Protagonisten hilflos durch die Geschichte stolpern sieht, berichtet die Story gleichwohl knallhart, trocken und illusionslos vom Kampf zwischen Innen- und Außenwelt des überforderten Helden.

In ihrem ebenso ereignisarmen wie elegischen Roman spürt die Autorin mit traurigem Ernst dem Glück als ungelöstem Rätsel der Menschheit nach, und immer wieder fügt sie dabei Rückblicke auf die scheinbar problematische Ehe des tragischen Helden ein. Auffallend ist das massenhaft Insignifikante, das in die Geschichte einfließt, alles bleibt unbestimmt, wird in der Schwebe gehalten, und allzu oft mäandert die Geschichte auch ins erzählerische Nichts. Die titelgebende Seestern-Anekdote ist ein markantes Beispiel dafür: Auf einem Foto sind einige Männer zu sehen, die alle einen Seestern am Jackett befestigt haben. Ein Einheimischer sei vor vielen Jahren nach Übersee ausgewandert, wird erklärt, und habe seinen alten Freunden später die Seesterne zugesendet. Die Freunde hätten ihm dann zum Dank das Foto geschickt, auf dem sie die Seesterne als Schmuck tragen. Alles klar soweit? Es gibt im gesamten Roman keinerlei Bezug zu dieser Anekdote! Das Glück, oder besser das Nichts und die Angst davor thematisch aufzubereiten ist hier meines Erachtens gründlich misslungen.

Bewertung vom 16.08.2018
Früchte des Zorns
Steinbeck, John

Früchte des Zorns


sehr gut

Mit sozialem Scharfsinn

Aus dem Werk des US-amerikanischen Schriftstellers John Steinbeck hebt sich der sozialkritische Roman «Früchte des Zorns» von 1939 auch heute noch besonders hervor. Er hat damit den Arbeitsmigranten in der Zeit der Großen Depression allgemein und den verächtlich als «Okies» bezeichneten, entwurzelten Wanderarbeitern aus Oklahoma, die damals in Massen nach Kalifornien auf Arbeitssuche gezogen sind, im Besonderen ein Denkmal gesetzt. Das Nobelkomitee lobte den Autor 1962 «für seine einmalige realistische und phantasievolle Erzählkunst, gekennzeichnet durch mitfühlenden Humor und sozialen Scharfsinn». Dieser Roman ist auch heute noch Schullektüre in vielen englischsprachigen Ländern, er wird mit seinem Realismus und der beeindruckenden Detailfülle auch als willkommene historische Quelle angesehen.

Auslöser der hunderttausendfachen Armutsmigration war neben jahrelanger Dürre vor allem die «Urbarmachung» der Prärie in den dann später als «Dust Bowl» bezeichneten Gebieten in der Mitte der USA. Die Prärie musste dem Baumwoll- und Weizenanbau weichen, das fehlende Präriegras ließ den Boden schnell austrocknen, verheerende Sandstürme waren die Folge, die «Staubschüssel» entstand. Und so schildert Steinbeck denn auch gleich im ersten der dreißig Kapitel des Romans sehr eindringlich diese von Menschen verursachte Katastrophe, bei der die Farmer ihr Land verloren haben, weil sie wegen der ausfallenden Ernten ihre Kredite bei den Banken nicht mehr bedienen konnten. Auf Handzetteln wurden Erntehelfer für die riesigen Obstplantagen in Kalifornien gesucht, es gab wilde Gerüchte über den Garten Eden dort, und so macht sich denn auch die Familie Joad aus Oklahoma auf den Weg, nachdem die Traktoren der neuen Großgrundbesitzer bis dicht an ihr Haus heran alles umgepflügt hatten und im Begriff waren, nun auch noch das armselige Farmhaus zu zerstören, weil es der modernen, hocheffizienten Bewirtschaftung im Wege steht.

«Route 66» als legendärer, auch aus der Musik bekannter Highway ist über weite Teile der Geschichte Schauplatz des Geschehens. Die entwurzelte Großfamilie, die sich aus drei Generationen zusammensetzt, erlebt auf der beschwerlichen Reise mit einer zum Lastwagen umgebauten, klapprigen Limousine immer wieder herbe Rückschläge und beschämende Demütigungen. Das wenige Geld wird erschreckend knapp, ihr Auto kann nur noch notdürftig repariert werden, wie Wegelagerer beuten Händler am Wegesrand die durchreisenden, auf Hilfe angewiesenen Okies immer wieder schamlos aus, und auch die Sheriffs machen ihnen das Leben zur Hölle. Das alles ändert sich leider nicht, als sie mit ihren letzten Dollars in Kalifornien ankommen, denn Arbeit gibt es dort keine für sie. Und wenn doch, dann zu Löhnen, die wegen des Überangebots von Arbeitskräften nicht mal für das Essen ausreichen, ein perfides, staatlich gestütztes Ausbeutungssystem hat sich etabliert, ermöglicht durch eine der marxschen entsprechende, agrarische Reservearmee.

In all dieser Not zeichnet Steinbeck seine durchweg sympathischen Figuren als einfältige, skurrile, ungebildete Menschen, die gleichwohl aufrichtig durchs Leben gehen und stets ihre Würde wahren, allem Unbill zum Trotz. Berührend ist dabei auch der fast schon archaische Wille der Familie, zusammenzuhalten, komme was da wolle. «Früchte des Zorns» wird als realistischer Roman chronologisch erzählt, wobei der dialogreichen Geschichte der Familie auf ihrer Reise ins vermeintliche El Dorado jeweils ein zusammenfassendes Kapitel politischen, ökonomischen oder soziologischen Inhalts vorangestellt wird, das in diesem realistischen Roman als kontemplativ wirkender Hintergrund dient. Der dickleibige Roman ist ein großartiges Zeitzeugnis mit einer Botschaft, die nichts an Aktualität eingebüßt hat über all die Jahre, denn die darin angeprangerten kapitalistischen Mechanismen sind im Prinzip zeitlos, also unverändert auch heute noch wirksam. Ein hervorragender Roman des vergangenen Jahrhunderts!

Bewertung vom 08.08.2018
Alles, was ist
Salter, James

Alles, was ist


weniger gut

Allenfalls Tütensuppe

Mit «Alles, was ist» hat der damals 88jährige US-amerikanische Schriftsteller James Salter nach 34jähriger Romanabstinenz 2013 seinen letzten Roman veröffentlicht. Der Autor gehört zu den eher unbekannten literarischen Größen seines Landes, bewundert nur in Kreisen namhafter amerikanischer Kollegen. In Deutschland wurde er recht spät mit seinem erst 1998 erschienen Roman «Lichtjahre» von 1975 bekannt, blieb aber auch bei uns eher ein Geheimtipp, trotz höchstem Lob unseres vorgeblich ja meinungsbildenden Feuilletons. Ein verkanntes Genie also, auch mit seinem hier vorliegenden Alterswerk?

Der zweiteilig aufgebaute Roman startet im kurzen ersten Kapitel furios, auf nur einem Dutzend Seiten unter dem Titel «Tagesanbruch» wird vom Inferno des kriegsentscheidenden Angriffs auf Okinawa erzählt. Die folgenden dreißig Kapitel beginnen mit der Rückkehr des Lieutenant Philip Bowman aus dem Pazifikkrieg nach New York, wo er zunächst anfängt, Biologie zu studieren, um dann aber nach beruflichen Umwegen als Lektor bei einem renommierten Verlag anzuheuern. Er führt ein abwechslungsreiches Leben, lernt viele interessante Leute kennen und heiratet die schöne Vivian, seine Traumfrau. Aber die eheliche Idylle trügt, in der quirligen Weltstadt mit ihrem grenzenlos scheinenden Glückspotential lauern viele Gefahren, werden manche Blütenträume brutal zerstört.

James Salter erzählt, mit dem wechselvollen Schicksal seines Protagonisten als Handlungsfaden, vom heftig entbrannten Kampf der Geschlechter in der Nachkriegszeit bis etwa in die achtziger Jahre hinein, genauere chronologische Markierungen im Text fehlen. Die Ehe als Bindung auf Lebenszeit hat ausgedient, mehrfach verheiratet gewesen zu sein ist die Regel, Trennungen und Seitensprünge sind an der Tagesordnung, viele Beziehungen werden von vornherein nur auf Zeit eingegangen. Mit einem völlig ausufernden Figurenensemble um den Romanhelden herum werden sämtliche Spielarten dieses Geschlechterkampfes und der sie begleitenden sexuellen Abenteuer ebenso thematisiert wie die beruflichen, finanziellen und familiären Umstände der unzähligen Randfiguren. Dabei erfährt der Leser zwar nicht «Alles, was ist», aber doch vieles, nämlich was im bürgerlichen Leben der Amerikaner ist in dieser Epoche. Wobei darüber nur fragmentarisch berichtet wird und auch nicht in chronologischer Folge, sondern viele Haken schlagend, narrativ fehlt es also an Stringenz, was das Lesen ziemlich mühsam macht. Erhöhte Aufmerksamkeit ist also unabdingbar für das Verständnis. Auffallend ist die distanzierte, fast schon lakonische Erzählweise des Autors, geradezu lässig und völlig emotionslos wird da, Schicksal für Schicksal aufgefächert, eine einseitig lustorientierte Gesellschaft vorgeführt, deren Perspektiv- und Illusionslosigkeit geradezu beklemmend wirkt.

Der Protagonist ist ein «Mann ohne Eigenschaften», die Unbehaustheit seines Lebens ist unmittelbare Folge des erlittenen Kriegstraumas. Die reichlich vorhandenen Sexszenen werden sprachlich wohl unfreiwillig komisch beschrieben, wodurch völlig verquere, lachhafte Bilder erzeugt werden. Was letztendlich bei einem Roman, in dem eindeutig ja speziell das Triebleben seines Protagonisten im Mittelpunkt steht, ein ziemliches Manko bedeutet. Aber Autoren aus dem prüden Amerika tun sich in dieser Hinsicht ja alle schwer, Salter-spezifisch gibt es kein Davor und Danach, alles ist hier aufs Animalische reduziert. Die dauernden Wiederholungen der wegen Entfremdung, Untreue, Verrat, Bankrott oder Trunksucht gescheiterten Beziehungen sind sehr ermüdend für den Leser. James Salter, der biografisch in manchem seiner Romanfigur ähnelt, hat mit diesem Roman einen Abgesang auf den alternden Mann geliefert, dessen Leben nur ereignislos dahin geplätschert ist, ein Menetekel der Vergeblichkeit. Was das Genie anbelangt, literarisch ist dieser Roman mit seinen vielen Klischees, um einen Vergleich aus der Kulinarik heran zu ziehen, allenfalls Tütensuppe.

Bewertung vom 06.08.2018
Das Phantom des Alexander Wolf
Gasdanow, Gaito

Das Phantom des Alexander Wolf


sehr gut

Eine literarische Entdeckung

Mit dem Erscheinen seines Romans «Das Phantom des Alexander Wolf» wurde der russische Exil-Schriftsteller Gaito Gasdanow 2012 erstmals einem breiteren deutschen Publikum bekannt und als literarische Entdeckung gefeiert. Im Original wurde das Buch 1948 in einem russischen Exilverlag in New York publiziert, sein Autor wird der russischen Seitenlinie der «Lost Generation» im Paris der zwanziger Jahre zugerechnet. Wegen den in vielen seiner Prosa-Werke thematisierten Sinnfragen des menschlichen Daseins wird er zuweilen als «russischer Camus» bezeichnet.

«Von allen meinen Erinnerungen, von all den unzähligen Empfindungen meines Lebens war die bedrückendste die Erinnerung an den einzigen Mord, den ich begangen habe» lautet der erste Satz des Romans, schon das Titelbild mit dem weißen Pferd weist auf dieses zutiefst prägende Ereignis hin. Der namenlose Ich-Erzähler hatte als blutjunger Weißgardist in den Wirren des russischen Bürgerkriegs einen ihn bedrohenden Reiter auf einem prächtigen Schimmel erschossen. Fünfzehn Jahre später, im Jahre 1936, stößt der Exilant, der sich in Paris recht und schlecht als Journalist durchschlägt, auf das Buch eines englischen Schriftstellers namens Alexander Wolf. Und findet darin eine Erzählung, in der sein traumatisches Erlebnis in allen Details beschrieben ist. Weil es damals aber keine Zeugen gab, kann nach menschlichem Ermessen der Autor dieses Buches nur sein vermeintliches Opfer sein. Seine diesbezüglichen Nachforschungen bleiben jedoch ergebnislos, er scheint ein Phantom zu suchen, das quälende Trauma des Protagonisten ist nunmehr durch eine nicht minder quälende Leere ersetzt. Bei einem Boxkampf lernt er die schöne, rätselhafte Jelena kennen, die Frau seines Lebens, die auch bald seine Geliebte wird. Und trifft später dann doch noch zufällig auf einen älteren, ehemaligen russischen Soldaten, der Alexander Wolf kennt, ihn vertraulich Sascha nennt und die Beiden miteinander bekannt machen will. Obwohl der Roman kein Krimi ist und die Handlung hier literarisch eher unwichtig erscheint, ist dennoch ein nicht unbedeutender Spannungsbogen vorhanden, weshalb sich weitere Angaben zum Plot verbieten.

Trotz Liebeswirren und überraschenden Thrillerelementen, dieser Roman ist im Wesentlichen dem Existentialismus gewidmet, Tod und Liebe, hier eng ineinander verwoben, bilden dabei seine dominanten Themen. Diese kontemplative Prosa, in weiten Teilen als Bewusstseinsstrom des Erzählers angelegt, ruft durch dessen tiefgründige Reflexionen immer wieder zwangsläufig daraus folgende Assoziationen beim Leser herauf, regt zu eigenem Weiterdenken über die menschliche Existenz an, - auch die eigene! Gasdanows feinsinnige Erzählung über Identität und Moral ist fragmentarisch angelegt, erst aus den Figuren, Szenen und Ereignissen ergibt sich letztendlich ein puzzleartiges Gesamtbild der hier behandelten, philosophischen Thematik. Dabei ist das Einfühlungsvermögen des Autors in die komplizierte Seele des Menschen wirklich bewundernswert. Er widersetzt sich dem Gedanken der Absurdität bei den französischen Existentialisten, - Camus’ «Die Pest» erschien im gleichen Jahr -, sein Protagonist nämlich akzeptiert die scheinbare Ausweglosigkeit seines Schicksals keineswegs.

Der Zufall spielt im Plot dieses klug komponierten und gekonnt erzählten, feinfühligen Romans eine gewichtige Rolle, zuweilen wird er aber von Gasdanow als narratives Element auch deutlich überstrapaziert. Und die moralische Integrität des Ich-Erzählers erscheint mir ebenfalls ziemlich idealisiert. Aber vielleicht sind es ja genau diese idealisierten Romanhelden, die einem noch lange im Gedächtnis haften, - hier allerdings namenlos bleibend. Eher hinterlässt da schon die äußerst zwielichtige Nebenfigur des Alexander Wolf eine Erinnerungsspur. «Das Leben vergeht, hinterlässt keine Spur, Millionen Menschen verschwinden und niemand erinnert sich an sie», heißt es im Roman an einer Stelle. Wie wahr!

Bewertung vom 02.08.2018
Nachricht an alle
Kumpfmüller, Michael

Nachricht an alle


gut

Wer Visionen hat

Unter dem Titel «Nachricht an alle» ist von Michael Kumpfmüller im Jahre 2008 ein politischer Zeitroman erschienen, in jenem leider vernachlässigten Genre der Literatur also, in dem Koeppens «Das Treibhaus» von 1953 Maßstäbe gesetzt hat. An die nun weder der vorjährige Buchpreisgewinner Robert Menasse mit «Die Hauptstadt» heranreicht noch Kumpfmüller, dessen Eingangskapitel Großes erwarten lässt. Schon der Romantitel deutet eine dramatische Szenerie an, und gleich im einleitenden Kapitel sendet Anisha, die Tochter des Protagonisten, aus einem abstürzenden Flugzeug per SMS eine letzte Nachricht in die Welt hinaus. «Es hat eine Explosion gegeben. Es ist entsetzlich. Wir stürzen ab. Betet für mich. Ich liebe Euch».

Mit diesem Paukenschlag beginnt die Geschichte des Politikers Selden, Innenminister eines nicht genannten westeuropäischen Staates, der mitten in der Nacht diese Horror-Nachricht erhält, ein in unserer handynärrischen Moderne durchaus realer Albtraum. Der Staat ist in einer schweren Krise, die nicht nur durch erbitterte Streiks und soziale Unruhen, sondern auch durch vermehrte Terrorakte ausgelöst wurde. Dieses Szenario deckt eine bedrückende Ohnmacht der Politik auf, weist gar auf ihr bevorstehendes Ende hin in einer unregierbar gewordenen, bedingungslos ökonomiehörigen Gesellschaft. Der Roman ist eine Zustandsbeschreibung jener abgehobenen politischen Klasse, die nach dem prophetischen Engelmann/Wallraff-Buchtitel «Ihr da oben, Wir da unten» fernab der Bevölkerung in anderen Sphären schwebt.

Das Private, der Protagonist als Mensch, tritt in diesem Roman weitgehend in den Hintergrund. Außer seiner gescheiterten Ehe mit einer Malerin und der ebenfalls verheirateten Geliebten in den USA, die er nur stundenweise im Hotel zum Koitus trifft, ehe beide wieder ihren diversen Terminen hinterher jagen, erfährt man fast nichts. Auch ein Techtelmechtel mit der zwanzig Jahre jüngeren Journalistin Hannah, mit der er schließlich sogar einen Sohn namens Mattis hat, zeigt Selden nicht in einem menschlicheren Licht, er wirkt seltsam seelenlos. Das Politische nimmt einen breiten Raum ein, entwickelt sich aber meist nicht aus dem Geschehen heraus, sondern wird kontemplativ in endlosen Reflexionen des Autors selbst und in den Gedankenströmen seines Helden erzählt. Dazwischen werden Kapitel eingeblendet, in denen die anarchistischen Gegner des Establishments in ihrem ohnmächtigen Bemühen gezeigt werden, die Verhältnisse durch Randale und Terror zu ändern. Die Gewalt der jugendlichen Terroristen gipfelt in einer wachrüttelnden Selbstverbrennung eines der Mädchen und in einem dem Lafontaine-Attentat nachempfundenen Angriff auf den Minister. Albern aber wird es zum Schluss: Im letzten, in der Zukunft angesiedelten Kapitel hat der inzwischen achtzigjährige Selden, der in einem der Waldsiedlung Wandlitz, - ehedem privilegierter Wohnsitz der DDR-Bonzen -, ähnelnden, streng bewachten Prominentenghetto als Pensionär lebt, seinen Sohn Mattis und dessen junge Freundin zu Besuch. Pointe: die Freundin heißt Anisha, - so ein Zufall aber auch!

Zweifellos wird in den politischen Aspekten dieses modernen Gesellschaftsromans viel Wahres ausgesprochen, die ätzende Kritik an den sozialen Verhältnissen ist in allen Punkten nachvollziehbar und durchaus berechtigt. Kumpfmüller findet dafür überaus schlagkräftige Formulierungen in einer wortstarken, wohltuend stimmigen Sprache. Sein Anliegen sei, hat er im Interview erklärt, den Leser des Romans aus seiner Dulderrolle herauszulocken, er müsse seine Ressentiments ablegen, es gehe schließlich um uns alle. Fakten und Fiktion in Kombination, das mündet hier aber leider nicht in Erkenntnis, der Roman scheitert letztendlich an seiner Thematik, an der Komplexität des Politischen nämlich, wo alles mit allem zusammenhängt. Und wo man nicht agiert, sondern allenfalls reagiert. «Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen» lautet ja ernüchternd das berühmte, nassforsche Zitat von Helmut Schmidt.

Bewertung vom 29.07.2018
Pathos und Schwalbe
Mayröcker, Friederike

Pathos und Schwalbe


weniger gut

Begreifen als Glücksfall

Die vor allem durch ihre Lyrik bekannte österreichische Schriftstellerin Friederike Mayröcker perfektioniert in ihren wenigen Prosawerken die narrative Form der Autofiktion, vermischt also Autobiografie mit Fiktion. Ihr jüngst erschienener Band «Pathos und Schwalbe», dem als Prosa keine auch nur annähernd zutreffende Gattungsbezeichnung entspricht, ist nach Bekunden der 94jährigen Autorin das Ergebnis eines dreimonatigen Klinikaufenthaltes, während dem sie nicht literarisch arbeiten konnte. Glücklich zurückgekehrt in ihre «Schreibhöhle», - ein stimmiger Begriff für die Arbeitsumgebung in ihrer Wiener Wohnung -, hat sie bis in den Herbst 2017 hinein ihre Eindrücke aus der Krankenstube in ihrer sehr speziellen Prosaform beschrieben. Stützen konnte sie sich dabei auf eine reichhaltige Sammlung von kurzen Notizen zum Drama des hohen Alters, das Bürde und Gnade zugleich sei. Wobei, um das vorwegzuschicken, die avantgardistische Autorin keine auch nur im Entferntesten handlungsbasierte Erzählform benutzt, alles ist atmosphärisch, alles ist Imagination!

In Friederike Mayröckers melancholischer Prosa triumphiert das Umgebende, das Bühnenbild also ersetzt komplett das Geschehen auf der Bühne selbst. Ihre experimentellen Texte entstünden, wie sie bekannt hat, aus den Bildern in ihrem Kopf, in die sie sich so lange hinein steigere, bis daraus Sprache geworden sei. «ich verkoste die Sprache : schmeckt köstlich» wird sie im Klappentext zitiert, eine «halluzinatorische Prosa», wie sie es in ihrem Buch formuliert. Ein rationaler Zugriff darauf ist bei einer derartigen Arbeitsweise natürlich nicht möglich, der Autorin zu folgen setzt also beim Leser ein kompromissloses Hineinsteigern und Mitempfinden in ihren poetischen Text voraus, die Bereitschaft mithin, ihre Empfindungen, Einfälle, Träume, Gedankengespinste und Erinnerungen nachzuempfinden, ein Gefühl zudem für die subtile Essenz aus ihren diversen Begegnungen und Gesprächen zu entwickeln.

Ihr Handwerkszeug dafür ist ein alle Konventionen und Regeln der Orthografie missachtender, eigensinniger Schreibstil. Der in sämtlichen Details original zitierte, nachfolgende Absatz ist ein Beispiel dafür: «wenn morgen schönes Wetter ist, so der französische Germanist, werden sie die Pyrenäen sehen im Westen, der angebrochene Tag begann mit sanftem Regen ich sah die Pyrenäen : ein Phantom, etc. (Wache auf mit ‹Gänsefüszchen› auf der Zunge), veilchenweise, und glitzernd dein Auge als bewahre es Edelsteine, die ‹Ästhetik des Unscheinbaren›, Schneeglöckchen-Hals und lege dir Rosmarin und Reseden auf deine Brust DA MIR ZUM HEULEN da du mir diese Waldküsse usw., bin von feurigen Blüten befallen. Die Nordkette im Fenster, Radiator wie Botero, nun ja die Raucherbaracke stand in spezieller Bestrahlung, meine Versehrtheit, alle Blumen so leichfüszig, sage ich, (Abgesang : wünsche mir dasz du , wenn meine unsterblich Seele auf Wanderschaft nicht denken muszt ‹endlich erlöst› sondern dasz du denken kannst ‹war doch eine schöne Zeit› usw.)»

Ein solch assoziationsreicher Sprachstrom mit seiner verqueren Syntax setzt in seinem Bemühen, das thematisch kaum zu Fassende fühlbar zu machen, eine schon fast überirdische Sensibilität ein, darin einer Windharfe ähnlich, die selbst noch bei feinstem Lufthauch nicht vorhersehbare, gleichwohl aber himmlische Töne erzeugt. Durch Schwingungen werden hier Resonanzen erzeugt, die Tiefverborgenes freizulegen imstande sind. Ob das beim Leser funktioniert, bleibt fraglich, die Rezeption im Feuilleton war ehrfürchtig wohlwollend. - die Leser, soweit man das an den Rezensionen der Buchversender ablesen kann, ignorieren das Buch bisher allerdings völlig. Wenn man sich erst mal eingelesen hat, - was hier leider besonders lange dauert -, ist der Text, in kleinen Dosen genossen, durchaus bereichernd, was die Bilder anbelangt, die er erzeugt. Das gilt auch dann, wenn man, was keineswegs gegen den Leser spricht, vieles aber doch - kaum begreifen kann.