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Juti
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HD

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Insgesamt 631 Bewertungen
Bewertung vom 02.06.2019
Der Platz
Ernaux, Annie

Der Platz


sehr gut

Hommage auf den Vater

Dieses Büchlein zeigt die Diskrepanz zwischen dem Vater der Autorin, der außer seine Schulfibel, die den Fleiß pries, nicht viel gelesen hat und als Kind einfacher Bauern in der Erntezeit die Schule schwänzte, der sich als Arbeiter hochgearbeitet hat und mit ihrer Mutter Ladenbesitzer wurde und eine Kneipe betrieb, der gerne im Garten arbeitete, der alles tat, um in der Gesellschaft bloß nicht negativ aufzufallen, der sich später kaum noch mit seiner intellektuellen Tochter unterhalten konnte und deswegen schwieg und seiner Tochter, die zwei Monate bevor er starb die Lehrerprüfung bestand. Sätze wie „Das Glück ist ein Gott mit leeren Händen.“ (S.67) gehörten nicht in Vaters Welt. Auch ihr Mann ist ein Intellektueller.
Die Schilderung der Krankheit des Vaters zeugt dennoch von großer Liebe.

Das Bändchen ist schnell gelesen. Für 5 Sterne fehlt mir aber das Außergewöhnliche. Und hilfreich ist sicher erst die anderen Bücher von Ernaux zu lesen.

Bewertung vom 31.05.2019
Worauf wir uns verlassen wollen
Kretschmann, Winfried

Worauf wir uns verlassen wollen


ausgezeichnet

Weltanschauungsbuch eines Bundespräsidenten würdig

Konservativ war in der Weimarer Republik als antidemokratisch und illiberal verschrien. Kretschmann formuliert anders:„deshalb geht es beim Konservativen auch nicht um politische Brauchtums­pflege, sondern um eine reflexive Haltung zur Moderne, die das Neue kritisch hinterfragt.“ (S.17)
Erst 1978 wurde konservativ ins Programm der CDU aufgenommen, 10 Jahre vorher schon bei der CSU unter Franz Josef Strauß, aber als ein naiver Fortschrittskonservatismus, der für Atomkraft war.
Wegen dieser Fehlinterpretation verweist der Autor auf den Begriff „wertkonservativ“, der Anhänger in allen politischen Lagernf hat. Hans Jonas: „Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens.“(S.22)

Nach dem „Ende der Geschichte“ fragt er, warum unsere Demokratie wieder bedroht ist und welche politischen, soziale und kulturelle Gründe es dafür gibt. Zur ersten Frage schreibt er: „weil wir nichts Besseres als die Demokratie haben“ sei sie nicht alternativlos. Zur zweiten Frage sucht er mit einer Politik des „Und“ Antworten im Bereich der Schöpfung, Heimat oder in der Sozialen Marktwirtschaft.

„Nachhaltig ist das neue Konservativ“ (S.36) schreibt Kretschmann und betont die Dringlichkeit einer Klimaschutzpolitik, da es „Kipp-Punkte“ gibt, nachdem eine Rückkehr zum heutigen Zustand nicht mehr möglich ist. Ebenso wichtig ist der Erhalt der biologischen Vielfalt.

Im Kapitel Heimat wird erstmals im größeren Stil Hannah Arendt zitiert. Die Individualisierung der Gesellschaft hat durch den Marktradikalismus soweit zugenommen, dass wir schon bei den „Atomen“ angelangt sind. Als Gegentrend sollte das Heil nicht im Populismus, nicht in der Volksgemeinschaft, auch nicht in Leitkulturdebatten gesucht werden. Parteien, Vereine, Kultur und Sport, ökologische Bewegungen, Gewerkschaften fördern, das schafft Heimat, das ist konservativ. Demzufolge lobt der Ministerpräsident direkte Demokratie am Beispiel Stuttgart 21 (S.61f). Zum Brexit, ob dieser nicht zu kompliziert für eine Abstimmung war, sagt er leider nichts.
Demokratischer, zivilisierter Streit, Verfassungspatriotismus kann Heimat bieten. Politische Kultur braucht den Willen zum Kompromiss.

Das Familienkapitel beginnt mit einem Plädoyer der Ehe für alle als Zeichen des Übernehmens von Verantwortung.
Deutschland war bis ins 19. Jh. selbst Auswanderungsland. Wir brauchen ein Einwanderungsgesetz, damit das Grundrecht für Asyl wirklich dem politisch Verfolgten offen steht: „Deshalb müssen Menschen, die nicht politisch ver­folgt werden oder keinem Bürgerkrieg entflohen sind, in der Regel in ihre Heimat zurückkehren.“ (S.81) Was mit den 550.000 Asylbewerbern geschehen soll, die eigentlich abgeschoben werden müssten, aber dennoch in Deutschland leben, schreibt er nicht.
Gegenüber Terroristen gibt es keine Toleranz, denn es gilt das Toleranz-Paradox: „Uneingeschränkte Toleranz führt mit Notwendigkeit zum Verschwinden der Toleranz.“ (S.85)

Er fordert die Förderung der Religion: „Denn da der demokratische Staat selber keinen Sinn stiften kann und darf, braucht er sinnstiftende Gemeinschaften.“ (S.88)
Die Marktwirtschaft muss um die Adjektive ökologisch, sozial und digital erweitert werden. Kernpunkt ist das Prinzip Bildung für alle.
Unsere Kultur ruht auf drei Hügeln: der Akropolis für die Demokratie, das Pantheon für das römische Recht und Golgatha für die jüdisch-christliche Tradition.

Ökonomie und Ökologie, Zusammenhalt und Vielfalt, Heimat und offene Gesellschaft, Fortschritt und Humanität, das Regionale, Nationale und Europa, wirtschaftliche Dynamik und sozialen Ausgleich, Sicherheit und Freiheit, Humanität und Ordnung, das versteht Kretschmann unter einer Politik des Und.

Der Autor erläutert seine Weltanschauung und bleibt nicht wie Habeck in Sprachbildern stecken. Ich vergebe noch die Bestnote, auch wenn ich die Migration und die Sinnstiftung noch gerne entfaltet hätte.

st

Bewertung vom 30.05.2019
Die zweite Frau
Kunert, Günter

Die zweite Frau


weniger gut

Absatzlose Stasi-Geschichte

Für die Behauptung, dass dieses Buch als Manuskript 44 Jahre auf dem Dachboden gelegen hat, gibt es keinen Stern. Komisch auch, dass er 1979 nach Norddeutschland zog und trotzdem diesen Roman vergessen hat.

Wie dem auch sei, die Handlung wäre eigentlich spannend. Barthold will seiner Frau Margerete Helene eine Ring zum 40. Geburtstag aus dem Intershop schenken. Anstatt wegen Schwarztausch von Devisen wird er dann von der Stasi verfolgt, weil er im Laden von Montaigne gesprochen hat und deswegen angeblich Auslandskontakte hat. Dem Stasispitzel will er dessen Buch zeigen, aber seine Frau hat es weggeschmissen, weil sie im Garten einen Riesen-BH gefunden hat, der nicht von ihr sein kann. Bei Recherchen findet sie eine Postkarte von Elfi und glaubt an eine frühere Affäre. Das beichtet sie ihrem Mann. Was sie nicht beichtet, sind die Knochen, die sie ebenfalls im Garten gefunden hat und die sie ihrem Frauenarzt gibt, um zu überprüfen, ob es Knochen eines Menschen, also von Elfi, sind.

Ich fand das leider alles mühsam zu lesen, weil manchmal drei Seiten lang ohne Absatz geschrieben wird, nicht klar ist, wer was denkt, ob sich um eine Rückblende, um eine Traum oder um die Gegenwart handelt. So verlor ich auch die Lust am Witz und an der Erotik. 2 Sterne.

Zitate: Hauptsache, man ist gesund und die Frau hat Arbeit. (S.19)
Die Hälfte des Lebens / Wartet der Mensch vergebens! (S.22)

Bewertung vom 25.05.2019
Der Hundertjährige, der zurückkam, um die Welt zu retten
Jonasson, Jonas

Der Hundertjährige, der zurückkam, um die Welt zu retten


gut

Schräge Satire

Mir gefällt an diesem Buch, dass es aktuelle Politik einbezieht, ja sogar Russlandverschwörungen bei der Wahl Trumps, beim Brexit und beim Rechtsruck in Europa zum Thema macht.
Mir missfällt, dass Allan und Julius ihre Geschichte mehrfach neuen Personen erzählen und dass dieses Buch eigentlich drei Geschichten behandelt.

Das erste Thema ist, dass unsere Helden ihren Hotelurlaub wegen Geldmangel durch eine Ballonfahrt beenden, die im Indischen Ozean lendet, wo sie von einem nordkoreanischen Schiff aufgelesen werden, das sich auch noch als Atomfrachter entpuppt. Allan bezeichnet sich als Atomphysiker, ohne Ahnung zu haben. Dank der zufällig Nordkorea besuchenden schwedischen Außenministerin Wallström gelingt die Flucht mit Diplomatenpässen und 5kg Uran in die USA.
Trump ist zu jähzornig, als dass ihm das Uran übergeben werden kann, es landet beim deutschen Botschafter.

Hier könnte das Buch zu Ende sein, aber der Leser muss oder darf noch mehr als die Hälfte lesen.
Die alten Herren haben Geldsorgen. Mir ist klar, dass ich eine Satire nicht zu ernst nehmen darf, aber nirgendwo wird erklärt, weshalb Allan 101 Jahre alt sein soll. Eigentlich wird eine romantische Handlung erzählt, die ohne weiteres auch mit jungen Erwachsenen denkbar wäre. Körperliche Beschwerden haben die Protagonisten nicht und Geldsorgen sollten eigentlich kein Thema sein, auch schwedische Senioren erhalten Rente. Nur das keine Liebesabenteuer erzählt werden, erinnert ans Alter.

Aber unsere Senioren besuchen Sabine, eine Inhaberin eines Tante-Emma-Ladens, in dem auch Särge verkauft werden. Dieses Geschäft läuft aber erst gut, nachdem Julius für Spezialsärge sorgt und auf Kundenwünsche eingeht.
Als ein Nazis einen Hakenkreuzsarg für sein Bruder kauft, dieser aber bei der Beerdigung mit einem liebevoll gestalteten Sarg eines Mädchens verwechselt wird, werden die drei vom Neonazi verfolgt, müssen ihr Geschäft aufgeben und fliehen nach Malmö. Auf S.315 musste ich das erste und einzige Mal laut lachen, als unsere Protagonisten wieder Frau Wallström begegnen und diese duzen: „Etikette stand im Moment ganz weit unten auf ihrer Liste.“ Hier wird keiner lachen, ich kann aber nicht alles verraten)

Obwohl der Neonazi schließlich stirbt, fliegen unsere Geschäftsleute nach Tansania, wo sie, vom BND beobachtet, einen afrikanischen Heiler besuchen, um in die Esoterikbranche einzusteigen. Nebenbei stellen sie Uran für Nordkorea sicher, informieren Bundeskanzlerin Merkel und bauen zu guter letzt deutschen Spargel in Kenia an.

Trotz der reichen, aber schrägen Handlung hat das Buch Längen, vor allem weil der Spannungsbogen nicht durchgezogen wird. 3 Sterne.

Lieblingszitat: Nur Schweden hat schwedische Stachelbeer‘n. (S.18)

Bewertung vom 16.05.2019
Was dann nachher so schön fliegt
Klute, Hilmar

Was dann nachher so schön fliegt


sehr gut

Gute Unterhaltung über das Schreiben

Volker Winterberg beginnt 1986 gerade seine Zivildienst in einem Altenheim im Ruhrgebiet. Während seines Dienstes wird er für eine Woche zu einem Workshop für junge Dichter nach Berlin eingeladen. Die Geschichte des Zivildienst und des Workshops werden in 22 Kapiteln abwechselnd erzählt.

Und der Autor erzählt gekonnt. Anfangs wird er als Pfleger beschäftigt bis er sich beschwert, dass er nur zur Unterhaltung der Bewohner eingestellt wurde. Die Arbeit im Altenheim wird witzig (so beantwortet eine Frau die Frage wie der Bundeskanzler heiße gelangweilt mit Adenauer), aber niemals würdelos beschrieben. In „Mittags­stunde“ von Dörte Hansen pflegt ein Protagonist seine Eltern, was deutlich weniger interessant dargestellt wird.
Die Beziehung zu seinen Kollegen wird zunehmend schlechter, da er sich weigert, die Senioren zu beschimpfen. Der andere Zivi scheitert an der Arbeit und landet letztlich in der Psychiatrie. Sexuelle Beziehung unterhält er mit der älteren und verheirateten Erika, die er aber nicht wirklich liebt.

In Berlin lernt Volker ziemlich schnell, dass es im Literaturbetrieb wichtig ist, Beziehungen zu knüpfen. So verbündet er sich mit dem schwulen Thomas und fängt mit der Mitorganisatorin Katja eine Liebelei an, für die aber nur Katja brennt, die es wiederum nicht schafft ihren Freund Charles aus der Wohnung zu schmeißen.

Diese beiden Stränge verbindet, dass Volker vom Schreiben träumt. Deswegen trampt er real nach Paris und verfasst dort sein erstes, nur mäßiges Gedicht. Immer wieder träumt er sich auch in die Gruppe 47 und trifft sich mit anderen Ruhrpottpoeten, was mich als Nichtgermanisten auf Dauer etwas nervte.
Schließlich endet erst der Workshop, dann der Zivildienst und es nicht klar, wie Volkers Leben weitergeht. Klar ist nur, dass Berlin nicht seine Zukunft ist.

Dieser Roman bietet gute Unterhaltung, aber die Frage: „Was lerne ich aus diesem Buch?“ muss wohl mit „Nichts“ beantwortet werden. Deswegen ein Stern Abzug.

Lieblingszitat:
Wer mit dem Schreiben anfängt, kann auch mit dem Schreiben aufhören. (S.181)

Bewertung vom 12.05.2019
Bungalow
Hegemann, Helene

Bungalow


gut

Großstadt im RTL-II-Milieu

Eigentlich wollte ich mit diesem Buch die Freibadsaison eröffnen. Nach verheißungsvollen Ostertagen musste ich die Badesaison aber abbrechen und das Buch lag angelesen auf meinem Nachttisch.

Von großer Spannung zeugt das nicht.
Mir fehlte auch die Motivation das Buch von vorn zu beginnen, denn die alkoholabhängige Mutter, die nur im liegt und mitunter am Monatsende nicht genug Geld fürs Essen hat, worunter auch die Tochter und Ich-Erzählerin leidet. Mir gefällt, dass die Sprache dem Millieu entsprechend ist.

Eigentlich habe ich das Buch mehr als Sammlung von Kurzgeschichten gelesen. Etwa wie man im Kaufhaus zelten kann oder die verschiedenen Arten von Selbstmorden. Nicht zuletzt auch der fehlende Fluchtinstinkt der PanAm-Passagiere bei Flugzeugunglück in Teneriffa verdeutlichen, dass die Autorin schreiben kann.

Die Spaltung der Gesellschaft der Bungalow- und der Hochhausbewohner, die sich bis in den Unterrichtsverlauf der Klassen auswirkt (Kinder aus Hochhäusern sind deutlich zurück) , zeigt Ansätze von Sozialkritik. Insgesamt also doch 3 Sterne.

Bewertung vom 07.05.2019
Warum schweigen die Lämmer?
Mausfeld, Rainer

Warum schweigen die Lämmer?


weniger gut

Definition von Lügenpresse auf links

100 Seiten und gut ist. Der Autor, der sich selbst in der Einleitung für Wiederholungen entschuldigt, weil die Kapitel sich auf verschiedene Anlässe beziehen hat als Kernthese, dass sich die repräsenta­tive Demokratie in eine expertokratische, kapitalistische Elitendemokratie verwandelt hat (S.18).

Da fällt mir glatt die 3sat Sendung Nano vom 25.4.2019 ein, die Populismus wie folgt definiert:
1. Die Gesellschaft besteht aus Volk und Elite.
2. Das Volk ist gut – die Elite schlecht.
3. Die Macht muss von der Elite zum Volk.

Das sich Mausfeld vom Rechtspopulismus abgrenzen muss, findet spät statt. Auf S.77f weist er darauf hin, dass die Rechten der Elite nutzen, auf S.200 sieht er die Erfolge der Rechten als „Konsequenz der radikalen Entleerung des politischen Raums."
Historisch kann Mausfeld bis auf Aristoteles zurückgreifen, der befürchtete, dass die Mehrheit der Besitzlosen, wäre sie an der Macht, der Minderheit der Besitzenden ihr Eigentum wegnehmen würde.

Besonders eingeschossen hat er sich dabei auf die Medien. Meine Motivation das Buch bis zum Ende zu lesen, war das Internet. Fällt dem Autor irgendwann auf, dass sich durch das Internet die Medienlandschaft geändert hat? Klar gibt es heute fake news, aber das Informationsmonopol der Elite ist durchbrochen. Leider habe ich nicht einmal das Wort „Internet“ gelesen.
Auch das Bildungssystem versagt. Die Kinder werden zu Steuerzahlern und nicht zu kritischen Bildungsbürgern erzogen.
Zweiter Gegner vom Autor ist der Neoliberalismus. Jean Zieglers Zitat, dass die neoliberale Weltordnung 56 Millionen Menschen in einem Jahr umbringe, muss zumindest entfaltet werden. Vergleiche zwischen Neoliberalismus und Faschismus sind bei Mausfeld beliebt.
Nur einmal überzeugt er, wenn er darlegt, dass die Meldung der Folter im Gefängnis im Irak durch Amnesty International über zwei Monate von ARD und ZDF ignoriert wurde. Bei der Aufzählung gelungener oder versuchter Systemwechsel auf S.41 durch die USA fehlt erstens die Quelle, zweitens ist nicht klar, wieso die USA in Syrien und Libyen einen Systemwechsel wollte, in Ägypten und Tunesien aber nicht. Krieg gehört für Mausfeld zum Systemwechsel wohl dazu. Das schreibt er aber nicht.

Er spricht von Empörungsmanagement, das meint Aufstandsbekämpfung bei befreundeten und Aufstandsorganisation bei unerwünschten Regierungen (S. 43).
Weiter behauptet er, dass der Neoliberalismus mit „Falschwörter“ wie Freihandel oder Lohnnebenkosten arbeitet (S.74). Für mich sind das Fachwörter. Wenn das nicht so ist, dann hätte ich das gerne entfaltet.

Drei Kapitel des Buches sind Interviews. Alle hätte ich weggelassen. Das letzte Kapitel über die Wiedereinführung der Folter halte ich wiederum für gelungen.

Mausfeld ist Psychologe und beschreibt anfangs schön, wie man durch Weglassen von Informationen Wahrnehmungen verändern kann. Was mir auch gut gefällt, ist die Beschränkung des Diskussionsraum, da Argumente aus Sicht der Elite als irrational, extremistisch, populistisch oder unverantwortlich dargestellt werden (s. Abb. S.202). Alternativlos fehlt übrigens.

Schade ist, dass das Kapitel fehlt, was man gegen den Neoliberalismus machen kann. Die Grünen werden, vermutlich wegen ihrer Beteiligung an der Schröder-Regierung ebenfalls als Kartellpartei bezeichnet. Dabei sind sie basisdemokratisch und für Volksabstimmungen, die nicht alle im Sinne der Elite laufen.

Mir ist vollkommen bewusst, dass das beispielsweise die Elite der Autoindustrie alles dafür macht, dass Auto fahren als kaum umweltschädlich erscheint und dass mein grüner Ministerpräsident sich nicht als Gegner der Autoindustrie eignet, aber welche Wege wir beschreiten sollen, damit wir besser leben, sagt der Autor nicht.

Dirk Müller in seinem Buch „Machtbeben“ argumentiert ähnlich und gibt mehr Beispiele. Das hat mir besser gefallen. Dieses Buch kann leider nur 2 Sterne erhalten.

1 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 30.04.2019
Welch kleiner Teufel führt ihre Hand?

Welch kleiner Teufel führt ihre Hand?


sehr gut

Zeitgenössische Autoren schreiben über die Romantik

Feridun Zaimoglu schreibt einen Briefwechsel zwischen Karoline von Günderrode und Clemens Brentano weiter. Thea Dorn beschreibt, wie Eichendorff an seinen Gedichten gearbeitet hat, dass sie immer einen Gedichtsband von ihm auf dem Nachttisch liegen hat und dass sie als Schülerin den Taugenichts mit „taugt nichts“ kommentiert hat.
Später wird Wolfgang Büscher noch eher uninteressant über Eichendorffs Tagebuch und Katharina Hacker weitaus spannender über die Entstehung des Gedichtes „Des Kindes Leben und Tod“ berichten.

Peter Härtling wundert sich, dass Brentano sein Lureley-Gedicht nach seinem Roman Godwi in den „Mährchen vom Rhein“ eine 2. Fassung gegeben hat. Michael Lentz schreibt über Friedrich Schle­gel, dessen Welteinteilung mich aber langweilte bis auf zwei Aphorismen: „Poesie ist religiöser als Religion“ und „Was man nicht versteht, hat Schlegel geschrieben.“ Beides ist von Schlegel.
Eva Demski erzählt die Geschichte von Karoline von Günderrode zu Ende, die sich aus Liebeskummer das Leben nahm. Sibylle Lewitscharoff nimmt zum Verhältnis von Brentano mit der Nonne Anna Katharina Emmerick Stellung, was schon Duve in „Fräulein Nettes kurzer Sommer“ kurz erwähnt hat. Die Wundmale der Nonne traten übrigens nie auf, wenn der Vatikan dies überprüfen wollte.
Das Werk beschließt Patrick Roth mit einem Text über das Geheimnis der Handschrift.

Immer wieder schöne Fotos von Handschriften der Romantiker, die jeweils zu Beginn des Kapitels entziffert werden. Die Texte sind unterschiedlich stark, aber 4 Sterne scheinen angebracht.

Bewertung vom 27.04.2019
Von Zeit und Macht
Clark, Christopher

Von Zeit und Macht


sehr gut

Meisterhaftes Geschichtsbuch, das beispielgebend für deutsche Professoren sein sollte

Ich bin kein Historiker und historische Theorien interessieren mich wenig. Mein Kenntnisstand der preußischen Geschichte war vor diesem Buch auch gering, deswegen habe ich viel Neues gelernt.

Preußen wuchs zu einer europäischen Großmacht nach dem Dreißigjährigem Krieg. Dabei musste Friedrich Wilhelm, der große Kurfürst, erst die Macht der Stände brechen bevor er unter allerlei außenpolitischen Krisenherden (die Schweden in Pommern, Frankreich könnte von den Niederlande Kleve besetzten, Polen und Sachsen bedrohen Preußen) ein stehendes Heer bilden und Kriegserfol­ge erst mit und dann gegen die Schweden in Pommern feiern konnte. Ihm war der Übertritt seines Großvaters zum Calvinismus wichtig, wollte aber von zweiter Reformation nichts wissen. Für seine Geschichtsschreibung stellte er mehrere Historiker ein, der wichtigste hieß Pufendorf.

Beim König Friedrich II. (der Große) sah die Welt anders aus. Mit Voltaire befreundet schrieb er selbst. Die Entmachtung der Stände durch seinen Urgroßvater ließ er aber lieber aus. Auch die Konfession seiner Landsleute war dem schwulen Friedrich egal.

Zu Bismarck wundert mich, dass weder FAZ noch SZ erwähnen, dass der Reichskanzler Politik wie ein Schachspiel verstand. Neun Seiten über die wachsende Bedeutung des Schachspiels Ende des 19. Jahrhunderts. Berühmt ist die Karikatur, in der Bismarck mit dem Papst während des Kulturkampfes Schach spielt.
Nach der Revolution 1848 musste Bismarck wechselnde Mehrheiten für sich im Parlament suchen, mal beriet er sich mit den Sozialisten, wie die Sozialversicherungsgesetze gestaltet werden, später verfolgt er sie. Mal sucht er Unterstützung bei den Liberalen, mal bei den Konservativen.

Die Nazis wiederum wollten von Null anfangen und einen Nordischen Mythos begründen, während italienische Faschisten das Römische Reich zum Vorbild hatten. Besonders gefällt mir, dass der Autor auch in diesem Kapitel einen Exkurs macht über die Geschichtsmuseen der Nazis, die in Berlin z.B. das Revolutionsmuseum der Linken in der Parochialstraße und das Anti-Kriegs Museum für ihr Vergangenheitsbild missbrauchten.

Im Epilog schlägt der Autor den Bezug zur Gegenwart und zu anderen Ländern. Spätestens seit der Finanzkrise fehlt aber dem Kapitalismus sein Narrativ. Auch die Migrationskrise und der Klimawandel fehlt eine Einordnung in die Geschichte.

Da ich vor allem die Theorien nicht immer spannend fand, vergebe ich 4 Sterne. Aber eher 5 als 3.

Lieblingszitat:
Der Strom der Zeit läuft seinen Weg doch, wie er soll und wenn ich meine Hand hineinstecke, so thue ich das, weil ich das für meine Pflicht halte, aber nicht weil ich damit seine Richtung zu ändern meine. (Bismarck, 1852 S.133)

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 23.04.2019
Verzeichnis einiger Verluste
Schalansky, Judith

Verzeichnis einiger Verluste


sehr gut

Symmetrie, Kunst, Sachbuch und Kurzgeschichten

5 Sterne für die Idee, 5 Sterne für die Vorbemerkung, 5 Sterne für die schwarz auf schwarz gedruckten Bilder vor jedem Kapitel, 5 Sterne für die sachliche Beschreibung der Verluste.

Doch leider konnten die zugehörigen Kurzgeschichten mich nur selten überzeugen. Das Vorwort über den Tod, der Bericht von der Nachbarinsel der versunkenen Insel und der des Kaspischen Tigers in Rom war ja noch durchaus interessant. Danach wurde es mir aber zu abgefahren und erst Sapphos Liebeslieder konnten mich wieder überzeugen.

Jede Geschichte ist ein Überraschungsei, mal gut, mal schlechter. Schalansky scheint bekannt für ihre Naturbeschreibung zu sein, die Beschreibung des Flüsschen Ryck im Hafen von Greifswald fesselte mich aber nicht. Wirklich spannend fand ich nur den Schweizer Künstler Armand Schulthess in „Enzyklopädie im Wald“, dessen Erben ihn für verrückt hielten und fast alles von ihm entsorgten.

Manchmal glaube ich, dass ein Sachbuch mich glücklicher gemacht hätte. Da die Erzählungen nur 2 bis 3 Sterne verdient haben, gebe ich als Gesamtnote 4 Sterne.