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La Calavera Catrina

Bewertungen

Insgesamt 649 Bewertungen
Bewertung vom 13.05.2022
Jede*r kann die Welt verändern! - Ich bin Anne Frank
Eliopoulos, Christopher;Meltzer, Brad

Jede*r kann die Welt verändern! - Ich bin Anne Frank


ausgezeichnet

Der Comic"Ich bin Anne Frank" ist ein Teil der Biografienreihe "Jede*r kann die Welt verändern!“, das Kinder ermutigen möchte, ihre Träume zu verwirklichen. Die Lebensgeschichte von Anne Frank inspirierte viele Menschen und leistet einen wichtigen historischen Beitrag, um sich an die Opfer des Holocaust zu erinnern.

Um das Thema mit Kindern zu besprechen, eignet sich dieser kindgerechte Comic hervorragend. Einfühlsam und nachvollziehbar zeigt das Buch das Leben von Anne Frank, mit dem Fokus auf die Zeit, als Anne mit ihrer Familie im Versteck ausharren musste. Sehr atmosphärisch dargestellt, sind die Seiten schwarz umrandet und machen die Enge und Angst greifbar, die die Familie erlebte. Das Ende fand ich besonders gelungen: statt Angst und Wut, steht die Hoffnung und die Hilfsbereitschaft im Vordergrund und Annes Vermächtnis an die Menschheit: ihr Tagebuch. Annes zuversichtliche Persönlichkeit wird sehr schön dargestellt, was das Buch zu keiner Zeit deprimierend macht. Die Gestaltung ist hochwert, Bilder und Text ergänzen sich harmonisch und die Illustrationen von Christopher Eliopoulos begeistert mit ausdrucksstarken Gesichtern und vielen Details.

Ich kann die Lektüre des Tagebuchs von Anne Frank nur empfehlen und ich finde die Umsetzung des Comics für Kinder sehr gelungen, denn es macht so neugierig, dass sich der ein oder andere sicher auch darüber hinaus, mit Anne Frank beschäftigen möchte.

Bewertung vom 13.05.2022
Du bist mehr als genug
Desai, Sarah

Du bist mehr als genug


ausgezeichnet

Ich hatte anfangs etwas Sorge, es könnte zu spirituell für mich werden, aber glücklicherweise ist der Ratgeber praxisnah, übersichtlich und auf den Punkt gebracht, weshalb ich die Übungen auch in meinen zeitlich knappen Alltag integrieren konnte und als stimmungshebend empfand.

Alle drei Teile des Buches bauen aufeinander auf. Im ersten Teil geht es darum, den eigenen Selbstwert zu erkennen. Im zweiten Teil geht es darum, Mitgefühl und Fürsorge für sich selbst zu entwickelt, um abschließend mehr Selbstvertrauen aufzubauen.
Sarah Desai schreibt einfühlsam und arbeitet mit praktischen Übungen, Meditationen, Visualisierungen, Atemtechniken, Affirmationen und Mantras, um beispielsweise die Glaubenssätze neu zu programmieren oder die innere kritische Stimme zu besänftigen. Dieses Konzept zieht sich durch das gesamte Buch und jeder der drei Teile beinhaltet noch eine kurze, märchenhafte Geschichte, inspirierende Zitate oder Informatives.
Manche Methoden erfordern auch etwas mehr Zeit, ein wenig Mut und Ausdauer. Es ist gut, wenn man aufgeschlossen bliebt und sich Anleitungen aufnimmt, um sie sich anschließend anhören zu können. Andere Übungen schenken bereits durch ihre Worte Trost und Positivität. Es empfiehlt sich, es anfangs chronologisch durchzuarbeiten und dann als Nachschlagewerk zu nutzen. Dafür ist es gut geeignet, weil man sich durch die Piktogramme und farbliche Gestaltung wunderbar zurechtfindet, und es ist visuell ansprechend und beruhigend. So könnte bereits das Durchblättern einen tröstlichen Effekt haben.
Besonders gefallen hat mir die Vielzahl an praktischen Übungen, die leicht umsetzbar sind: ein dankbarer Gedanke vor dem Einschlafen oder ein bewusster Atemzug zum Innehalten. Selbst die fantasievollen Übungen fand ich inspirierend, wie das Mondritual, bei dem man die eigenen Licht- und Schattenseiten annimmt. Vermisst habe ich ein Register, um bei Bedarf einschlägige Begriffe nachzuschlagen, und ein Literaturverzeichnis zum Weiterlesen.

Fazit: Eine vielseitige Sammlung von praxisnahen Übungen und Tools, um nachhaltige Veränderungen anzustoßen. Ansprechend gestaltet, übersichtlich und reduziert auf das Wesentliche ist es super geeignet, um den eigenen Wert zu erkennen, und zu üben, wie man sich selbst netter behandelt und das Vertrauen in sich stärkt. Ein liebevoller Anstupser für jeden Tag - immer griffbereit.

Bewertung vom 29.04.2022
Nachtschwärmerin
Mottley, Leila

Nachtschwärmerin


sehr gut

„Ich weiß nicht, ich hatte im Grunde keine andere Wahl. Ich bin da irgendwie reingerutscht, und dann gab es keinen Weg mehr raus, versteht du?“

Eine bewegende Geschichte über ein junges Mädchen auf der Schwelle zum Erwachsenwerden, die zu viel Last auf ihren Schultern zu tragen hat und dann noch die Verantwortung für ein Kind übernimmt. In Ermangelung anderer Möglichkeiten, um die Miete und Essen zu bezahlen, ergibt sich die Chance, auf der Straße schnelles Geld zu verdienen. Und so gerät Kiara in ein Strudel aus Sex, Misshandlung und Erpressung von Männern, dessen Namen sie nicht kennt. Es sind nur Nummern oder markante Merkmale, die ihr in Erinnerung bleiben. Schonungslos, nüchtern und bildhaft erzählt Leila Mottley in ihrem Debüt Kiaras Geschichte. Der Fokus liegt ganz klar auf der Ich-Protagonistin und der Frage, wie es soweit kommen konnte, wie ihr Umfeld darauf reagiert und wie sie selbst damit umgeht - ob sie sich der Gefahr eigentlich bewusst ist. Die Ich-Perspektive bringt nur sparsam zum Ausdruck, was Kiara fühlt und denkt, denn hauptsächlich verdrängt sei vieles und erinnert sich an vergangene Tage mit der Familie. Kiara ist eine liebevolle Person, naiv, mal selbstbewusst, mal wortkarg, robust und doch verletzlich, als würden ihre vielen Facetten die Widersprüchlichkeit der Welt widerspiegeln. Ihre Familienverhältnisse und die wiederholenden Muster, aus fehlendem Rückhalt und schmerzhaften Enttäuschungen, spielen die Hauptrolle, neben den schrecklichen Konsequenzen.

Der Schluss hat mir gefallen, auch wenn ich mir noch ein paar Seiten mehr gewünscht hätte. Man kann sagen, auf den letzten dreißig Seiten passiert noch so einiges. Ein Abschluss, der die Ungerechtigkeit und das Versagen offenlegt und zeigt, wie wichtig Menschen im Leben sind, die uns unter- und beschützen. Dazu passen auch die abschließenden Anmerkungen der Autorin. Insgesamt hat es mir an Spannung gefehlt, da dem Prozess und der Prostitution nicht so viele Seiten gewidmet wurden, wie ich nach dem Klappentext angenommen hatte. Dafür hat mich Kiaras Schicksal berührt, das gesellschaftskritisch schmerzhafte Missstände aufzeigt. „Aber ganz gleich, wie viel Glück man hat, man muss immer noch tagein, tagaus schuften, um am Leben zu bleiben, während man mit ansieht, wie jemand anderes aus dem sozialen Netz fällt und die Asche in der Bucht verstreut wird.“ Ich möchte auch nicht unerwähnt lassen, dass mir das handliche Buchformat als Hardcover sehr gefallen hat.

Fazit: Ein lesenswertes Romandebüt über das Porträt einer Minderjährigen, die, auf sich allein gestellt, unerfahren und ausgebeutet, in einen Missbrauchsskandal der Polizei verwickelt wird und um Zusammenhalt in der Familie kämpft. 3,5 Sterne für diese schwere Kost.

Bewertung vom 29.04.2022
Papyrus
Vallejo, Irene

Papyrus


ausgezeichnet

Das Buch „Papyrus“ konnte mich mit seinem schlichten und edlem Aussehen ebenso begeistern, wie die über siebenhundert Seiten Inhalt. Die spanische Autorin Irene Vallejo schildert die Reise der Bücher durch die Menschheitsgeschichte, wie alles seinen Anfang nahm und was Bücher so unentbehrlich macht, weshalb sie mit großer Wahrscheinlichkeit nicht, wie befürchtet, durch technische Fortschritte überflüssig sein werden. Die Reise beginnt in Griechenland, erste schriftliche Aufzeichnungen, die immer andere Mittel und Wege finden, sich zu präsentieren: über Papyrusrollen bis zum eBook-Reader. Irene Vallejo schreibt von spannenden Begebenheiten, bezieht sich auch auf andere kulturelle Werke, die Geschichten präsentieren, und Orte besonderer Bedeutung, wie die berühmte Bibliothek von Alexandria oder der Palast der Papyri in Herculaneum.

Man merkt Irene Vallejo die große Leidenschaft und Faszination für Bücher und das Lesen (und Vorlesen) an, die sie nahtlos an ihre Leserschaft weitergibt. Es ist eine Freude ihren persönlichen Erfahrungen und Erinnerungen, Anregungen zum Weiterdenken, klugen Schlussfolgerungen, informativen Recherchen und Anekdoten zu folgen. Der Schreibstil ist wunderbar lebendig, abwechslungsreich, durchaus humorvoll und, trotz Komplexität, verständlich. Ich habe so einige schöne Zitate notiert, konnte viel mitnehmen, was ich noch nicht wusste und hatte eine herrlich entspannte Lesereise, während ich darüber lesen konnte, wie schön das Lesen ist.

Fazit: Ein Schatz für alle, die Bücher lieben. Große Empfehlung! Ganz besonders, wenn die Antike als Themenfeld die Neugier weckt.

Bewertung vom 29.04.2022
Ein französischer Sommer
Reece, Francesca

Ein französischer Sommer


gut

Leah wird auf eine Anzeige im Stadtmagazin aufmerksam, in welcher der Schriftsteller Michael eine Assistentin sucht. Es geht darum, Michaels Tagebücher aus zwei Jahrzehnten zu sichten und zu übertragen. Sie hat gerade erst ihren Abschluss gemacht, ohne genau zu wissen, wie es weitergeht, aber die Anzeige macht sie neugierig. Doch erst über Umwege kommt es zu einem Treffen und die Dinge nehmen ihren Lauf.

Francesca Reece erzählt ihr Debüt aus zwei Ich-Perspektiven: mit Michael taucht man in seine 70er Jahre ein, während Leah im Hier und Jetzt bliebt. Michael wird ungeschönt als rücksichtslose Persönlichkeit dargestellt und seine Vergangenheit gibt interessante Rückschlüsse über sein Verhalten. Leah hingegen hat ein angenehmes Naturell. Mit ihrer Schwäche, den Bewertungen anderer hohe Bedeutung beizumessen, bildet sie einen starken Kontrast zu Michael, der es nicht darauf anlegt, sympathisch zu wirken. Der ausgeglichene Schreibstil verleiht dem Roman einen Flair von Sinnlichkeit und einen spürbaren französischen Esprit voller Klugheit und Charme. Das passt ausgesprochen gut zu der Vorstellung warmer Sommertage und bietet bildhafte Eindrücke französischer Kultur und Landschaftsbilder. Den auch sprachlich spürbaren Wechseln zwischen den Perspektiven, fand ich gelungen. Jugendliche Moderne trifft auf gekünstelte Stabilität. Mit Eingewöhnungszeit wurde der Roman nach zweihundert Seiten deutlich interessanter und ich durchlebte mit Leah aufregende Zeiten. In Hinblick auf das Ende, fehlte es mir an Nachvollziehbarkeit. Dadurch konnte mich die Handlung insgesamt weniger überzeugen, aber die sommerliche Stimmung, der französische Stil und Leah werden mir in guter Erinnerung bleiben. Eine gute Mischung aus anspruchsvollem Stil und federleichtem Sommer.

Bewertung vom 16.04.2022
Der Flussregenpfeifer
Friedrich, Tobias

Der Flussregenpfeifer


gut

"Der Flussregenpfeifer" greift eine wahre Geschichte auf: 1932 beginnt der Abenteurer Oskar Speck seine unglaubliche siebenjährige Reise in einem Faltboot. Ein Roman über das Scheitern, ungebrochenen Ehrgeiz und große Herausforderungen, der ein paar wahre Begebenheiten mit viel Fiktion vermischt. Zu Beginn erfahren wir auch, wie Oskar sich auf diese Tour vorbereitet, Eckdaten seiner Unternehmung festlegt und was ihn überhaupt dazu bewogen hat, sich dieser Herausforderung zu stellen. "Je weiter ich komme, desto weiter möchte ich.“ 
Die Gestaltung des Buch ist sehr ansprechend: handschriftlicher Tagebucheintrag, kunstvolle Illustrationen, Routenplan, Fotos und ein abenteuerliches Cover, das möglicherweise zu trügerische Vorannahmen verleitet. "Der Flussregenpfeifer“ ist kein Tatsachenbericht - wenn auch umfangreich recherchiert -, sondern eine Geschichte, die Oskar Specks Reise zwar aufgreift, aber zur Nebenhandlung degradiert, Geschichten darum herum spinnt und sich kreative Freiheiten nimmt. Dabei fordert Tobias Friedrich die volle Aufmerksamkeit seiner Leser*innen, denn mehrere Erzählstränge, teils wahre Nebenfiguren, Dialoge, Zeitsprünge und der ständige Ortswechsel vordern einem einiges ab, um nicht völlig verwirrt auf der Strecke zu bleiben. Der Schreibstil ist flüssig und die Schrift angenehm groß. Gut zu Wissen für alle, die bei dicken Wälzern eher abgeschreckt sind, sich aber durchaus für das Buch interessieren.
Wie man nun vermuten könnte, ist Oskar als Held der Geschichte zu oberflächlich geraten. Man erfährt einfach zu wenig über die Hauptfigur und seine Gefühlswelt. Ich hätte mir einen stärkeren Fokus auf die Bootsfahrt gewünscht, wie es Klappentext und Cover vermuten ließen, um seine Abenteuerlust und Faszination tiefgreifender nachvollziehen zu können. Mich hätte beispielsweise interessiert, wie er mit Herausforderungen umgegangen ist und sich unterwegs versorgen konnte. Spannende Fragen, die nicht aufgegriffen werden. Das Ende hatte seine Höhepunkte und auch im Verlauf der Geschichte gibt es spannende und inspirierende Textstellen, die mir gefallen haben.
Insgesamt ein durchschnittlicher Roman, beim dem man zwar seinen Fokus verschieben muss, um unvoreingenommen den Unterhaltungswert genießen zu können, der aber handwerklich und gestalterisch auch überzeugen kann.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 16.04.2022
New York und der Rest der Welt
Lebowitz, Fran

New York und der Rest der Welt


sehr gut

Bei „New York und der Rest der Welt“ handelt es sich um eine ausgewählte Textsammlung von der mittlerweile 71-jährigen Fran Lebowitz, die überwiegend in den 70er Jahren entstanden sind. In dieser Zeit begann die Kreativität in New York zu florieren. In den 70er Jahren ging New York aber auch durch sehr turbulente Zeiten, vor allem wegen der Finanzkrise und des Wirtschaftsabschwungs. „New York City soll sich zum Teufel scheren!“, sagte Präsident Ford damals. Aber die Mieten waren günstig für Künstlerinnen, wie Fran Lebowitz, die in ihren Essays eine Vielzahl wahlloser Themen ihrer Karriere als Schriftstellerin verarbeitet, wie das New Yorker Großstadtleben, Kunst, Kommunismus, Mütter, Diäten, die katholische Kirche - ironisch, zynisch und mit wortgewandeter Arroganz. Sie sieht die Dinge auf eine neue Weise, erweitert den Horizont, macht auf die dunklen Ecken aufmerksam, die man bisher ignorieren konnte und macht dabei vor nichts halt. Es wirkt so voller Leichtigkeit und Biss, wenn man ihre Texte liest. Jedes Wort scheint zu sitzen, und was dazwischen steht auch. Man erhält Einblicke in ihr Leben, ihre Erinnerungen, ausgemalte Visionen und zahlreiche Listen. Was Fran Lebowitz beschließt, ist auch so. Ihr New York. Ihre Meinung über den Rest der Welt.

Fazit: Empfehlenswert für kleine, unterhaltsame Lesehappen, die man mit charmantem Zynismus füllen möchte. Für längere Lesestunden möglicherweise schwere Kost, aber ein einzigartiges Unikat, das vielleicht nicht immer zündet, manchmal ermüdet, aber meistens Schmunzeln lässt.

Bewertung vom 16.04.2022
Die dunklen Geheimnisse von Heap House
Carey, Edward

Die dunklen Geheimnisse von Heap House


ausgezeichnet

"Das dunkle Geheimnis von Heap House" ist der Auftakt der Iremonger Trilogie, einer schrullig, skurrilen Reihe, mit befremdlichen Protagonisten, Geheimnissen und ironischem Humor.

Mitten in einer riesigen, stinkenden Müllhalde steht das herrschaftliche Anwesen der Iremonger Familie und seinem Patriarch Umritt Iremonger. Dort leben mehrere Generationen unter strengen Hausregeln zusammen: Oben, die reichen Familienmitglieder, abgegrenzt in männliche und weibliche Sippschaft. Unten leben die Iremonger-Bediensteten, bei denen es sich um entfernte Verwandte handelt, die für den reibungslosen Ablauf verantwortlich sind, denn mit den Etagen steigt die Gesellschaftsschicht. Sie putzen, kochen, organisieren und blieben dabei möglichst unsichtbar. Die Oberen sind merkwürdige, kalte Leute, die das Haus nicht verlassen, in dem nur Kerzen und Lampen Licht verbreiten, die sich untereinander fortpflanzen - Vetter und Cousine sind sich früh versprochen - und denen ein Geburtsobjekt zugeteilt wird, das sie überall hin mitnehmen. Es handelt sich um alltägliche aber bedeutsame Gegenstände, die ihrer Besitzer ein Leben lang begleiten und mit denen sie sich verbunden fühlen. Der fünfzehneinhalbjährige Clod Iremonger hat die besondere Fähigkeit diese Objekte sprechen zu hören. Sie sagen ihm ihren Namen. Nur Doktor Aliver Iremonger scheint etwas Fürsorge für Clod aufzubringen, vom Rest der Familie wird der kränklich blasse Waise mit dem Stöpsel (sein Geburtsobjekt) ausgegrenzt, von seinem Cousin Moorcus Iremonger sogar tyrannisiert. Tummis Iremonger, der die Gesellschaft von Tieren vorzieht, ist sein einziger Freund und weiteres Opfer von Moorcus, bis Clod dem Waisenmädchen Lucy Pennant begegnet - eine Iremonger aus London mit Sommersprossen und dichtem rotem Haar. Sie treffen sich heimlich und brechen damit alle Regeln, denn Kontakt zu den Dienstboten ist streng untersagt. Namen sind kostbar; Obere haben sie, Objekte haben sie, aber die Bediensteten scheinen in ihrer Identität immer mehr zu verblassen. Das sind aber nicht die einzigen Seltsamkeiten: Gegenstände sind plötzlich nicht mehr aufzufinden oder verselbstständigen sich, und es treten einige Geheimnisse zu tage, die nichts Gutes ahnen lassen.

Ich hatte am Anfang ein bisschen Schwierigkeiten reinzukommen: viele Namen, skurrile Informationen und die Atmosphäre des 19. Jahrhunderts, die auch sprachlich angedeutet wird. Dann wird es aber immer spannender, die Figuren werden interessanter. Ich wollte wissen, wie es weitergeht und konnte das Buch nicht mehr aus der Hand legen. Es wird auch beschrieben, wie Lucy Pennant den Weg nach Heap House findet und Clod kennenlernt - eine sehr amüsante Szene. Kapitelweise wechselt die Ich-Perspektive zwischen Clod und Lucy, nur unterbrochen durch kurze Einheiten anderer Familienmitglieder, die für Abwechslung und neue Blickwinkel sorgen. Die Porträts der Kapitelanfänge zeigen die wichtigsten Personen. Die illustrierten Querschnitte des Heap Houses im vorderen und hinteren Buchdeckel geben einen tollen Überblick über das Gebäude und seine Etagen.

Ich habe richtig Lust auf die Fortsetzung bekommen und kann euch "Das dunkle Geheimnis von Heap House“ empfehlen, wenn euch dunkle Geheimnisse, wunderliche Ideen, befremdliche Charaktere, ein gruseliges Anwesen inmitten einer Müllheide und schrullig-nüchterner Humor nun neugierig gemacht haben.

Bewertung vom 16.04.2022
Die Knochenleser
Ross, Jacob

Die Knochenleser


ausgezeichnet

„Manchmal weiß eine Pessohn was, und weiß nich, woher.“ (Zitat von Miss Stanislaus)

"Der Knochenleser" erzählt die Geschichte von Michael Digsons genannt Digger in der Ich-Perspektive, wie er gezwungenermaßen zur Polizei kam, um sich von sich selbst abzulenken, sich weiterentwickelte und sein Talent für das Lesen von Knochen entdeckte. Auch persönliche Gründe haben ihn dazu bewogen, bei der Polizei zu arbeiten: er will das Verschwinden seiner Mutter aufklären. Digger verfügt über eine gute Beobachtungsgabe, sowohl was Menschen und ihre Körpersprache betrifft, als auch darüber, was menschliche Überreste für Informationen enthalten. Digger gehört zu einem schnellen Eingreifteam, „junges Gemüse von der Straße“ - zusammengestellt von Detective Superintendent Chilman, der mit weiser Voraussicht eine Gruppe organisierte, die „zackig denken und zackig handeln“ kann. „Keine alten Säcke, die noch vor Dienstschluss nach Hause zu ihrer Frau und Kingsize-Mahlzeit trotten.“ Mit dieser Sicherheit im Rücken geht DS Chilman in den Ruhestand, drängt aber die Gruppe darauf, seinen letzten ungelösten Fall abzuschließen. Hier kommt Miss Stanislaus ins Spiel. Ein Geniestreich von DS Chilman, dessen Tochter über mentalistische Fähigkeiten verfügt und eine unverwechselbare Art hat, die Eindruck hinterlässt. Digger und Miss Stanislaus harmonieren gut zusammen als Ermittlergespann. Insgesamt haben mich die Charaktere des Buches faszinieren können, weil sie unvorhersehbar und interessant gestaltet sind. Sie sind nicht unfehlbar, haben aber gute Instinkte und besitzen nette Eigenheiten: die schnoddrige Sprache von Chilman, oder Miss Stanislaus vergnügtes „Nah, dankefehr.“ Der Schreibstil passt hervorragend und erzählt in bildhafter Sprache nicht nur über Digger und seine hartnäckigen Ermittlungen, sondern auch von der hässlichen Seite der Karibikinsel Camaho, die gezeichnet ist von Misshandlungen gegen Frauen. Ein

Fazit: Ein unkonventioneller Krimi mit karibischem Hauch, authentisch originellen Charakteren und dunklen Geheimnissen - ein kriminalistisches Lesevergnügen, das auf eine ebenso gelungene Fortsetzung hoffen lässt.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 16.04.2022
Auf der Zunge
Clement, Jennifer

Auf der Zunge


sehr gut

Es ist ein Apriltag in New York, an dem eine Bibliothekarin ziellos durch die Stadt streift. Sie begegnet zahlreichen Männer, die sich durch ihre Berufung auszeichnen, wie ein Soldat, der seine Erfahrungen teilt und dem Zufall große Bedeutung beimisst, ein Polizist, der seine Bedenken äußert oder ein Dichter, der ihre Leidenschaft teilt. All diese meist männlichen Bekanntschaften hinterlassen Spuren, Erinnerungsstücke, Versprechen und zurück bleibt eine nachdenkliche Frau, die weiterzieht. Es sind Begegnungen wie aus einem Traum, Männer, die ihr Beachtung schenken, einfühlsam sind und auf sie eingehen - ihren Sehnsüchten und dem Wunsch nach körperlicher Intimität entspringen.
Was sie beobachtet weckt Erinnerungen, wie an ihre Urgroßmutter Annie oder „wie sie zum ersten Mal leise gelesen hat und in dem Moment ihren Verstand als Teil ihres Körpers Begriff“. Was sie fast alle gemeinsam haben, ist eine ungewöhnliche Vertrautheit, ein Mitteilungsbedürfnis und eine geheimnisvoll poetische Ausdrucksweise.

Die Autorin Jennifer Clement beobachtet genau die Umgebung und lässt ihre namenlose Protagonistin mit allen Sinnen ihre Umwelt wahrnehmen. Sie schaut an den Häusern empor, hört leises Heulen in der Ferne, spürt die kühle Brise auf der Haut, die durch die Straßen weht, riecht den Geruch von Papier, Leinen und Tinte, und schmeckt verbrannten Zucker und verbrannte Liebesäpfel. Diese Form der Achtsamkeit überträgt sich beim Lesen und hat einen entspannenden Effekt. Jennifer Clement verliert sich dabei nicht in Gefühlen und inneren Gesprächen, ganz gegenwärtig lässt sie die Frau zu Beginn durch die Stadt ziehen, bis die Grenzen immer mehr verschwimmen. Die Dialoge sind kurz, poetisch, vertraut und voller Andeutungen.

Ein Buch, wie ein lang andauernder Tagtraum. Man fragt sich, „was ist Traum und was ist echt?“ Sind es reale Inspirationen, erweckte Geschichten oder Geister aus der Vergangenheit? Es versteckt sich viel Weisheit in den Zeilen, Erkenntnisse, Andeutungen und Poesie. Es geht um die Regeln des Lebens, starke Gefühle, wie Reue und Sehnsucht, die Liebe zu Büchern, die innere Welt und die äußere. Und es geht um eine einsame Frau, die sich als Lügnerin beschimpft, aus der Schuldgefühle und Selbstzweifel sprechen, die sich in ihrem Leben gefangen fühlt und eine Möglichkeit sucht, zu entkommen. Ein ungewöhnliches Werk, das sich in ein paar entspannten Stunden lesen lässt. Aber man sollte Muße dafür haben und eine Schwäche für geruhsame Poesie und kleinen Fantastereien.