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Buchdoktor
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Deutschland
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Romane, Krimis, Fantasy und Sachbücher zu sozialen und pädagogischen Tehmen interessieren mich.

Bewertungen

Insgesamt 612 Bewertungen
Bewertung vom 04.01.2017
Der Bruder / Klara Walldéen Bd.2
Zander, Joakim

Der Bruder / Klara Walldéen Bd.2


ausgezeichnet

Fadi Ajam klaut als Mitglied einer Jugendgang in Stockholms Vorstadt Bergort Handys und Laptops, jede Ware, die sich schnell verscherbeln lässt. Seine Träume von einem anderen Leben führen ihn schließlich in eine Gruppe radikaler Islamisten. Die Motive seiner neuen Brüder hinterfragt er zunächst nicht und landet ohne militärisches Training als williger Laufbursche im Krieg des IS in Syrien. Fadis Schwester Yasmine hat als gefragte Expertin in Street-Art u. a. aktuellen Trends den Sprung aus dem Hochhaus-Ghetto geschafft und lebt in New York. Die Nachricht von Fadis angeblichem Tod in Syrien holt Yasmine zurück nach Schweden. Aktuelle Fotos lassen sie an Fadis Tod zweifeln, aber auch an Bildern und Nachrichten aus dem berüchtigten Vorort. Die Aufstände von Jugendgangs in Stockholm wirken zu planvoll gesteuert, um spontane Jugendkrawalle zu sein. Wo steckt Fadi - und wer sollte ein Interesse daran haben, die schwedische Hauptstadt zu destabilisieren?

In London wird Klara Walldéen im Stil eines Date-Raubs der Laptop gestohlen, der kurze Zeit später unter unglaubwürdigen Umständen wieder auftaucht. Jemand muss Klaras derzeitigen Auftrag verraten haben. Auch wenn sie ihre Daten stets äußerst überlegt sichert, muss sie sich fragen, wem sie mit ihrer Arbeit als EU-Expertin derart auf die Zehen getreten sein kann, um den offensichtlichen wie bedrohlichen Angriff per Schad-Software auf sie zu veranlassen. Klaras Kollege stirbt unter verdächtigen Umständen. Wiederholt stolpert sie bei ihrer Recherche über die gleichen Unternehmens-Namen. Sogar Klaras Erlebnisse im ersten Walldéen-Krimi beim Angriff eines Killerkommandos auf sie tauchen wieder aus ihrer Erinnerung auf. Die Wege beider Frauen kreuzen sich in Stockholm. Beide brauchen Verbündete bei ihrer Suche nach politischen und wirtschaftlichen Interessen hinter den Ereignissen.

Die Ereignisse um Fadi, Yasmine und Klara spielen sich - mit eingeschobenen Rückblenden - im Jahr 2015 ab. Fadi erzählt selbst und verdeutlicht mit dieser Perspektive seinen beschränkten Blick auf die Zusammenhänge. Die Aktualität der Thematik und die Ichperspektive des jugendlichen Dschihad-Kämpfers wirken äußerst beklemmend auf den Zuhörer. Fadis kindlich-naive Reise in den Dschihad sorgt bereits für Spannung; Ulrike Hübschmanns teils atemloser Vortrag der sehr emotional agierenden Frauenrollen steigert zusätzlich die beklemmende Wirkung von Zanders Politthriller.

Bewertung vom 04.01.2017
Wir beide wussten, es war was passiert
Herrick, Steven

Wir beide wussten, es war was passiert


sehr gut

Billy Luckett hat die Nase voll vom Leben mit einem Alkoholiker als Vater und haut einfach ab aus einem Kaff im hintersten Winkel Australiens. Der Junge, einer der Icherzähler der Geschichte, will in Richtung Westen trampen, fort vom sichtbaren Verfall eines Viertels, in dem für immer liegen bleibt, was einmal kaputt gegangen ist. Billy ist im Herzen vermutlich Anarchist; denn er will nicht denen vertrauen, die die Regeln machen. Für dieses Ziel lässt der 16-Jährige sogar seinen Hund Bunkbrain zurück.

Der Junge war schon immer wissbegierig, lieh, las und stahl Bücher in beeindruckender Zahl. Billy landet in einem Depot ausrangierter Züge und übernachtet fortan in einem Eisenbahnwagen. Bunkbrain war einmal ein bedeutender Eisenbahnknotenpunkt, der heute nicht mehr benötigt wird. Old Bill, ein älterer Obdachloser, hat sich dort in einem einfachen, aber peinlich genau organisierten Leben eingerichtet. Caitlin, die ebenfalls in der Ichform erzählt, arbeitet als Putzfrau bei MacDonalds und beobachtet Billy, wie er nicht gegessene Reste von den Tabletts der Kunden klaut. Caitlin müsste nicht arbeiten, sie stammt aus Verhältnissen, in denen Eltern Privatschulen finanzieren und ein anschließendes Studium zum Standard gehört. Sauber, reich und hochnäsig, Billy sieht sofort, woran er mit Caitlin ist. Beide Jugendliche sind sehr gute Beobachter, es macht Freude, ihren Beschreibungen zu folgen. Der dritte Icherzähler, Old Bill, lebt als Obdachloser, nachdem er durch den Tod von Frau und Tochter förmlich aus dieser Welt gefallen ist. Old Bill nimmt sich des Jungen an, will ihm einen Weg zurück in Schulbildung oder Arbeit zeigen. Doch beide Bills brauchen zu wenig für das von ihnen gewählte Leben, um einen Job zu benötigen. Erstaunlich, mit welch sicherem Urteil gerade Caitlin den Zusammenhang zwischen Wollen, Konsum und Überfluss erkennen kann. Im Vergleich mit Bill erkennt sie, dass sie bisher ein sorgenfreies Leben lebte, aber längst nicht erwachsen ist. Die Begegnung mit Caitlin ist für Billy Auslöser erstaunlicher Entwicklungen.

In auf die Gedichtform reduzierter, klarer und schnörkelloser Sprache erzählt Steven Herrick die Geschichte zweier Ausreißer, die aus unterschiedlichen Motiven aus der bürgerlichen Ordnung fallen. In wenigen Worten wird deutlich, wie wenig ein Mensch zum Leben braucht und wie wir reagieren, wenn jemand von unseren Vorstellungen abweicht. Alternative Lebensentwürfe und deren Vorgeschichte in einem äußerst knappen Text verpackt, stellen hier in berührender Weise liebgewonnene Sichtweisen infrage. Weniger gefallen hat mir die aus dem Hut gezaubert wirkende Auflösung der Geschichte. Auch wenn Nischen für Unangepasste wünschenswert sind, gibt es sie im Leben noch nicht volljähriger Jugendlicher selten.

Bewertung vom 04.01.2017
Ein Monat auf dem Land
Carr, J. L.

Ein Monat auf dem Land


ausgezeichnet

Vor knapp einhundert Jahren verbringt der Restaurator Tom Birkin einen Monat auf dem Land in Yorkshire. Tom hat vor dem ersten Weltkrieg Kunst studiert; er interessiert sich dafür, wie Gebäude und Gegenstände konstruiert sind und wie sie funktionieren. Die Kirchengemeinde, eine von mehreren Kirchen unterschiedlicher Glaubensrichtungen, hat eine Erbschaft erhalten, die erst ausgezahlt wird, nachdem ein übermaltes Deckengemälde aus dem 14. Jahrhundert frei gelegt ist. Tom erwartet unter der Farbe ein Meisterwerk, das sich zur Entstehungszeit nur Klöster leisten konnten. Mit der Freilegung ist der Pastor nicht einverstanden, weil ein Bild seiner Ansicht nach die Gemeinde vom Gottesdienst ablenken wird. Auf die Erbschaft will er jedoch nicht verzichten.

Tom ist vom Schlachtfeld des Ersten Weltkriegs traumatisiert zurückgekehrt; seine Ehe zerbrach an der psychischen Belastung. In dem Restaurierungsauftrag sucht er nun einen Neuanfang. In die Arbeit kann Tom sich vor den Menschen zurückziehen und seine Gedanken ungestört schweifen lassen. Weil er möglichst viel seines Honorars sparen will, übernachtet Tom direkt am Arbeitsplatz in der Glockenkammer der Kirche. Parallel zu Tom erfüllt Charles Moon einen archäologischen Auftrag in der Gemeinde. Die Stifterin hat offenbar im Dorf auf geschickte Weise Arbeitsplätze für die beiden Veteranen geschaffen. Auch Charles will Geld sparen, um nach Mesopotamien zu reisen. Auch Charles ist körperlich und seelisch gezeichnet aus dem Krieg heimgekehrt; er trägt noch Granatsplitter im Bein. Tom genießt den Austausch mit Moon, wie auch die Gespräche mit einem aufgeweckten 14-jährigen Mädchen. Selbst die Einwohner scheinen die Begegnung mit ihm in einem beschaulichen, ereignislosen Sommermonat zu genießen.

Nur aus einer dezenten Randbemerkung Alices über Toms "nervliche Anspannung" lässt sich entnehmen, dass Carrs Icherzähler unter einer nervösen Störung und einem Sprachproblem leidet. Da Tom selbst nicht von seiner Sprachstörung berichtet, könnte man sie glatt überlesen; denn seinem schriftlichen Ausdruck ist nichts anzumerken. Tom wäre ein Mann, den die Gemeinde gebrauchen könnte und dem umgekehrt das Leben auf dem Land guttun würde - doch dieser Traum wäre wohl zu schön, um wahr zu sein.

Die Handlung spielt 1920, im Original erschienen ist das Buch 1980. J.L. Carrs Novelle in der Form einer authentischen Aufzeichnung wirkt von Beginn an wie ein zeitloser Klassiker und erzeugt beim Lesen eine Mischung aus Beschaulichkeit und Melancholie.

°°°
Zitat
"Mir schoss der Gedanke durch den Kopf, dass sie ihre Probleme vielleicht unter Verschluss hielten, bis ein Außenstehender erschien, um dann alles vor ihm auszubreiten. Offen gestanden, war ich fasziniert, weil mir noch nie in den Sinn gekommen war, dass ein zu großes Haus womöglich die gleiche unangenehme Wirkung haben konnte wie ein zu kleines, und fast fand ich den Gedanken an meine eigene prekäre Wohnsituation im Glockenturm tröstlich." (Seite 70)

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 04.01.2017
Der Hummelreiter Friedrich Löwenmaul
Reinhardt, Verena

Der Hummelreiter Friedrich Löwenmaul


gut

Für junggebliebene Erwachsene
Friedrich Löwenmaul stammt aus eine Dynastie erfolgreicher und berühmter Hummelreiter. Doch Friedrich mag keine Hummeln und enttäuscht die Erwartungen seiner Familie. Die Hummel Hieronymus Brumsel hat keine Geduld mit Friedrichs Gezicke. Der junge Mann wird gebraucht im drohenden Krieg um das Königreich Südwärts. Das nicht einfache Verhältnis zwischen der lebenserfahrenen Hummel und dem unsportlichen Friedrich kann sich vermutlich jeder Leser vorstellen. Friedrich wurde in eine Versagerrolle gedrängt, vielleicht genießt er sein Dasein als Schwarzes Schaf der Familie sogar; denn Hummeln zu reiten, könnte so schweißtreibend wie gefährlich sein. Brumsel und sein Reiter kommen einer gigantischen Verschwörung auf die Spur, bei der Ameisenheere durch Manipulation ihres Geruchssinns als Söldner eingesetzt werden sollen.

Verena Reinhardts Roman hat mich mit einer sehr witzigen Leseprobe angesprochen und imponierte mir mit seinem detailreichen Buchcover. In den einzelnen Waben hätte durchaus eine geheime Botschaft versteckt sein können. Angeboten wird die Geschichte aus der Welt der Lebewesen mit 6 oder 8 Beinen für Leser ab 10 Jahren. Auf den ersten Seiten wirken Friedrichs Erlebnisse noch, als könnten sie Leser aller Altersgruppen unterhalten und amüsieren. Ein Kinderbuch von 500 Seiten finde ich zwar gewagt, aber den Umfang von „Wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen“ schaffen einige geübte Grundschüler schon. Im Vergleich zu Lagerlöfs als Lehrstück für die Jugend konzipierten Text fehlen Reinhardts Hummelreiter jedoch wichtige Merkmale eines Kinderbuchs. Es wird sehr viel behauptet, nicht gezeigt, so dass Kinder sich in den alterslosen Friedrich nur schwer einfühlen können. Harry Potter z. B. oder Nils Holgersson sind deutlich als Kinder/Jugendliche zu erkennen, die stellvertretend für den jungen Leser Gefahren in der weiten Welt zu bestehen haben. Von Friedrich wird zwar behauptet, er wäre ein Jüngling, sein Verhalten zeigt mir das jedoch nicht. Was macht überhaupt einen Jüngling aus, wenn Hummeln und Ameisen eine doch sehr kurze Lebensspanne haben? Friedrich könnte ebenso gut ein 200 Jahre alter Gnom sein mit einer Vorliebe für lange Unterhosen. Friedrichs Rolle als Schwarzes Schaf wird behauptet, aber nicht gezeigt. Zur Identifikationsfigur für Kinder, mit der sie fühlen und fiebern können, taugt Friedrich meiner Ansicht nach kaum. Fehlt diese Möglichkeit, sind junge Leser nur schwer an ein Buch zu fesseln. Der Sprachwitz des Texts lässt Erwachsene zwar manches Mal schmunzeln, funktioniert jedoch nicht generationenübergreifend. Selbst wenn der Roman (realistischer) als Tierabenteuer für junggebliebene Erwachsene vermarktet würde, fehlt mir selbst als erwachsener Leser die Identifikation mit einer der Figuren (gern hätten das auch Brumsel oder eine erfahrene Ameisenkriegerin sein dürfen) und das Zeigen von Emotionen und Ereignissen statt des bloßen Behauptens.

Als humorvolles phantastisches Tierabenteuer richtet sich Der Hummelreiter eher an junggebliebene Erwachsene als an Kinder ab 10.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 04.01.2017
Amsterdam

Amsterdam


ausgezeichnet

Sehr vielseitige Anthologie niederländischer Autoren
Passend zur diesjährigen Frankfurter Buchmesse, auf der die Niederlande Ehrengast sein werden, legt dtv hier eine vielseitige Anthologie vor, die zum Kennenlernen niederländischer Autoren einlädt. Nur 6 der 25 Texte waren vorher schon auf Deutsch zugänglich. Neben bereits übersetzten und daher in Deutschland bekannten Autoren wie Maarten 't Hart, Margriet de Moor und Fleur Borgonje finden sich viele bisher nicht ins Deutsche übersetzte Texte, drei Romanauszüge (Arjan Visser: Der blaue Vogel kehrt zurück, Theo Thijsssen: Kees de jongen,(1935 gekürzt auf Deutsch erschienen), Mano Bouzamour: Samir, genannt Sam) und Nescio, ein wiederentdeckter (1882 geborener) Autor, der unter einem Pseudonym veröffentlichte, um seinem Ruf als Kaufmann nicht zu schaden (ISBN 978-3518224977).

Auffällig viele Texte stellen Icherzähler in den Mittelpunkt oder geben Einblick in Kindheitserlebnisse. Die Themen sind so farbig und vielfältig wie die Stadt, die sie uns nahebringen. Es geht um Familienbeziehungen, das Leben in einem Arbeiterviertel, das Verstecken Verfolgter während der Besetzung der Niederlande durch die Nationalsozialisten, das Leben und Arbeiten am Wasser, Migranten, den Blick Zugezogener auf ihre neue Heimatstadt, die 70er Jahre mit ihrem leichtfertigen Lebenswandel oder das Verhältnis zwischen Belgiern und Niederländern.

Ein sorgfältig editiertes Buch - vielfältig wie ein großzügiges Vorspeisenbuffet.

Bewertung vom 04.01.2017
Die fabelhafte Reise des Gaspard Amundsen
Fuchs, Laura;Gülich, Martin

Die fabelhafte Reise des Gaspard Amundsen


ausgezeichnet

107 Jahre - und reiselustig
Gaspar Amundsen sieht kaum aus wie ein Raubtier, das einen tonnenschweren Büffel töten könnte. Mit seinen hellgrüngetönten Bauchschuppen wirkt er eher wie ein geduldiger Großvater, der seinen Krokodil-Enkeln gern Geschichten erzählt. Gaspar sitzt im Lesesessel, die Füße auf einem Bücherstapel, seinen geliebten Brennesseltee auf einem Tischchen neben sich. Gaspar scheint vielseitig interessiert zu sein, außer einem mechanischen Filmprojektor sind in seiner Studierstube das Modell eines Planetensystems und ein Globus zu sehen. Für sein Alter von über 100 Jahren ist Gaspar ungewöhnlich reiselustig. Nachdem eine Bande diebischer Waschbären dem Forschungsreisenden allerlei unnütze Gegenstände geraubt hat, macht er sich mit der Bahn, einem Doppeldecker und an Bord eines Dreimasters auf die Reise - bis zum Rand des Eismeers.

Laura Fuchs hat für ihr erstes Bilderbuch keine Mühe gescheut. Auf dem Vorsatzpapier erwartet den Betrachter eine Landkarte von Gaspars Welt - beschriftet in eigenwilliger Spielschrift. Jede der ganz- und doppelseitigen Abbildungen lädt zum Entdecken unzähliger liebevoll geschaffener Details ein. Von der ungewöhnlichen Perspektive, in der Gaspard sich aus einem Boot heraus dem Betrachter entgegen ins Wasser beugt, bis zur Vogelperspektive, aus der man erst den Rochenschwarm um das Segelboot herum ausmacht. Ungewöhnliche Details vermitteln jungen und erwachsenen Betrachtern hier Ruhe, die Standpunkte des Beobachters sind phantasievoll gewählt und stellen unsere Sehgewohnheiten auf dem Kopf.

Ungewöhnlich auch die Entstehung des Bilderbuchs. Hier wurde anders als gewohnt nicht die Geschichte illustriert, sondern von Martin Gülich eine Geschichte zu den Bildern erzählt. Von Laura Fuchs als Illustratorin werden wir zukünftig sicher noch mehr entdecken können.

Bewertung vom 04.01.2017
Cache
Röder, Marlene

Cache


ausgezeichnet

Eine hochdramatische Liebesgeschichte
Max und Leyla sind seit einem Jahr ein Paar. Zurzeit trainiert Max in Spanien im Schwimmcamp; doch seine Gedanken sind bei Leyla, die in Berlin geblieben ist. Rückblenden blättern die Vorgeschichte des jungen Paars auf. Orts- und Zeitangaben zu Beginn jedes Kapitels verstärken die filmische Wirkung der Rückblicke. Leyla zeigt sich darin sehr unsicher, als könne sie noch immer nicht glauben, dass ein Typ wie Max wirklich ein unscheinbares Mädchen wie sie liebt. Einige Wochen vorher hat Leyla in der S-Bahn „Red“ kennengelernt, einen charismatischen Geocacher, der sich auf raffinierte Art in die Beziehung der beiden drängt. Red ist der Cachername des Typen in der Cacher-Community, d. h. Leyla bleibt lange verborgen, wer Red wirklich ist. Max dagegen fühlt sich von Geocachen in bröckelnden Industrieruinen gestresst - sein Freund ist Red nicht. Die fatale Dreiecksbeziehung zwischen Leyla, Max und Red wird mit wechselndem Focus sehr glaubwürdig und beklemmend authentisch erzählt.

Das Geocachen und der Spreepark Plänterwald als Schauplatz bilden die leicht morbide Kulisse für eine tragisch endende Liebe. Marlene Röder streift mit ihrem dicht formulierten Jugendroman das Thema Manipulation und die Frage, ob ein Gegenüber die Person ist, die es zu sein vorgibt. Die Erkenntnis, dass es Menschen gibt, die andere manipulieren, ist für die Zielgruppe ab 14 - und deren Eltern - ein höchst aktuelles Thema.

Bewertung vom 04.01.2017
Stefan Loose Travel Handbücher Reiseführer Schottland
Eickhoff, Matthias

Stefan Loose Travel Handbücher Reiseführer Schottland


ausgezeichnet

Wer seine Schottland-Reise selbst plant und sich Zeit nehmen will, sollte hier zugreifen
3. überarbeitete Auflage 2016

Der Autor
... Matthias Eickhoff bereist Schottland seit 30 Jahren, hat im Land gelebt und ist Autor des DuMont Wanderführers Schottland.

Der Stefan Loose Reiseführer Schottland liefert mit über 600 Seiten und 660Gramm Gewicht ein üppiges Info-Paket.

Die Gliederung
... ist mit der Gliederung des schmaleren Reise-Taschenbuch Schottland vergleichbar.
Einen ersten Überblick über 18 landschaftlich und kulturell bemerkenswerte Highlights gibt die Übersichtskarte in der vorderen Umschlagklappe. Die Infos von A-Z regen dazu an, Radfahren, Zelten, Wandern, Angeln u. a. naturverbundene Sportarten oder Inseltouren ins persönliche Reiseprogramm aufzunehmen. Ein Routenplaner bietet beispielhafte Touren zwischen einer und vier Wochen Dauer an. Entscheiden Sie sich nach Möglichkeit für die 4-wöchige Tour, wenn Sie Schottland wirklich genießen wollen.

Vorgestellt werden 8 Regionen, jeweils zu Beginn des Kapitels mit einer Auswahl der markantesten Sehenswürdigkeiten. Kurze Reportagen sind im Text eingestreut über Whiskey, Tartans, Munro-Bagging, Folk, schottische Autoren – und sehr aktuell die Zukunft feudalen Großgrundbesitzes.

Wandern
Ausgewählte Wanderungen sind mit Kartenausschnitt und Basisinfos (teils per Farbmarkierung am Daumenregister) zu finden. Das Kapitel zentrale und nördliche Highlands enthält z. B. 6 Wandertipps für Touren zwischen 3 ½ und 8 Stunden.

Unterkunftsempfehlungen
... sind durch Ziffern von 1 bis 6 in 6 Preiskategorien eingeteilt. Jugendherbergen, Hostels und Campingplätze werden berücksichtigt.

Das Layout
++ ... in Orange- und Grüntönen ist übersichtlich und angenehm zu lesen.
++ Die Verknüpfung zwischen Text und Karte und zwischen Übersichtskarten und Stadtplänen finde ich sehr gelungen.

Der überarbeitete Schottland-Reiseführer richtet sich an Reiselustige, die ihre Tour selbst planen und sich Zeit für das Land nehmen wollen. Schmalere Geldbeutel werden berücksichtigt. Das Thema Wandern wird selbst denjenigen nahgebracht, die vor der Planung zum Thema noch unentschlossen waren. Auch wer zuvor mit einem weniger umfangreichen Reiseführer unterwegs war, wird hier von Matthias Eickhoff zur nächsten Schottland-Reise angeregt.

Bewertung vom 04.01.2017
Wir da draußen
El Azzouzi, Fikry

Wir da draußen


sehr gut

Sie sind egozentrisch, überheblich und kriminell
Ajoub, der 15-jährige Icherzähler aus einem Dorf irgendwo in Belgien, hält sich für ein Genie schreibt deshalb. Ajoubs Eltern sind Drarries, Einwanderer aus Marokko. Wie sein Busenfreund Fouad hat Ajoub eine große Klappe und Ärger mit dem Vater. Das Revier der Väter ist das Teehaus, dort können sie sich gegenseitig den Rücken stärken gegen ihre respektlosen Kinder. Zuhause herrschen unangefochten die Mütter. Die Väter sehen sich als Herr im Haus, ihre Söhne sollen sich gefälligst benehmen wie ein Mann. Die angemaßte Autorität der Väter erleiden ihre Söhne, erkennen sie aber nicht an. Mütter sind dafür da, ihre Söhne hemmungslos zu verwöhnen und damit alle väterlichen Erziehungsvorsätze zunichte zu machen.

Beide Jungen fliegen zuhause raus; konkret heißt das, dass ihre Mütter sie wieder hätscheln und füttern, sowie der Vater aus dem Haus ist. Ajoub drückt sich eine Weile nachts im Waschsalon rum. Fouad steht auf Bodybuilding und hat mit Anabolika experimentiert, er pflegt seinen Körper wie ein Kunstwerk, unterstützt durch einen wohlhabenden Sugar-Daddy als Sponsor. Der Dritte im Bunde, Karim, eigentlich Kevin, ist Einheimischer und will als Konvertit gläubiger und dunkelhäutiger sein als alle anderen. Die beiden anderen sind auf dem besten Weg Patriarchen wie ihre Väter zu werden, doch selbst in ihren Augen ist Karim ziemlich neben der Spur, ein finsterer, ultrakonservativer patriarchalischer Knochen. Maurice ist Mischling, sein Vater stammt von der Elfenbeinküste, der Junge nimmt Drogen und hat ein Talent, auf Knopfdruck Schwachsinn zu labern.

Wichtig für die Identitätsfindung eines muslimischen Pubertierenden ist sein öffentliches Auftreten, Klamotten, Körpersprache, alles exakt abgezirkelt. Dass die „Alten“ sie respektlos finden, ist den Jungs bewusst, sie selbst fordern für sich Respekt ein, bringen jedoch anderen keinen entgegen. Wenn sie sich respektlos behandelt fühlen, reagieren sie schnell gekränkt. Ajoub und seine Kumpels sind egozentrisch, überheblich, kriminell und pflegen ein bizarres Frauenbild. Ein Drarrie als Frauenkenner ist sich sicher, dass Frauen es erotisch finden, von Jungs im Alter ihre kleinen Brüder angetatscht zu werden. Schließlich stehen Frauen auf gefährliche Jungs, das weiß doch jeder. Emotionen können El Azzouzis Helden nur in Gewaltphantasien erleben. Die Welt, die sich Ajoub und seine Gang zurechtgebastelt haben, gerät ins Wanken, als ein jüdischer Juwelier und Hehler erzählt, er hätte seine Kinder zu ihrer Sicherheit nach Israel geschickt. Die darin ausgedrückte Angst stellt ihr Selbstbild infrage. Wenn ihr fromm seid, warum unterstützt ihr dann Eure Glaubensbrüder nicht, provoziert er sie.

Ajoubs Schreiben scheint zunächst nur seinen pubertären Größenwahn muslimischer Prägung in Textform zu gießen. Selbstkritik oder Reifung hätten in dieser Erzählung aus jugendlicher Ichperspektive wohl Platz; hier sucht man sie jedoch vergebens. Pubertäres Posieren, wie wir es alltäglich auf der Straße und auf Schulhöfen erleben. Entwickelt sich Ajoub noch – oder war das schon alles, habe ich mich an dem Punkt gefragt. Nein, das war noch nicht alles, das Ende haut den Leser aus den Socken. Wer Jungen muslimischer Herkunft kennt, erfährt hier nichts Neues aus der Szene, wird jedoch sicher schlucken, wenn jugendlicher Größenwahn in rasantem Tempo direkt ins Unglück führt. Kaum ein Roman könnte passender zur aktuellen Lage im Einwanderungsland Europa sein.

Bewertung vom 04.01.2017
Augustus
Williams, John

Augustus


ausgezeichnet

John Williams vierter Roman "Augustus" erschien bereits 1971 und weicht von seinen drei vorher veröffentlichten Büchern ab, weil er als Romanbiografie in Briefen und Quellen kein amerikanisches Thema behandelt. Im Vorwort stellt Williams klar, dass das dichte Netz aus Briefen, Tagebuchnotizen, Senatsprotokollen und Fragmenten geplanter Memoiren fiktiv ist, der Roman biete eine literarische, keine historische Wahrheit.

In das Beziehungsgeflecht ist anfangs nicht leicht hineinzukommen. Da vertrauen alte Freunde einander ihre Gedanken an und tauschen sich über die Zipperlein des Alters aus, ein Sohn schreibt aus der Schlacht an den Vater, eine Tochter führt in der Verbannung Tagebuch, ein Zenturio bittet im Alter von 53 Jahren aus Altersgründen um die Freistellung vom Militärdienst, ein Statthalter liefert seinem Auftraggeber regelmäßig Berichte ab, eine Sklavin diktiert ihre Gedanken und Erinnerungen; denn sie kann selbst nicht schreiben. Die Figuren sind historisch verbürgt, ihre privaten Gedanken flüsterte der Autor ihnen ein und gibt jeder seiner Figuren so eine unverwechselbare Stimme. Augustus ist kein Buch nur über machthungrige alte und junge Männer; die Beziehungen zwischen Schreiber und Empfänger geben in fesselnder Weise Einblick in das Alltagsleben von Männern und Frauen, Herren und Dienern.

Williams tritt bescheiden hinter seine Figuren zurück. Der Leser wird zum Zaungast schriftlicher Zwiegespräche, deren Beteiligte selten darüber nachzudenken scheinen, dass ein Brief kein Vier-Augen-Gespräch ist und kopiert werden kann. Einige der Briefschreiber scheinen Sinn für Spott und Ironie miteinander zu teilen. Ihr Austausch lässt das Ausmaß an Heuchelei, Klatsch, Intrige und Verrat zu Zeiten Julius Cäsars und seiner Nachfolger lebendig werden. Hervorstechend war für mich, dass Williams Figuren Sinn für Ironie und die komischen Seiten des Lebens zeigen. Über die Vorstellung der Anrede „Mein lieber Livy“ [Livius] auf einem Papyrus muss ich immer noch grinsen. Williams Schalk, der zwischen den Zeilen hervor blitzt, erinnert an Hilary Mantels listige Figuren-Charakterisierungen. Wer Mantels Wölfe mochte, liegt mit dem Griff zu diesem Roman sicher nicht daneben.

°°°°
Zitat
„Ich habe mich manches Mal gefragt, wie ich die mir gegebene Macht angewandt hätte, wenn ich keine Frau gewesen wäre. Selbst für mächtige Frauen wie Livia forderte es der Brauch, sich bescheiden zurückzuhalten und eine Genügsamkeit an den Tag zu legen, die ihrem Wesen oft widersprach. Ich wusste schon sehr früh, dass dies für mich nicht in Frage käme. [Julias Tagebuch]“ (Seite 293/294)

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.