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Havers
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Bewertungen

Insgesamt 1378 Bewertungen
Bewertung vom 12.06.2020
Südtiroler Leibgerichte
Perwanger, Hanna

Südtiroler Leibgerichte


weniger gut

Basis des erstmals 1967 erschienenen Kochbuchs ist die Rezeptsammlung von Hanna Perwanger (1904-2001), ehemals Köchin auf dem traditionsreichen Zirmerhof, einem hochpreisigen Berghotel in Radein nahe Bozen, deutlich vorgestellt/beworben zu Beginn des Buches, was meiner Meinung nach in einem Kochbuch nichts zu suchen hat ,sondern eher in die Tourismusbroschüre des Fremdenverkehrsamts gehört.

Die Gerichte sind allesamt von der bäuerlichen Tradition geprägt. Man verwendet die Zutaten, die vorhanden sind, die man selbst anbaut oder ohne großen Aufwand beschaffen kann. Wenig raffiniert, dafür deftig und absolut nichts für Kalorienzähler. Kohlenhydrate, Fette in Form von Butter und dem allgegenwärtigen Südtiroler Speck sowie Fleisch in allen Variationen dominieren das „Gesottene und Gebratene“. Rind, Schwein und Innereien, ok. Aber wer verwendet heutzutage schon noch Kalbshirn. Kalbslunge und Kalbskopf? Oder tranig schmeckenden Hammel, wenn es Lammfleisch gibt?

Natürlich muss man nicht jeden Trend mitmachen und Tradition hin oder her, ein neu aufgelegtes Kochbuch sollte schon auch die aktuellen Ernährungsgewohnheiten berücksichtigen und überlieferte Rezepte anpassen bzw. entstauben. Ansonsten taugt es lediglich als nostalgisches Regalbuch, das überliefertes Küchenwissen bewahren möchte, im Haushalt aber nicht zum Einsatz kommt. Es gibt zwar auch einige Rezepte, die ohne Fleisch auskommen, aber im Wesentlichen sind das die Beilagen. Gerichte, in denen Gemüse die Hauptrolle spielt, kann man leider an einer Hand abzählen und diese sind eher einfallslos und ohne Raffinesse.

Bewertung vom 11.06.2020
Schwarzer August / Leander Lost Bd.4
Ribeiro, Gil

Schwarzer August / Leander Lost Bd.4


ausgezeichnet

Zu Beginn der Reihe von seiner Hamburger Dienststelle im Austausch nach Portugal geschickt, hat Leander Lost mittlerweile eine neue Heimat an der Algarve gefunden, wozu nicht zuletzt die Beziehung zu Soraia beiträgt. Und auch beruflich läuft dank seiner Planstelle bei der Polícia Judicária alles glatt. Hier wird er wegen seinem Asperger und den damit einhergehenden "Spleens" nicht schräg angeschaut, im Gegenteil. Seine Kollegen Graciana, Carlos und selbst Duarte schätzen ihn als wertvolles Teammitglied und verlässlichen Freund, denn oft sind es gerade seine besonderen analytischen Fähigkeiten, die bei der Verbrechensaufklärung hilfreich sind. Und auch in dem aktuellen Fall des Bombenlegers, der die Gegend rund um das idyllische Städtchen Fuseta unsicher macht, bestätigt sich dies einmal mehr.

Kriminalromane, die an mehr oder minder „exotischen“ Orten angesiedelt sind, gibt es viele. Die Story ist meist recht gradlinig gehalten: es geschieht ein Verbrechen, die Polizei ermittelt, der Täter wird entlarvt. Das alles garniert mit netten Landschaftsbeschreibungen, die Lust auf Urlaub machen.

Auch die Lost-Reihe ist nach diesem Prinzip angelegt, punktet aber zum einen natürlich durch den liebenswerten Protagonisten sowie dessen sympathische Kollegen, zum anderen aber auch durch die detaillierten Beschreibungen des immer etwas melancholischen portugiesischen Lebensgefühls, nicht zu vergessen das einzigartige Azur.

Der zugrunde liegende Kriminalfall vermittelt zwar nicht die absolute Hochspannung, hat aber meist, so auch in „Schwarzer August“, einen gesellschaftskritischen Hintergrund mit regionalen Bezügen. Eine gelungene, unterhaltsame Mischung aus Ermittlungsarbeit und – zugegeben, diesmal ziemlich viel – Beziehungs- und Gruppendynamik. Aber genau das macht für mich den Reiz bei dieser Reihe aus, und so warte ich voller Vorfreude auf die Fortsetzung.

Bewertung vom 07.06.2020
Geheime Quellen / Commissario Brunetti Bd.29
Leon, Donna

Geheime Quellen / Commissario Brunetti Bd.29


gut

Neunundzwanzig Jahre begleiten wir Guido Brunetti bereits bei seinen Ermittlungen in der Lagunenstadt, und von dem Glanz der einstigen „Serenissima“ ist kaum etwas übrig geblieben. Brütende Hitze liegt über der Stadt, wer die Möglichkeit hat verkriecht sich in klimatisierten Räumen. Der Commissario gehört nicht zu den Glücklichen, denn gemeinsam mit Claudia Griffoni wird er in ein Hospiz gerufen. Eine Patientin ist davon überzeugt, dass der Tod ihres vor kurzem verstorbenen Mannes gewaltsam herbeigeführt wurde. Sind das Phantastereien einer Sterbenden oder ist er tatsächlich einem Verbrechen zum Opfer gefallen?

Die Geschichte plätschert dahin wie das Wasser in den stinkenden Kanälen. Kreuzfahrt-Touristen sind allgegenwärtig, okkupieren die Vaporetti und die Taxiboote, sind eine leichte Beute für Taschendiebe aus Osteuropa. Ein Zustand, der dem Vize-Questore Unbehagen bereitet, kratzt dies doch am Disneyland-Image Venedigs. Aber das ist nur eines der wiederkehrenden, eher nebensächlichen Themen in Leons Roman. Wesentlich intensiver widmet sie sich der italienischen Vetternwirtschaft (wie bei dem umstrittenen Mose-Projekt), dem maroden Gesundheitssystem, der Umweltthematik, der Bereitschaft, gegen den entsprechenden Obolus fünf gerade zu sein lassen, wenn man das Geld dringend benötigt. Skrupel? Resignation? Könnte man meinen, denn auch Brunetti, dem diesmal selbst seine geliebten Klassiker keinen Trost spenden, sieht sich gezwungen, seine persönlichen Moralvorstellungen zu hinterfragen.

Es gibt keine Ausschläge der Spannungskurve, da die Themen, die in diesem Band im Mittelpunkt stehen, so oder so ähnlich bereits mehrfach in den Vorgängern von der Autorin thematisiert wurden. Nichts Neues, man hat das Gefühl, sich in einer Zeitschleife zu befinden, in der sich der Aspekt zwar ändert, die zugrunde liegenden Probleme aber gleich bleiben. Ob dieses Konzept zukünftig überdauern wird, sei dahingestellt. Zu dünn war die Story, zu vorhersehbar die Entwicklung. Ein leider nur in Ansätzen überzeugendes Auf-der-Stelle-treten.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 06.06.2020
Der Knochengarten / Tony Hill & Carol Jordan Bd.11
Mcdermid, Val;McDermid, Val

Der Knochengarten / Tony Hill & Carol Jordan Bd.11


ausgezeichnet

Angesichts Carol Jordans posttraumatischer Belastungsstörung und ihrem Abschied aus dem Polizeidienst sowie Tony Hills Gefängnisstrafe fragt man sich, wie McDermid eine Reihe fortschreiben kann, in der die beiden Protagonisten, die ihr in der Vergangenheit ihren Stempel aufgedrückt haben, nicht mehr Teil des Teams und der Ermittlungsarbeit sind. Um es gleich vorweg zu nehmen, es ist ihr gelungen.

Wer Action und/oder voyeuristische Gewaltdarstellungen sucht, mit denen weniger talentierte Autoren gerne ihr Unvermögen kaschieren, ist bei Val McDermid an der falschen Adresse. Ihre Kriminalromane zeichnen sich vor allem durch die detaillierte Beschreibung der Polizeiarbeit und das tiefe Eintauchen in die Psyche ihrer Protagonisten aus. Und genau das generiert in diesem Krimi eine ganz besondere Art von Spannung.

Hill versucht sich im Gefängnisalltag zurechtzufinden, den Aufenthalt möglichst unbeschadet an Leib und Seele zu überstehen. Hilft Mitgefangenen und nutzt die Zeit, um „Verbrechen lesen“ zu schreiben. Ein Handbuch für Profiler, aus dem wir zu Beginn eines jeden Kapitels interessante Auszüge zu lesen bekommen. Jordan hingegen hat endlich den Mut gefasst, ihr Trauma mithilfe einer Therapeutin anzugehen. Und es zeichnet sich ein weiteres Betätigungsfeld für sie ab, in dem sie ihre im Polizeidienst erworbenen Fähigkeiten nutzen kann. Also auch genügend Stoff für zukünftige Bände der Reihe.

Paula und die ehemaligen Mitglieder von Jordans Team müssen sich währenddessen an die neue Leitung der ReMIT gewöhnen und ihre Fähigkeiten beweisen, wobei diese ganz besondere Gruppendynamik interessante Einblicke gewährt.

Die Story um das Massengrab in der Nähe eines von Nonnen geleiteten Waisenhauses ist jetzt nicht der Rede wert, denn dieses Thema wurde in der jüngsten Vergangenheit in zahlreichen Kriminalromanen ausgeschlachtet. Und auch die Geschichte um die per Zufall auf einem nahegelegene Privatgelände endeckten Skelette konnte mich nicht vom Hocker reißen, denn in beiden Fällen waren die Täter zu offensichtlich auszumachen.

Bewertung vom 04.06.2020
Dunkles Lavandou / Leon Ritter Bd.6
Eyssen, Remy

Dunkles Lavandou / Leon Ritter Bd.6


sehr gut

Junge Frauen verschwinden und tauchen nach Tagen als Selbstmordopfer wieder auf. Nichts, was eine eingehende kriminalistische Untersuchung rechtfertigen würde. Wäre das nicht Leon Ritter, der Rechtsmediziner aus Deutschland, den es vor fünf Jahren in den Süden Frankreichs verschlagen hat und der mittlerweile die Leichenfunde für die Polizei in Le Lavandou überprüft. Alle Frauen weisen grässliche Verletzungen auf, was ihn vermuten lassen, dass sie vor ihrem Tod brutal misshandelt worden sind. Allerdings steht er mit dieser Meinung auf ziemlich verlorenem Posten, einzig in Isabelle, Capitaine der Polizei und seine Lebensgefährtin, hat er eine Verbündete. Als aber die Tochter des Kulturministers, die mit einer Freundin in dem Küstenstädtchen Urlaub gemacht hat, verschwindet, sind die Verantwortlichen endlich bereit, Ritter zuzuhören und einzugestehen, dass das Böse in der Maske des Biedermanns auch am Fuße des Massif des Maures existiert.

Obwohl ich kein großer Fan von Urlaubskrimis bin, liebe ich diese Reihe und verfolge sie bereits seit Beginn. Die Gründe dafür sind vielfältig. Zum einen sind da die wunderbaren Landschaftsbeschreibungen, zum anderen die authentischen Schilderungen des Alltagslebens in einer südfranzösischen Kleinstadt. Die Szenen in Leons Stammbistro Chez Miou (und dort insbesondere seine liebenswerte Boule-Partnerin Veronique), sein skurriler Kollege Rybaud in der Rechtsmedizin in Saint Sulpice, das Schlendern über den Wochenmarkt oder die Turniere auf dem Bouleplatz. Urlaubsgefühl pur. Aber auch das familiäre Leben von Leon, Isabelle und Lilou, das immer wieder für eine Überraschung gut ist, weckt Interesse und vermittelt fast schon ein Gefühl des Wiedersehens mit alten Bekannten.

Dazu kommt in diesem Band eine wohl austarierte, spannende Krimihandlung, die nicht nur Leons Nachforschungen und Untersuchungen beschreibt (ok, das mit dem Ypsilonschnitt hätte nicht so häufig erwähnt werden müssen) sondern uns auch die Sicht der Opfer präsentiert. Die Entlarvung des Täters war allerdings nun nicht wirklich überraschend, aber das sehe ich dem Autor nach, hat er mir mit diesem Krimi doch eine unterhaltsame Auszeit unter südlicher Sonne beschert.

Bewertung vom 29.05.2020
Bin im Garten
Winnemuth, Meike

Bin im Garten


gut

Es ist ein ambitioniertes Projekt, das Meike Winnemuth in „Bin im Garten“ beschreibt. Herausforderungen nicht abgeneigt, kauft sie ein vernachlässigtes, lediglich aus Rasen und Hecke bestehendes Grundstück nahe der See mit einem spartanischen Häuschen und beschließt, für ein Jahr der Stadt den Rücken zu kehren. Ihr Plan ist die Selbstversorgung, das Erschaffen eines farbenprächtigen Paradieses gepaart mit Nutzpflanzen, das Leib und Seele nährt.

Sie holt sich Tipps aus Gartenbüchern und bei den Profis im In- und Ausland, bewegt Unmassen von Erde, sät, pflanzt und wässert. Natürlich gibt es Rückschläge. Die Schnecken, die übernacht ihren Jungpflanzen den Garaus machen, sintflutartige Regenfälle, die das Gelände in zähen Morast verwandeln, die Hitzewelle, die über das Land rollt und den Boden austrocknet. Aber sie macht weiter, gibt nicht auf, freut sich an der Farbenpracht der Blühpflanzen und genießt jede murmelgroße Kartoffel und jeder Handvoll Schnittsalat, die auf ihrem Teller landet.

Begleitend führt sie während des Jahres ein Tagebuch, in dem sie ihr Leben und Arbeiten am und im Projekt Garten dokumentiert und lässt uns so hautnah die Herausforderungen miterleben, denen sie sich stellt bzw. stellen muss.

Wer aber nun einen informativen Gartenratgeber mit Pflanztipps für den Hobbygärtner erwartet, wird enttäuscht sein. „Bin im Garten“ ist der subjektive Erfahrungsbericht einer Kopfarbeiterin ohne berufliche und familiäre Verpflichtungen mit ausreichend monetärer Sicherheit, die sich, im wahrsten Sinn des Wortes, auf unbekanntes Terrain vorwagt. Unterhaltsam und inspirierend - so man es sich denn leisten kann.

Bewertung vom 17.05.2020
Das Gesicht des Bösen / Tempe Brennan Bd.19
Reichs, Kathy

Das Gesicht des Bösen / Tempe Brennan Bd.19


gut

Man könnte vermuten, ich sei masochistisch veranlagt, weil ich Kathy Reichs Tempe Brennan-Thriller noch immer verfolge, hat deren Qualität doch schon seit längerem stark nachgelassen. Aber da ich die Reihe seit Beginn verfolge, war auch der neue Band Pflichtprogramm, verbunden mit der Hoffnung, die Autorin hätte wieder zu alter Stärke zurückgefunden.

Leider hat sich das nicht bewahrheitet. Natürlich ist ein neurochirurgischer Eingriff, wie ihn die Protagonistin über sich ergehe lassen musste, eine beängstigende Erfahrung, aber dass dieser eine forensische Anthropologin in ihren Grundfesten so erschüttert, dass sie ihrem eigenen Urteil nicht mehr vertraut, scheint mir dann doch etwas unwahrscheinlich. Zweifel und Migräneanfälle wären ja noch ok, aber Nahtoderfahrungen und Halluzinationen hätten nicht auch noch sein müssen.

Ich habe längere Zeit gebraucht, bis ich einen roten Faden in der Story gefunden habe, denn es waren einfach zu viel, was die Autorin zusätzlich zu den Fortsetzungen des Privatlebens der Protagonistin (unfähige Vorgesetzte, helfende Kollegen und natürlich Ryan) angerissen hat. Der mysteriöse Toten, die verschwundenen Kinder, Geheimdienstaktivitäten, Verschwörungstheorien, das Darknet plus, wie immer, die forensischen Details – jedes dieser Themen für sich hätte das Potenzial für einen eigenen Thriller gehabt. Hätte, hat aber nicht, denn der vorherrschende Eindruck war/ist der eines heillosen Durcheinanders.

Alte Stärke? Mitnichten. Vielleicht ist es jetzt doch an der Zeit, Abschied zu nehmen.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 15.05.2020
Spiegel und Licht / Tudor-Trilogie Bd.3
Mantel, Hilary

Spiegel und Licht / Tudor-Trilogie Bd.3


ausgezeichnet

Englische Geschichtsschreiber/Historiker sind schon eine seltsame Spezies. Beeinflusst vom Zeitgeist wurde ein Richard I. (Löwenherz) jahrhundertelang idealisiert, Richard III. hingegen in Grund und Boden verdammt. Ähnliches widerfuhr auch Thomas Cromwell, dem schillernden Staatsmann und mächtigen Ratgeber Heinrichs VIII., der in Hilary Mantels Tudor-Reihe im Mittelpunkt steht.

„Spiegel und Licht“ ist der abschließende Band der Trilogie und richtet den Fokus auf die letzte Lebensjahre Cromwells, beginnend nach der Hinrichtung Anne Boleyns 1536, an deren Sturz er maßgeblich beteiligt war. Zuerst gilt es für ihn, denn sein König braucht eine neue Gefährtin, eine die ihm endlich den ersehnten Thronfolger schenkt. Cromwells Hilfe ist wieder einmal gefragt. Jane Seymour erfüllt die Erwartungen hinsichtlich der Geburt des männlichen Nachkommens, aber sie stirbt im Kindbett. Anna von Kleve, Ehefrau Nr. 4, erfüllt Heinrichs Erwartungen allerdings nicht, und diesen „Missgriff“ verzeiht er Cromwell nicht. Dessen Macht schwindet nun Tag für Tag, aber man fragt sich, ob er, geblendet von Aufstieg und Position, das nicht sieht oder nicht sehen will. Sich nicht vorstellen kann, dass sich sein König, gegen ihn wenden wird. Wie es endet ist bekannt. Die Gunst seines Königs verloren, der für ihn „Spiegel und Licht der Christenheit“ ist, wird er des Hochverrats und der Ketzerei angeklagt und schuldig gesprochen und muss schließlich 1540 den Gang zum Schafott antreten.

Hilary Mantel lässt uns mit ihrer Cromwell/Tudor-Trilogie tief in die englische Renaissance eintauchen. Natürlich hält sie sich an die verbrieften Daten und Ereignisse, vermeidet aber dabei das kitschig-romantisierende Klischee, das fast allen historischen Romanen anhaftet. Ihr Cromwell ist zwar ein Mann ohne Skrupel, wenn es um die Unterstützung des Königs geht, hat aber auch eine Vision, die sich aus dem Erlebten speist. England soll besser werden, und deshalb bedarf es einer Erneuerung der Kirche, um damit den Einfluss des Papstes zurückzudrängen.

Da die Autorin im Präsens schreibt und die Ereignisse aus Cromwells subjektiver Sicht schildert, kann der Leser hautnah teilhaben, ist mittendrin, bewegt sich mit dem Protagonisten in dieser spannenden Epoche, teilt dessen Gedanken.

Allen nachdrücklich empfohlen, die sich, wenn auch nur ein bisschen, für die englische Geschichte interessieren. Momentan gibt es im Bereich des literarischen Historienromans nichts Besseres!

Und ich lehne mich jetzt nicht weit aus dem Fenster, wenn ich behaupte, dass auch dieser abschließende Band, wie bereits die beiden Vorgänger, mit dem Booker Prize ausgezeichnet wird.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 10.05.2020
Die unglaubliche Flucht des Uriah Heep
Parry, H. G.

Die unglaubliche Flucht des Uriah Heep


ausgezeichnet

Auf Streife mit Harry Bosch, eine Kneipentour mit John Rebus? Eine faszinierende Vorstellung, literarischen Figuren im wirklichen Leben zu begegnen, oder? Das mag sich auch die neuseeländische Autorin H.G. Parry gedacht haben, als sie ihren Erstling „Die unglaubliche Flucht des Uriah Heep“ geschrieben hat, eine fantastische Reise in die Welt der Klassiker.

Im Zentrum stehen der Literaturprofessor Charley Sutherland und dessen Bruder Rob sowie zahlreiche fiktive Protagonisten. Rob ist immer wieder damit beschäftigt, Charley vor Schwierigkeiten zu bewahren, in die ihn dessen außergewöhnliche Fähigkeit bringt, denn dieser kann Romanfiguren heraufbeschwören. Ein nicht ganz ungefährliches Talent, wie sich im Verlauf des Romans zeigen wird. Und offenbar auch nicht so einzigartig wie gedacht, denn offenbar gibt es noch jemanden mit dieser Fähigkeit, und der ist Charley ganz und gar nicht wohlgesonnen und verfolgt seine eigenen Pläne.

Wer nun glaubt, ein Kinder-/Jugendbuch vor sich zu haben, irrt, denn dazu sind die literarischen Verweise einfach zu offensichtlich. Im Wesentlichen sind das die Klassiker des Viktorianischen Zeitalters, wie Brontë, Conan Doyle, Wilde und Gaskell mit ihren Protagonisten. Werke/Personen aus anderen Epochen sind zwar auch vertreten, allerdings in der Regel nur als schmückendes Beiwerk, wobei der Schwerpunkt, wie bereits der Titel erahnen lässt, auf den Werken und Figuren – siehe der schurkische Uriah Heep – von Charles Dickens liegt.

Wer nun eine staubtrockene Vorlesung in Literaturgeschichte befürchtet, dem sei versichert, das ist es beileibe nicht. Im Gegenteil. Parry macht durch ihre brillante, fantasie- und humorvolle, aber dennoch fundierte Schreibe, richtig Lust darauf, die Klassiker aus dem Regal zu holen, zu entstauben und (wieder einmal) darin zu schmökern.

Ein fantastisches Leseerlebnis im wahrsten Sinn des Wortes, dem ich viele Leser wünsche. Nachdrücklich den Kennern der obengenannten Autoren empfohlen, aber auch (und gerade) denjenigen, die mit deren Werken nicht vertraut sind und/oder bisher eine Scheu vor Dickens und Co. hatten.

Bewertung vom 03.05.2020
Margos Töchter
Stephan, Cora

Margos Töchter


ausgezeichnet

In „Margos Töchter“ nimmt uns Cora Stephan, wie bereits in dem Vorgänger „Ab heute heiße ich Margo“, auf eine Reise in die Vergangenheit unseres Landes mit und schreibt gleichzeitig die Geschichte von Margo und Helene fort. Doch nun sind es deren Kinder und Enkel, die im Fokus stehen.

Clara, die stramme Genossin, streng auf Linie mit dem DDR-Regime, die Politisches über Persönliches stellt. Leonore, die Linke, die wie so viele ihrer Generation die Zustände in der Nachkriegs-BRD hinterfragt und nach Veränderung strebt. Und schließlich Jana, die Enkelin, die mit beiden verbunden ist und mehr über das Schicksal ihrer Mütter erfahren möchte. Aber dafür muss sie tief in der Vergangenheit graben und Verletzungen riskieren.

Der Roman ist wesentlich mehr als eine Familiengeschichte. Es ist ein Blick zurück auf Ereignisse, die die knöchernen Strukturen der beiden Staaten dies- und jenseits der Mauer nachhaltig verändert haben. Indem sie die gesellschaftspolitisch relevanten Themen aufgreift, liefert sie mit analytischem Blick eine klare Bestandsaufnahme unserer jüngsten Historie. Studentenbewegung, Love and Peace, die RAF und ihre Unterstützer, Anti-Atomkraftbewegung und schließlich der Mauerfall, wobei Stephan aber den nostalgisch-verklärenden früher-war-alles-besser-Blick vermeidet, sondern die Widersprüche, die Zweifel ihrer Protagonistinnen anschaulich aufzeigt.

Ein sehr gut gelungener, unterhaltsamer Rückblick auf die Jahre des Umbruchs, die unsere Gegenwart geprägt haben - aber mit Sicherheit am interessantesten für all diejenigen, die diese Zeiten miterlebt haben.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.