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Buchdoktor
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Deutschland
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Romane, Krimis, Fantasy und Sachbücher zu sozialen und pädagogischen Tehmen interessieren mich.

Bewertungen

Insgesamt 612 Bewertungen
Bewertung vom 03.01.2017
Kalte Brandung / Nordsee-Morde Bd.2
Maron, Isa

Kalte Brandung / Nordsee-Morde Bd.2


ausgezeichnet

Seit dem bizarren Mordfall an Kyra Slagters Kunstlehrer im ersten Band der Reihe sind nur wenige Monate vergangen. Die junge Frau studiert inzwischen Kriminalistik und versucht noch immer den Fall ihrer Schwester zu lösen, die vor vier Jahren spurlos verschwand. Kommissarin Maud Mertens hat im Fall der Entführung eines siebenjährigen Jungen aus einem Amsterdamer Streichelzoo zu ermitteln. Jesse würde niemals einfach weglaufen und auch nicht mit Fremden mitgehen, sagt sein Kindermädchen Sophie aus, das mit ihm im Zoo war. Sophie und Kyra kennen sich, auch Jesse ist in Kyras Stadtviertel bekannt. Als weitere Kinder entführt werden, sucht eine Sonderkommission fieberhaft nach der Gemeinsamkeit zwischen den Entführungsopfern. Was wollen die Entführer mit den Kindern? Ehe die Polizei das Motiv der Täter nicht kennt, kann sie andere, ebenfalls gefährdete Kinder nicht schützen. Auf Maud Mertens lastet besonders starker Druck, nur kein Detail zu übersehen und am Ende den Tod eines oder mehrerer der Kinder zu verschulden.

In einem weiteren Handlungsfaden werden die Empfindungen der entführten Kinder beklemmend deutlich. Auch wenn mehrere Kinder sich hoffentlich gegenseitig trösten und stützen könnten, ist zu befürchten, dass die Täter sich mit der Entführung einer wachsenden Gruppe von Kindern übernommen haben und in Panik geraten.

In England können Therapeuten derweil etwas Licht in den rätselhaften Fall einer jungen Frau bringen, die sich bisher weigerte zu sprechen und ihren Namen zu nennen.

Zugegeben, ich war skeptisch, ob die lose Beziehung zwischen einer erfahrenen Ermittlerin und einer jungen Studentin der Kriminalistik mehr als einen Band einer Serie überdauern könnte. Mauds und Kyras Wege kreuzen sich jedoch nur kurz, und Kyras Ermittlungen zum Verschwinden ihrer Schwester finden nahezu selbstständig statt. Auch die Befürchtung, in Maud Mertens zweitem Fall mit belastenden Gewalttaten an Kindern konfrontiert zu werden, hat sich nicht bewahrheitet; denn die Last der verstörenden Ermittlungsergebnisse hat hauptsächlich Maud zu tragen. Isa Maron liefert hier psychologisch sehr glaubwürdig Einblick in die Empfindungen von Entführungsopfern, ihren Angehörigen und den beteiligten Ermittlern. Von ihrem zweiten Band um Maud und Kyra bin ich sehr angetan.

Bewertung vom 03.01.2017
Ich hasse dieses Internet. Ein nützlicher Roman
Kobek, Jarett

Ich hasse dieses Internet. Ein nützlicher Roman


gut

Eine Polemik
Wo würden wir über das Internet lästern, wenn wir das Internet nicht hätten? Jarett Kobek greift zu einem ungewöhnlichen Mittel und bringt seine Polemik über digitale Ökonomisierung, neudeutsch Rant, als Buch heraus. Ein rotes Hardcover mit Leseband hat durchaus etwas Subversives, wenn die Mehrheit inzwischen kurze Texthäppchen auf dem Smartphone zu lesen scheint. Um die Medienindustrie, Kapitalismus, Popkultur, Kalifornien und Gentrifizierung soll es darin gehen. Seine Figuren sind frei erfunden, die im Buch die Folgen des Internets erleiden müssen. Die Handlung u. a. um die Comiczeichner Adeline und Jeremy spielt 2013 in San Francisco – wo auch sonst? Man kann sich fragen, ob diese Figuren wirklich Opfer sind und welchen Anteil sie selbst an dem Schlamassel hatten, in den sie geraten sind. Erzählt wird in der Vergangenheitsform; denn wenn das Buch in den Handel kommt, werden die Ereignisse längst Geschichte sein.

Warum wir unsere Daten gratis und ahnungslos an US-Konzerne verschleudern, wäre eine faszinierende wie wichtige Frage. Die Selbstwidersprüche von IT-Junkies und ihrer Follower könnte Kobek auf diese Weise entlarven. Das scheitert meiner Ansicht nach jedoch daran, dass seine Erzählung zu fiktiv ist. Irgendwie und irgendwo hat man das alles schon einmal gehört und wäre bereit, den Dingen nun ernsthaft auf den Grund zu gehen. Doch das war vermutlich nicht Kobeks Absicht. Wie beim Surfen im Internet schweift man gemeinsam mit dem Autor vom Thema ab, kommt vom Hundertsten ins Tausende, um anschließend mit schlechtem Gewissen festzustellen, dass man nichts erledigt hat. So wie mancher durch die Sozialen Medien mäandert, zickzackt auch Kobek durch seinen Text. Dass die häppchenweise Beschäftigung mit neuen Medien der Konzentrationsfähigkeit schadet, wussten wir schon vorher.

In einem Interview gibt Kobek an, das Definieren als narrative Strategie einzusetzen. Seine Erklärungen haben auf mich einen vergleichbaren Effekt wie „Die Sendung mit der Maus“ für Erwachsene. Aber nur beinahe. Das Original der deutschen Kindersendung mag ich lieber und finde ihr Format jeglicher Nachahmung überlegen.

Bewertung vom 03.01.2017
Von Beruf Schriftsteller
Murakami, Haruki

Von Beruf Schriftsteller


ausgezeichnet

"Schriftsteller sind wie Fische. Wenn sie nicht gegen den Strom schwimmen, sterben sie."
Warum ein Autor schreibt oder was ihn zu seinem ersten Roman antrieb, sind vermutlich bei Autorenlesungen die meistgestellten Fragen. Bei Haruki Murakami hat mich schon immer die Frage bewegt, wie der Besitzer einer Jazz-Kneipe zum Romanautor wurde und ob Murakami ein japanischer oder ein global arbeitender Schriftsteller ist.

In seinen Essays tritt Murakami äußerst bescheiden zurück. Da nur 5% der Menschen regelmäßig lesen, wäre Schreiben eine Arbeit für eine Minderheit. Autoren seien durch ihre zurückgezogene Tätigkeit keine einfachen Menschen und darum selten miteinander befreundet, obwohl sie andererseits große Geduld mit Anfängern in ihrem Beruf zeigten. Ein Neuling auf dem Markt würde zunächst noch nicht als Konkurrent um die Rolle des Platzhirsches wahrgenommen. Schreiben könnte jeder, so Murakami, jedoch nicht seinen Lebensunterhalt damit verdienen. Der entscheidende Schritt wäre nicht der zum ersten Romanmanuskript, sondern vom einmaligen Schreiben eines Buches zum dauerhaften Schreiben. Die gemächliche Gangart der Tätigkeit mit ihrem wiederholten Überarbeiten würde nicht jedem liegen. Literaturkritiker könnten den langdauernden Prozess selten würdigen, weil sie selbst ein schnelleres Arbeitstempo hätten.

Hier schreibt unübersehbar ein beharrlicher, ungeheuer bescheidener Mensch, der nicht gern von sich selbst spricht. Neben der Lebenserfahrung, die Murakami als Kneipenbesitzer sammeln konnte, war stets die englische Sprache wichtig für ihn. Er schrieb sein erstes Manuskript auf Englisch, übersetzte es dann zurück ins Japanische und hat lange seinen Lebensunterhalt mit Übersetzungen aus dem Englischen verdient. Der japanische Autor äußert sich zur Bedeutung von Literaturpreisen für Autoren, die wie er längst ihr Glück in der Tätigkeit des Schreibens gefunden haben müssten. Intensiv kreist Murakami um die Kritik, auf die seine ersten Bücher in Japan stießen und um seine daraus resultierenden langen Auslandsaufenthalte, die langfristig seine Konzentration auf seine Arbeit verbessert hätten. Höchst interessant fand ich Murakamis Äußerungen zu seiner Arbeitsweise mit langen Pausen, in denen er eine Geschichte ruhen lässt, und zum Einfluss seiner Frau als erste Kritikerin eines Manuskripts. Mit dieser Essaysammlung zu seinem Schreiben befriedigt der scheue Autor die Neugier seiner Leser. Er fordert darin jedoch auch Gesellschaften dazu auf, Sonderlinge wie ihn besser zu integrieren. Mit Kritik hält er sich nicht zurück - am japanischen Schulsystem (Ich konnte kein Englisch, weil ein japanischer Schüler nur auswendig lernt, um die Prüfung zu bestehen) und am Gesellschaftssystem (Fukushima-Katastrophe).

In einzelnen Essays, die sich locker am Stück weg lesen lassen, entzaubert Murakami mögliche romantische Vorstellungen vom Autor, der z. B. aus einer Katastrophe heraus große Literatur schafft, und ersetzt sie durch das Bild eines pflichtbewussten Schreibtischmenschen. Dass der Autor bescheiden und augenzwinkernd seine Durchschnittlichkeit in den Vordergrund stellt, erleichtert den Zugang zu seinen biografischen Texten. Interessant finde ich die Lektüre sowohl für reine Murakami-Leser, wie auch für Autoren-Kollegen, die seiner Arbeitsweise nachspüren wollen.

Bewertung vom 03.01.2017
Töchter einer neuen Zeit / Jahrhundert-Trilogie Bd.1
Korn, Carmen

Töchter einer neuen Zeit / Jahrhundert-Trilogie Bd.1


sehr gut

Vier junge Frauen, geboren im Jahr 1900
Als Henny Godhusen im Jahr 1919 gemeinsam mit ihrer Freundin Käthe die Ausbildung als Hebamme in der Hamburger Frauenklinik Finkenau beginnt, steht ihre Generation noch unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs. Die jungen Frauen sind so alt wie das 20. Jahrhundert. Als Leser im 21. Jahrhundert ahnt man im Gegensatz zu ihnen selbst, was ihrer Generation in den folgenden 25 Jahren bevorsteht. Beide Mädchen sind in einfachen Familien aufgewachsen. Das echte, duftende Stück Seife im ersten Kapitel symbolisiert sehr treffend die Lebensverhältnisse in Mietshäusern zu der Zeit, als die Küche oft der einzige beheizte Raum war, in dem sich deshalb alle Familienmitglieder gewaschen haben. Käthe und Henny werden durch ihren Beruf mit allen Facetten eines Frauenlebens konfrontiert, unterernährten Frauen die nach zu vielen Geburten im Kindbett sterben, ungewollter Kinderlosigkeit und ungeplanten Kindern, die zu Verwandten aufs Land gegeben werden, wo niemand nach dem Vater fragt.

Weitere handelnde Figuren aus Hennys Generation sind die Kaufmannstochter Ida Bunge aus wohlhabenden Verhältnissen, die elternlosen Geschwister Lina und Lud, sowie Käthes spätere Mann Rudi, der zu Beginn des Romans noch in der Lehre als Schriftsetzer ist. Ida soll möglichst bald einen wohlhabenden Bankier heiraten, um ihrem Vater den geschäftlichen Kontakt zu sichern; Lina wird Lehrerin. Vier junge Frauen, ihre Partner, Kinder, Schwiegerfamilien und Kollegen, das klingt nach einer unübersehbaren Zahl von Personen. Einige lässt Carmen Korn bereits so früh über die Klinge springen, dass ich mich fragte, ob nicht die Erinnerung an diese Figuren im Gespräch genügt hätte. Henny, die ursprünglich Lehrhebamme werden und keine eigenen Kinder haben wollte, landet als berufstätige Mutter in der Zwickmühle, dass sie ihre Kinder von ihrer Mutter betreuen lassen muss, obwohl sie ein kompliziertes Verhältnis zu ihr hat. Henny steht ebenfalls für all die Menschen, die im beginnenden Nationalsozialismus mit dem eigenen Überleben zu stark belastet waren, um sich für Politik zu interessieren. Käthe und Rudi landen als Kommunisten schon früh auf der Fahndungsliste der Gestapo. Nicht nur in der Klinik kann die Frage überlebenswichtig sein, ob man Jude ist, einen jüdischen Elternteil hat oder unter einem Chef arbeitet, der Jude ist.

Die Figuren sind geschickt gewählt und glaubwürdig angelegt, als Hebammen, Lehrerin, Buchhändler, Importkaufmann oder Pensionsbesitzerin kommen sie mit vielen Menschen in Kontakt, die ihnen – und damit auch den Lesern – den Blick öffnen für die Entstehung des Nationalsozialismus. Beinahe zu viele authentische und wichtige Figuren tauchen auf (Juwelier Jaffe mit dem Eisernen Kreuz z. B.). Mehrere Handlungsfäden verweisen auf private und geschäftliche Kontakte, die evtl. im Folgeband noch ausgebaut werden könnten. Da ich noch nicht weiß, ob mich der Folgeband interessieren wird, führten diese Fäden für mich zu weit vom Jetzt und Hier weg. Die Lebensbedingungen von Hennys Generation wirken sehr authentisch und sorgfältig recherchiert, weit glaubwürdiger, als in vielen anderen Romanen über den Beginn des vorigen Jahrhunderts. Für die einfachen Verhältnisse, aus denen die meisten Figuren stammen, klang die Erzählerstimme stellenweise zu gewählt und das Straßennamen-Dropping wäre nicht nötig gewesen. Neben dem vorhandenen Stadtplanausschnitt hätte ich gern ein Diagramm der Familienbeziehungen gehabt und eine optisch klarere Trennung der Handlungsabschnitte. Einige Male habe ich den Faden verloren und mich z. B. gefragt, wer Fritz ist und ob Claas nun der Bruder oder der Neffe ist.

Für Hamburger Leser hat Carmen Korns Trilogie sicher einen besonderen Reiz. Mich lässt die Lektüre des ersten von drei Bänden leicht atemlos zurück nach der Fülle verschiedener Personen.

1 von 3 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 03.01.2017
Unterirdisch (DuMont Bildband)
Schneider, Hans-Joachim

Unterirdisch (DuMont Bildband)


ausgezeichnet

Beeindruckende Auswahl von Tunneln, Höhlen und Katakomben, sehr gute Fotos
Unterirdische Räume wurden von Menschen entdeckt (Höhlen) oder von ihnen angelegt, um Kohle, Schiefer, Kali oder Edelmetalle abzubauen. Eine Verbindung aus beiden Varianten sind Felsenkeller, für die teils vorhandene Felshöhlen ausgebaut und zur Lagerung von Bier, Wein und Lebensmitteln genutzt werden. In Deutschland zeugen zahlreiche Bunker vom Größenwahn der Nationalsozialisten und von der Leichtfertigkeit, mit der man der Bevölkerung während des Kalten Krieges weismachen wollte, dass ein Atomschlag in einem unterirdischen Bunker zu überleben wäre.

Hans-Joachim Schneider versammelt in diesem Band qualitativ hochwertige Fotos von Profifotografen und eine vielseitige Zusammenstellung aus Bunkeranlagen, Bergwerken, Höhlen, Felsenkellern, Kanalisationssystemen und U-Bahnschächten. Nicht alle der unterirdischen Orte sind (zu jeder Zeit) zugänglich, z. B. weil sie erst kürzlich entdeckt wurden wie die Bleßberghöhle in Thüringen. Infos dazu finden sich im Anhang. Dabei sind Klassiker wie die Iberger Tropfsteinhöhle, die Saline in Bad Reichenhall, der als Endlager für radioaktiven Müll jahrzehntelang umkämpfte Salzstock in Gorleben, der ehemalige Regierungsbunker in Marienthal oder die Unterwelt des Berliner Flughafens Tempelhof. Berlin und Nürnberg sind aus historischen Gründen Schwerpunkte unterirdischer Bauten; die Gedenkstätte der ehemaligen Rüstungsfabrik Dora steht für die Ausbeutung von Zwangsarbeitern unter unmenschlichen Bedingungen während des Nationalsozialismus. Ein weiterer Schwerpunkt sind einige Bergwerke in Thüringen. Auch ein Rätselstollen (Mehring) ist in der Auswahl enthalten, dessen Zweck bis heute unklar geblieben ist.

Beeindruckend sind besonders Bilder, die z. B. in Bergwerken den Eindruck hinterlassen, dass hier Menschen ihr Werkzeug beiseitegelegt und alles liegen und stehen gelassen haben. Wer selbst fotografiert wird sich an der professionellen Ausleuchtung der Fotos und der Nutzung von vorhandenem Licht erfreuen. Mein Highlight ist die Aufnahme aus dem Tucherkeller in Nürnberg (Seite 145), die so wirkt, als wäre der Fotograf oder ein Assistent mit dem Licht durch den Tunnel geschritten.

Sehr gute Fotos und eine Auswahl an Katakomben, die mir viel Neues bietet.

Bewertung vom 03.01.2017
Der letzte beste Ort
Wink, Callan

Der letzte beste Ort


ausgezeichnet

Der Yellowstone River in den USA durchfließt den Yellowstone Nationalpark, stürzt mehrere Wasserfälle hinunter, durchquert Montana in nordöstlicher Richtung und fließt schließlich in den Missouri. Auf und an diesem Fluss arbeitet Callan Wink; er fährt mit Touristen zum Fischen. Touristen kommen und gehen. Mancher mag davon träumen, sich in Montana eine Ranch zu kaufen und für immer unter dem endlosen Himmel zu bleiben. In dieser Region leben auch die Figuren in Callan Winks Kurzgeschichten. Hier werden Rinder und Paint Horses gezüchtet und mancher hat ein Vermögen in seinen gut gefüllten Waffenschrank investiert. Die Welt scheint geordnet, in der Frauen rauchen und Männer ihren Kaffee schwarz trinken. Wenn der Bach hinter dem Haus plötzlich Hochwasser führt wie bei Jeanette in „Schneeschmelze“, braucht eine Frau einen beherzten Helfer, der sie und ihr Haus gegen Wassermassen, Feuersbrünste oder Banditen beschützen kann.

Montana war und ist Stammesgebiet der Crow-Indianer. James Colson in „Exoten“ arbeitet in einer einklassigen Zwergschule im Crow-Reservat. Aus diffusem Frust heuert James beim Besuch seines Bruders in Texas aushilfsweise als Ranch-Helfer. an Viele US-amerikanische Lehrer müssen sich während der Ferien einen Sommerjob suchen. Die Ranch füttert exotische Tiere aus anderen Kontinenten an, damit sie wohlhabenden Jagd-Touristen direkt vor die Flinte laufen. Abgesehen vom Schock, auf den Waldwegen der Ranch afrikanische Antilopen zu treffen, ist die Arbeit erträglich. Doch der Verwalter Karl stellt klar, James hat einen befristeten Job, er kann nicht auf der Ranch bleiben.

Callan Wink versteht die Weisheit eines ganzen Lebens in einen kurzen Abschnitt zu packen. Das zeigt er u. a. in „Auf der schiefen Bahn“ mit einer innigen Großvater-Enkel-Beziehung und in der Story „Im Nachinein“, die auf knapp 60 Seiten das gesamte Leben einer Frau rekapituliert. Lauren hat trotz ihrer Entscheidung nicht als Krankenschwester arbeiten zu wollen, zuerst ihre Mutter und dann ihren schwierigen schwerkranken Mann gepflegt. Nach dessen Tod rackert sie sich mit der Instandhaltung ihrer Ranch ab, deren Boden zu unfruchtbar ist, um von der Rinderzucht zu leben. Altsein oder Jungsein wären kein Problem, erkennt Lauren, wenn man nur die Zeit dazwischen erkennen und genießen könnte.

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Zitate
„Wind und Einsamkeit, unendliche Müdigkeit und zerstörte Bäume. Dazu noch Tiere, die gefüttert werden müssen. Die Welt, die einen zermalmen wollte, enthielt auch Ziegen, die vor Hunger meckerten, Eier die verderben würden, wenn man sie nicht einsammelte, und Rinder, die ausbrachen, wenn man sie nicht einzäunte. Lauren goss. Sie fütterte. Sie sammelte. Sie las alle Splitter ihrer Bäume auf …“ (Seite 260)

„Küsse haben die Eigenart, dass sie schnell an Gewicht gewinnen. Erst kommt die Schneeflocke, dann der Schneeball und schließlich die Lawine. Aus Abendessen wurden Übernachtungen, und Lauren bekam den Eindruck, ihr wäre über Nacht ein seltsamer neuer Körperteil gewachsen oder sie sei aufgewacht und habe plötzlich ein neues Zimmer in ihrem Haus gefunden. Es war beunruhigend, aber nicht unangenehm. Ganz und gar nicht unangenehm.“ (Seite 249)

Callan Wink war durch eine kleine gedruckte Leseprobe meine Entdeckung des Jahres und ich bin gespannt auf seinen ersten Roman.

Bewertung vom 03.01.2017
Der lange Weg zu einem kleinen zornigen Planeten / Wayfarer Bd.1
Chambers, Becky

Der lange Weg zu einem kleinen zornigen Planeten / Wayfarer Bd.1


sehr gut

Irgendwann in naher Zukunft muss der Planet Erde aufgegeben werden. Die überlebenden Menschen werden von der Galaktischen Union aufgenommen, einem Verbund verschiedener Galaxien mit den unterschiedlichsten Lebensformen. Die kosmopolitischen Bewohner der GU sind mit dem Anblick von Wesen vertraut mit mehr als zwei Gliedmaßen, Schuppen oder Federn. Selbstverständlich müssen die Arbeitsplätze auf der Wayfarer u. a. Raumschiffen der Vielfalt der Arten angepasst werden. Denken Sie nur an Schwänze und Krallen als Unfallrisiken!

Als Rosemary Harper an Bord des Raumkreuzers Wayfarer geploppt wird, gehört sie gemeinsam mit Kapitän Ashby der Minderheit der Menschen an. Ihren neuen Job als Verwaltungsassistentin an Bord beginnt Rosemary mit einer blütenweißen Biografie und schüttelt ihre Vergangenheit völlig ab. Käptn Ashby Santoso erweist sich als begabter Teambuilder und guter Menschenkenner. Als Besitzer der Wayfarer führt er wie ein freier Bauunternehmer Aufträge im All aus. Er und seine Crew sollen an den Außengrenzen des Alls einen Raumtunnel als Reiseweg anlegen, eine Aufgabe, die die Mannschaft mit räuberischen Völkern und allerlei Gefahren konfrontieren wird. Utopische Spielereien wie Zahnputz-Bots, Tagesnachrichten per Neuralimplantat oder ein Norovirus zur Erzeugung intellektueller Fähigkeiten gehören zur Zeit der Wayfarer zum Standard.

Der Buchtitel „Der lange Weg zu einem kleinen zornigen Planeten“ lehnt sich an die blumige Ausdrucksweise der Spezies Grum an. Im vermutlich ersten Band einer geplanten Trilogie stellt Becky Chambers ihre Figuren vor. Artis Corbin sorgt als Algaeist für die Versorgung des Antriebs der Wayfarer mit Algen. Die künstliche Intelligenzform Lovelace, genannt Lovey, hat Daten über die Wayfarer und ihre Geschichte parat. Leib und Seele hält Dr Koch zusammen, der zu den munter fabulierenden Grum gehört und im besten ayurvedischen Sinn als Arzt und Koch tätig ist. Ein großer Teil der Gespräche auf der Wayfarer dreht sich um das Zusammenleben und -arbeiten der verschiedenen Spezies. Kein einfaches Unterfangen, wenn sich die Geschlechtszugehörigkeit im Laufe des Lebens ändern kann oder ein Wesen sich als Paar begreift und mit „das Paar“ oder „ersie“ angesprochen werden möchte. Eine Gemeinschaft ohne Vorurteile und Rollenzuschreibungen gibt es auch in der GU der Zukunft (noch) nicht, so dass kräftig über exzentrisch aussehende Spezies gestichelt wird. Bei einigen hat sich nicht nur eine Abneigung gegen Frauen oder Echsenwesen (Corbin) gehalten, sondern auch Technophobie. Wo genau die Grenze zwischen fremd und gefährlich zu ziehen ist, wird für das Schicksal des Galaxienbundes entscheidend sein.

Für die Zukunft des Bundes muss sehr bald über den korrekten Umgang mit vernunftbegabten Digitalwesen entschieden werden. Lovelace ist ein vermutlich von Menschen programmierter Roboter, der eigene Gefühle und Wünsche entwickelt. Menschen der Gegenwart kooperieren zwar problemlos mit künstlicher Intelligenz, sind sich jedoch bewusst, dass sie mit einem Rechner kommunizieren, der bitte wie eine Maschine und nicht wie ein Mensch aussehen soll. Die Frage, wer Lovey in welcher Absicht so empfindsam agieren lässt, war mein persönlicher Cliffhänger im Buch. Ich bin schon sehr gespannt, was die Autorin mit ihren empfindungsfähigen Robotern in den Folgebänden noch vorhat.

Von den Persönlichkeiten der Figuren mit zwei und mehr Beinen, über Wirtschaft, Politik und den Stand der Medizin in der GU – im ersten Band bleiben kaum Fragen zum Setting offen. Mit einem Stopp zum Shoppen und für Wellness-Anwendungen gegen den Raumkoller der Mannschaft zeigt Betty Chambers im Buch eine deutlich weibliche Handschrift und legt zunächst großen Wert auf die Beziehungsebene.

Ein spannender, origineller Science Fiction-Roman mit ungewöhnlichen Figuren, der für meine ausgeprägte Neugier gerade den richtigen Umfang hat.

Bewertung vom 03.01.2017
Im Schatten des Himmels / Shen Tai Bd.1
Kay, Guy G.

Im Schatten des Himmels / Shen Tai Bd.1


gut

Kay hängt zu stark an seinen westlichen Sehgewohnheiten und kann mich nicht überzeugen
Shen Tai ist in den Norden des Reichs der Mitte unterwegs, um nach dem Tod seines Vaters die traditionellen Trauerzeremonien zu vollziehen. Eigentlich hatte Shen Tai sich auf die anspruchsvolle Prüfung für die Beamtenlaufbahn vorbereiten wollen, um wie sein Bruder in den Dienst des Kaisers zu treten. Doch davon kann in der 2 1/2 Jahre dauernden Trauerzeit keine Rede mehr sein. Auch die Pläne der Familie mit der Schwester Li Mei wurden durch den Tod des Vaters durchkreuzt, sie kann während der Trauerzeit nicht verheiratet werden. Shen Gao, der Vater, hatte dem chinesischen Kaiser als General gedient. Shens Tais älterer Bruder ist ein einflussreicher Hofbeamter, seine Schwester als Zofe im Dienst der Kaiserin. Ein großzügiges Geschenk aus dem Nachbarreich von 250 Pferden bringt Shen Tai in eine gefährliche Lage. Nimmt er die Pferde an, muss er sie versorgen und schützen, lehnt er ab, beleidigt er die Jadeprinzessin. Die Pferde symbolisieren die Macht des kriegerischen Kaiserreichs und könnten zum Ziel eines Angriffs werden. Ein Mordversuch an ihm verdeutlicht Shen Tai die Gefahr, in der er sich im Niemandsland außerhalb des Kaiserreichs befindet. Er muss sich in einer Welt der Gestaltwandler, Wölfe, Dämonen und phantastischen Kampfkünste bewähren.

Das Setting des historischen Fantasyromans ist im 8. Jahrhundert im China der Tang-Dynastie angesiedelt (618 bis 907). Xian ist der Mittelpunkt des Chinesischen Reiches und Sitz des Kaiserhofs. Besonderes Merkmal des Reiches ist seine herrschende Beamtenkaste, die sich durch Kenntnis der chinesischen Klassiker, von Lyrik und fortgeschrittenen Kalligrafie-Künsten auszeichnet. Kays Figuren sind bestens ausgebildete Krieger und Kampfkünstler. Man könnte sich fragen, wie es funktionieren kann, wenn Gelehrte ein kämpferisches Reitervolk regieren. Außerhalb Chinas stellen sich die Menschen im Alten China und auch Kays Figuren eine ferne, gefährliche Einöde voller unzivilisierter Fremder vor. Reist man in abgelegene Gegenden, geht die Reise in den Norden oder den Westen. Auf der Seidenstraße gelangen jedoch Kaufleute aus dem Rest der Welt ins Reich der Mitte. Die Sichtweise, dass sich die Welt rund um Xian dreht und zu drehen hat, steht der westlichen Sehgewohnheit komplett entgegen, selbst der Nabel der Welt zu sein.

Das Setting im Alten China nutzt Guy Gavriel Kay meiner Ansicht nach leider viel zu wenig, weil er sich nicht von seinen westlichen Sehgewohnheiten lösen kann. Der Perspektivwechsel in die Stiefel eines Reitervolkes oder die Seidenpantoffeln bei Hofe gelingt ihm nicht. Historische und kulturelle Details seines Szenarios nennt er, aber er beschreibt sie zu selten anschaulich oder bildhaft. Dinge sind prunkvoll oder etwas ist staubig, aber wie sind sie denn nun genau? Auch die Innenwelt seiner Figuren wirkt seltsam nüchtern. Zu oft setzt Kay voraus, dass ihm vertraute Dinge auch auf der anderen Seite des Globus so sein müssten. Seine mangelnde Präzision in Details wird durch die Übersetzung nicht besser. Nordamerikaner glauben vielleicht, dass Seide auf einer „Farm“ erzeugt wird, in China stammen die Kokons aus einer Seidenraupenzucht; und im Deutschen gibt es keine Seidenfarmen. Die Erzählerstimme klingt häufig sehr modern und zu westlich für eine Handlung im China des 8. Jahrhunderts. Sie wirkt weichgespült, ohne Ecken und Kanten. Kay wagt nicht, sich auch sprachlich in eine traditionsreiche fremde Kultur zu begeben.

Auf die Übersetzung von Guy Gavriel Kays Büchern ins Deutsche hatte ich mich sehr gefreut. Sein umfangreiches Epos kann mich weder sprachlich überzeugen noch mit dem versprochenen historischen Hintergrund der Tangzeit.