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Benutzername: 
Igelmanu
Wohnort: 
Mülheim

Bewertungen

Insgesamt 997 Bewertungen
Bewertung vom 07.09.2018
Zerrissene Leben
Jarausch, Konrad H.

Zerrissene Leben


ausgezeichnet

Wenn man sich das 20. Jahrhundert in Deutschland anschaut, dann stellt man eine Aneinanderreihung dramatischer Ereignisse, schwerer Zeiten und drastischer Veränderungen fest. Speziell wer in den 1920er Jahren geboren wurde, musste erkennen, dass das Leben nicht so verlief, wie erwartet oder erhofft.

Für dieses Buch hat Konrad Jarausch rund 80 Autobiographien von Weimarer Geburtsjahrgängen ausgewertet. Das Besondere dabei: Es handelt sich nicht um die Lebenserinnerungen von Promis, sondern um die ganz normaler Menschen, was einen Blick auf das Alltagsleben erlaubt. Zudem, und fast noch wichtiger: Es sind praktisch sämtliche Bevölkerungsgruppen vertreten. Männer, Frauen, Arbeiter, Bürger, Arme und Reiche. Es finden sich Katholiken, Protestanten und Juden, Bewohner des Westens, der Ostgebiete oder aus Berlin. Speziell in der Nazizeit konnte man die Menschen in Täter, Opfer und Zuschauer unterteilen, entsprechend liest man auch von HJ-Führern und BDM-Mädels, von Widerständlern, Emigranten und Flüchtlingen, Überlebenden des Todesmarschs und SS-Tätern in Auschwitz. Das beeindruckende Ergebnis dieser Aufarbeitung ist eine kollektive Biographie, die gerade durch ihre vielen Perspektiven ein gutes Gesamtbild liefert.

Gemeinsam mit den verschiedenen Protagonisten erlebt der Leser eine Kindheit in der Weimarer Republik, die Weltwirtschaftskrise und den Aufstieg der Nazis, eine Jugend in Kriegsjahren und das Leben der Erwachsenen in der Nachkriegszeit. Doch geht es noch weiter, da die Autobiographien in den 1990er Jahren geschrieben wurden, umfassen sie auch Wiederaufbau, Beginn der Demokratie, Neuorientierung, die DDR und das SED-Regime, kalten Krieg, Mauerbau und –fall und die Wiedervereinigung.

Nun muss man Erinnerungen, gerade wenn viele Jahre vergangen sind, mit ein wenig Vorsicht genießen. Einiges wurde vergessen oder verdrängt, es gibt Rechtfertigungen und Schuldzuweisungen, subjektive und selektive Darstellungen. Auch hier zeigt sich wieder der Vorteil der kollektiven Biographie, die solche Schwachstellen relativiert. Die Schilderungen stellten nicht wenige Autoren vor das Problem, positive Erinnerungen, wie z.B. schöne Zeiten in der HJ mit den schlimmen Folgen zusammenzubringen. Immer wieder zeigt sich Desillusionierung, weil das, woran man geglaubt hat, falsch war.
»Ich erkannte, dass ich dem Bösen die Treue gehalten hatte.«
Viele Erinnerungen schildern großes Leid, das ist ungemein intensiv und berührend zu lesen. Für einige Passagen habe ich ziemlich lange gebraucht, weil ich nicht einfach weiterlesen konnte, sondern das Gelesene erst man durchdenken musste.

Ein nicht unerheblicher Teil des Buchs befasst sich mit der DDR-Geschichte, hier erinnert sich ein Ostdeutscher beispielsweise an ein Leben »von Diktatur zu Diktatur«. Auch dieser Teil wird gründlich aufgearbeitet und von vielen Seiten beleuchtet. Ergänzt um diverse geschichtliche Infos wird aus vielen individuellen Erzählungen von Überleben und Neuanfang, Erinnern und Vergessen, eine große Geschichte. Eine Reihe eingestreuter, teils privater, Fotos intensiviert den Gesamteindruck noch weiter. Im umfangreichen Anhang finden sich zu den einzelnen Autoren Kurzbiographien.

In fast jeder deutschen Familie gibt es Geschichten über zerrüttete oder verlorene Leben, die Vielfalt der Erzählungen macht eine Identifikation möglich. Meine Familie gehörte zur Arbeiterklasse und wenn ich die entsprechenden Passagen lese, frage ich mich, was ich getan hätte. Wäre ich mutig genug zum Widerstand gewesen oder hätte ich konzentriert auf die eigene Armut und das eigene Überleben die wahren Opfer übersehen, verdrängt oder nicht wahrgenommen? Ich weiß es nicht und niemand, der nicht in dieser Situation war, kann das wirklich wissen. Aber wichtig für unser aller Zukunft ist es, sich immer wieder mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen, damit sich solche schrecklichen Ereignisse nicht wiederholen.

Bewertung vom 07.09.2018
Sachsenmorde

Sachsenmorde


sehr gut

Im Freistaat wird wieder gemordet! Andreas M. Sturm hat für diese Anthologie erneut kurze Thriller gesammelt, die in verschiedenen Gegenden Sachsens spielen.

Die 13 Geschichten bieten eine große Vielfalt, der Leser kann sich auf völlig unterschiedliche Stile und interessante Motive freuen. Da ist für jeden Geschmack etwas dabei! Mir gefielen besonders die Fälle, bei denen die Auflösung als ziemliche Überraschung daherkommt. Wer er blutig mag, kommt ebenso auf seine Kosten wie derjenige, der es subtiler bevorzugt. Ein bisschen Mystery findet sich ebenfalls und natürlich darf auch der Bezug zur DDR-Vergangenheit nicht fehlen.

Eine Kleinigkeit, die mir schon bei „Sachsenmorde 1“ gut gefiel, ist die Karte vorne im Buch. Jeder weiß, wo Sachsen liegt und Dresden oder Leipzig findet man ebenfalls sofort. Aber Bautzen oder der Vogtlandkreis? Ich finde es schön, wenn ich so ganz nebenbei eine Bildungslücke schließen kann.

Wie immer bei Anthologien habe ich jede Geschichte einzeln bewertet. Drei gefielen mir so gut, dass ich ihnen 5 Sterne gegeben habe, vier weitere erhielten 4 Sterne von mir. Für fünf Geschichten konnte ich 3 Sterne vergeben und eine sagte mir leider nicht zu und erhielt lediglich 2 Sterne. Im Schnitt komme ich so auf 3,7 Sterne, die ich auf 4 aufrunde.

Fazit: Kurzweilige und abwechslungsreiche Krimikost, da ist für jeden Geschmack etwas dabei!

Bewertung vom 03.09.2018
Work-Wife-Balance
Jessel, Jenk

Work-Wife-Balance


sehr gut

Jenk Jessel und seine Frau Sabine bekamen erst spät ihr erstes Kind, beide waren beruflich etabliert, erfolgreich und nicht gewillt, ihre Arbeit aufzugeben oder zurückzufahren. So entschlossen sie sich, das Experiment einzugehen, weiter Vollzeit zu arbeiten und trotzdem gute Eltern zu sein und ein glückliches Familienleben zu führen. Um das Ende vorwegzunehmen: Das mit dem Glück hat geklappt. Und alles andere auch, irgendwie ;-)

In diesem Buch erzählt der Autor viele kurze Episoden aus dem Leben mit mittlerweile zwei kleinen Kindern. Dabei gibt es natürlich viele klassische Alltagssituationen, die den Außenstehenden schmunzeln und den beteiligten Eltern die Haare zu Berge stehen lassen. Die meisten dieser Situationen haben irgendwie mit dem Grundthema zu tun, sprich der Bewältigung des Alltags bei zwei vollzeitarbeitenden Eltern. Da werden Krippenplätze gesucht, plötzliche Betreuungsnotstände (krankes Kind) gelöst und darüber gestritten, wer mit dem Bringen zur oder dem Abholen von der Kita dran ist. Wer Kinder hat und berufstätig ist, dem werden die geschilderten Szenen nur allzu bekannt vorkommen.

Allerdings hat mich persönlich gestört, dass hier auf sehr hohem Niveau gejammert wird, denn beide Eltern verdienen offenbar recht gut und haben dadurch z.B. die Möglichkeit, teure private Betreuungen in Anspruch zu nehmen. Ich kenne sehr viele Eltern (uns selbst eingeschlossen), bei denen beide Vollzeit arbeiten und das Geld trotzdem kaum für die städtische Kita reicht, bei der man mit wochenlangen Ferienschließungen und größtenteils sehr eingeschränkten und unflexiblen Öffnungszeiten leben muss.
Diese Missstände werden auch ordentlich angeprangert, nur – wie gesagt – der Autor und seine Frau haben wenigstens noch die Möglichkeit, diese Situation finanziell zu stemmen. Lieber hätte ich aus dem Alltag einer Familie gelesen, die näher an meiner Lebenswirklichkeit ist. Da werden Betreuungsprobleme nämlich nicht nur unangenehm und anstrengend, sondern unter Umständen existenzbedrohend.

Aber nun gut, gönnen wir der Familie Jessel ihre gute finanzielle Ausgangslage. Der Autor betont ja im Sinne auch aller anderen Eltern, dass sich hier von staatlicher Seite einiges ändern muss. Steuerliche Erleichterungen, mehr und vor allem finanzierbare Betreuungsplätze kämen schließlich allen zugute.
Auch in den Köpfen der Allgemeinheit ist die heutige Zeit noch nicht angekommen. Noch immer dominiert das alte Rollenmodell, werden Frauen zuallererst in die Pflicht genommen, wenn es um die Sorge für den Nachwuchs geht. Der Autor beschreibt einige Szenen, in denen er als aktiver Vater gegen Vorurteile kämpfen muss. Aber auch Mütter machen sich gerne gegenseitig das Leben schwer und solange eine vollzeitarbeitenden Mutter ein schlechtes Gewissen haben muss, weil sie den Kuchen für die Feier in der Kita gekauft und nicht selbst gebacken hat, muss sich wirklich noch eine Menge ändern.

Das Schriftbild ist sehr groß, die 192 Seiten täuschen im Grunde, da der Text auf erheblich weniger Platz passen dürfte. Zusammen mit den kurzen Kapiteln ist dies folglich ein sehr schnell zu lesendes Buch. Die eingestreuten Zeichnungen sind witzig und unterstreichen den bei aller Kritik unterhaltsamen Charakter.

Gut gefielen mir auch die kleine Sammlung von Glücksmomenten und der klare Appell des Autors an die Männer, sich mehr zu engagieren, nicht nur finanziell, sondern auch tatkräftig.

Fazit: Unterhaltsame Episoden aus dem Leben mit zwei kleinen Kindern, gepaart mit einem ordentlichen Schwung Kritik an fehlender staatlicher Unterstützung und immer noch existierenden gesellschaftli

Bewertung vom 23.08.2018
Ins Dunkel
Harper, Jane

Ins Dunkel


sehr gut

»Also gut. Wir wissen nicht genug, um irgendwelche Schlüsse zu ziehen … Diese Mailbox-Nachricht liefert überhaupt keinen Kontext. Es ist in jeder Hinsicht – realistisch, statistisch – am wahrscheinlichsten, dass Alice Russell sich irgendwie verlaufen hat.«
»Ja, das ist am wahrscheinlichsten«, sagte Falk. Er fand, dass sie sich beide wenig überzeugt anhörten.

Aaron Falk und seine Kollegin machen sich nicht ohne Grund Sorgen. Die vermisste Alice hatte den Ermittlern als Informantin schon gute Dienste geleistet. Das Unternehmen, für das sie arbeitet, steht unter dem Verdacht der Geldwäsche und kurz, bevor Alice die entscheidenden Dokumente an Falk weiterleiten kann, verschwindet sie bei einer Wanderung mit den Kollegen spurlos im australischen Busch. Schon eigenartig…

Wenn man sich mit Kompass und Landkarte und fernab von Funknetzen durch die Wildnis schlägt, kann (vor allem) einem Stadtmenschen alles Mögliche zustoßen. Und geht dort jemand verloren, sind die Überlebenschancen gering. Nicht nur die Ermittler, sondern auch große Suchmannschaften haben tagelang alle Hände voll zu tun. Werden sie Alice finden? Und werden sie noch rechtzeitig kommen?

Dieser Thriller sorgt wirklich für Spannung! Die Beschreibungen der Landschaft sind sehr intensiv, fast befällt einen beim Lesen Klaustrophobie. Kälte, Nässe, Dunkelheit, unheimliche Geräusche und ein dichter Wald, aus dem es keinen Ausweg zu geben scheint – einfach toll geschrieben! Lediglich die Fans von viel Blut dürften hier nicht auf ihre Kosten kommen, der Thrill erfolgt vornehmlich subtil.

Ebenfalls ausgezeichnet beschrieben ist die Entwicklung der Gruppendynamik. Alice war mit vier Kolleginnen unterwegs, alle charakterlich grundverschieden und selbst unter Normalbedingungen mit mehr als genug Konfliktpotential im Gepäck. Was geschieht, wenn so eine Gruppe ums Überleben kämpfen muss, wird sehr eindrücklich dargestellt.

Abwechselnd werden die aktuellen Ermittlungen und in Rückblenden die Geschehnisse in der Gruppe erzählt. Immer wieder tauchen noch weitere, zusätzliche Verdachtsmomente auf, der Zeitdruck wird stetig größer. Ich mochte jedenfalls das Buch nicht mehr aus der Hand legen.

Die Auflösung gefiel mir im Grunde gut, ein Detail war mir allerdings nicht ganz rund. Daher lande ich bei 4 Sternen und werde mich mal nach dem ersten Band umsehen. Diesen zweiten habe ich ohne Verständnisprobleme genossen.

Fazit: Sehr spannend, tolle Atmosphäre. Gerne mehr davon!

Bewertung vom 19.08.2018
Ein Keim kommt selten allein
Egert, Markus;Thadeusz, Frank

Ein Keim kommt selten allein


ausgezeichnet

»Es gibt etliche Möglichkeiten, einen Küchenschwamm zu reinigen. Und vermutlich wird dabei auch ein Großteil der vorhandenen Keime gekillt. Ein kleiner Teil besonders widerstandsfähiger Mikroben wird diese Attacke mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit überleben. Was bedeutet »klein« in diesem Zusammenhang? Wenn wir von nahezu zehn Billionen Bewohnern im Schwamm vor der Reinigung ausgehen, bleiben danach vielleicht noch zehn Millionen übrig. Das sind 0,0001 Prozent.
Zehn Millionen Überlebende ist immer noch ganz schön viel. Das wären immer noch knapp dreimal so viele, wie Berlin Einwohner hat (3,5 Millionen). Und man muss wissen: Diese davongekommenen Bakterien sind die harten, die in den Garten wollen.«

Keime, Mikroben, Bakterien… alles Worte, bei denen sich vielen Menschen sofort die Haare sträuben. Und für nicht wenige gehört der Griff zum Desinfektionsmittel zum häuslichen Alltag. Zurecht?

Der Mikrobiologe Professor Dr. Markus Egert von der Hochschule Furtwangen ist Deutschlands führender Forscher auf dem Gebiet der Haushaltshygiene. Bei dem Wort »Bakterien« denkt er nicht zuerst an Probleme, sondern an eine »famose Gemeinschaft von Lebewesen«. Mit diesem Buch will er informieren und aufklären, unnötige Panik verhindern und im Gegenzug auf Dinge hinweisen, die wirklich wichtig sind. Zunächst macht er den Leser mit ein paar grundlegenden Punkten vertraut. Schon die Tatsache, dass wirklich alles um uns voller Keime ist und zwar in unvorstellbar hoher Anzahl, sollte helfen, die eigene Sichtweise zu relativieren. Denn schon die Logik sagt einem, dass die nicht alle böse sein können.

Tatsächlich sind die meisten Mikroben für Menschen völlig harmlos. Und nicht nur das. Diese winzig kleinen Lebewesen haben lange vor uns die Erde betreten und werden auch noch da sein, wenn wir sie wieder verlassen haben. Ohne die Vorarbeit der ersten Einzeller wäre die Entwicklung menschlichen Lebens nicht möglich gewesen. Und auch heute noch leisten sie wichtige Arbeit, wirklich überall um uns herum und an den unwirtlichsten Stellen der Erde.

Im Folgenden befasst sich der Autor mit vielen konkreten Fragen. Seine Erörterungen sind ausführlich und informativ, vermitteln leicht verständlich wissenschaftliche Fakten und lassen auch nicht die Portion Augenzwinkern vermissen, die aus einem trockenen Thema ein spannendes macht. Ich hätte nicht gedacht, dass mich Ausführungen über Keime so dermaßen unterhalten können!

Und gelernt habe ich auch noch eine ganze Menge. Wie gefährlich ist denn nun eigentlich der oben erwähnte Schwamm, der sich beim besten Willen nicht keimfrei machen lässt? Wo können wirklich Gefahren lauern, welche Keime können einem wirklich gefährlich werden? Und was kann man tun, um sich zu schützen?

Hier wird immer wieder die vermutlich einfachste und doch so grundlegende Hygienemaßnahme in den Fokus gestellt: Hände waschen! Differenziert wird aufgezeigt, wo der Griff zum Desinfektionsmittel gerechtfertigt ist und wo er im Gegenteil vermieden werden sollte, weil Desinfektionsmittel Antibiotika-Resistenzen fördern können. Deutlich wird: Jeder einzelne ist gefragt und kann etwas tun, damit sich das Problem multiresistenter Keime nicht noch weiter verschlimmert.

Alles wirkt wirklich sehr lebensnah, man hat beim Lesen das Gefühl, dass man was für seinen Alltag mitnehmen kann. Habe ich Kinder oder Haustiere? Oder reise ich viel? Leide ich unter starkem Schweiß, Mundgeruch oder unter Pickeln? Die Themenvielfalt ist beachtlich und ein weiterer Hinweis darauf, dass es wirklich keinen Bereich unseres Lebens gibt, in dem Keim & Co. keine Rolle spielen. Viele nette kleine Illustrationen lockern noch zusätzlich auf, brachten mich immer wieder zum Schmunzeln. Wer kann schon einem Keim grollen, der einen freundlich anlächelt? ;-)

Fazit: Keine Panik vor dem Keim! Dieses Buch öffnet den Blick auf eine faszinierende Welt mitten unter uns. Informativ und unterhaltsam zugleich.