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Buchdoktor
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Deutschland
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Romane, Krimis, Fantasy und Sachbücher zu sozialen und pädagogischen Tehmen interessieren mich.

Bewertungen

Insgesamt 612 Bewertungen
Bewertung vom 03.01.2017
Trümmerkind
Borrmann, Mechtild

Trümmerkind


ausgezeichnet

Im eisigen Hungerwinter 1946/47 hätte die Hamburger Familie Dietz ohne den 15-Jährigen Hanno sicher nicht überlebten können, der in den Trümmern nach Brennholz suchte und seine Altmetall- Funde auf dem Schwarzmarkt verkaufte. Der Vater ist seit Jahren in Russland vermisst, die Mutter Agnes arbeitet als Trümmerfrau und näht für die britischen Besatzer. Auf einer ihrer verbotenen Hamstertouren „finden“ Hanno und seine jüngere Schwester einen kleinen ungefähr dreijährigen Jungen, der einen auffälligen Blusenknopf in seiner Faust verschließt und lange nicht spricht. Agnes als geübte Schneiderin erkennt, dass der Kleine teure, sorgfältig gearbeitete Kleidung trägt und hebt die Kleidungsstücke für ihn auf. Angesichts der unzähligen Ausgebombten und Flüchtlinge in der Stadt wundert es nicht, dass sie den Jungen als Ihren leiblichen Sohn Joost anmelden kann, den sie angeblich geboren hat, während sie mit den Kindern aus Hamburg evakuiert war. Erst Jahre später kommt es zu einem Gespräch zwischen Hanno und dem inzwischen erwachsenen Joost, in dem Hanno erklären kann, warum er die genaue Geschichte des Findelkindes damals besser verschwiegen hat – und welchen Zusammenhang sie mit dem berüchtigten „Trümmermörder“ haben könnte.

45 Jahre später spricht in Köln ein Mann seine Exfrau darauf an, dass ihre Mutter doch Entschädigungsansprüche stellen oder eine Rückübertragung des elterlichen Gutshofs in der Uckermark beantragen könnte. Da Annas Mutter nur einen geringen Rentenanspruch hat, wäre sicher jeder Geldbetrag willkommen. Anna ist nach dem Krieg geboren und hat die Flucht von Mutter und Großvater nicht selbst erlebt. Zwischen ihr und ihrer Mutter waren die Ereignisse der Vergangenheit immer ein heikles Thema, nicht untypisch für die Kriegsgeneration. Warum sie nach der deutschen Wiedervereinigung noch immer jedes Gespräch über die Vergangenheit ablehnt, kann Anna nicht begreifen. Als ein Architekt die Restaurierung des Gutshofs der Anquists vorbereitet, will er die wenigen vorhandenen Fotos aus der Kriegszeit nutzen, um sich ein Bild von den damaligen Gebäuden zu machen. Anna ist auf Spurensuche in der Uckermark und wird von den Fotos vollends verwirrt. Die Frau, die ein Einheimischer als Clara Anquist bezeichnet, sieht völlig anders aus als ihre Mutter, die sich bisher als Clara Meerbusch geb. Anquist ausgegeben hat.

Spannend wie in einem Krimi, verbindet Mechtild Borrmann Handlungsfäden auf unterschiedlichen Zeitebenen miteinander, die letzten Kriegswochen in der Uckermark, als die Rote Armee das Gut beschlagnahmt, die Flucht der Anquists in die englische Besatzungszone, die Erlebnisse der Familie Dietz zu dieser Zeit und die Gegenwart im Köln des Jahres 1992, als Anna Meerbusch ihre Wurzeln sucht. Die Autorin zeigt ein beeindruckendes Geschick, in wenigen Absätzen die Zeit vor 70 Jahren lebendig werden zu lassen und Verständnis für die Motive ihrer Figuren zu wecken. Ich konnte mir z. B. gut vorstellen, dass Agnes Dietz ursprünglich vorgehabt hat, nach Joosts Herkunft zu forschen und die Sache einfach in Vergessenheit geraten ist, bis es ihr irgendwann peinlich war, mit dem erwachsenen Sohn darüber zu sprechen. Sehr bewegend fand ich auch die Rückkehr von Gustav Dietz, der halb verhungert aus der Gefangenschaft zurückkehrt und nur schwer wieder in sein altes Leben zurückfindet. Das Buch nennt sich harmlos Roman, ist jedoch eine gelungene Verknüpfung aus spannender Handlung um ein Familiengeheimnis und erzählter deutscher Geschichte. Eine Verbindung zu den Ereignissen in Cay Rademachers Der Trümmermörder ist nur am Rande vorhanden; man kann problemlos beide Bücher lesen, ohne Wiederholungen fürchten zu müssen. Ein berührender Roman, den ich gern weiterempfehle.

Bewertung vom 03.01.2017
Der lange Weg zum Wasser
Park, Linda S.

Der lange Weg zum Wasser


sehr gut

Linda Sue Park erzählt das Schicksal zweier Kinder aus dem Südsudan. Der elfährige Salva vom Volk der Dinka hatte zuerst gelernt, das Vieh zu versorgen. Wie alle anderen Jungen auch sollte er nun mit 10 Jahren zur Schule gehen. Als die Bewohner seines Dorfes vor einem Rebellenangriff fliehen müssen, wird Salva von den Erwachsenen getrennt und muss sich nach einem kurzen Zusammentreffen mit seinem Onkel fortan allein durchschlagen. Das Vorbild und die Ermunterung seines Onkels haben Salva so viel Selbstverstrauen vermittelt, dass er schließlich eine große Kindergruppe auf der Flucht nach Kenia anführen und in Sicherheit bringen wird. Die Handlung spielt ab 1985, kurz nach dem zweiten Sudanesischen Bürgerkrieg (1983).

Die Familie des Mädchens Nya muss je nach Jahreszeit den spärlichen Wasserquellen im Südsudan nachziehen. Zum Wasserholen wird Nyas Arbeitskraft benötigt, so dass sie nicht zur Schule gehen kann. Auch Nyas Familie fürchtet den Krieg, der wie ein schicksalhaftes Ereignis dargestellt wird, das den Familien Väter und kleine Jungen raubt. Nyas Geschichte spielt über 20 Jahre später. Mit ihr schließt sich der Kreis, als die „Lost Boys“ der Flüchtlingsströme zurück in die Dörfer kommen, um mit Hilfe von Spenden aus dem Ausland Brunnen zu bohren und dauerhafte Wasserstellen anzulegen.

Der reale Selva, dessen Geschichte hier verarbeitet wird, ist aus einem Flüchtlingslager in die USA gebracht worden, konnte dort studieren und kehrt als Erwachsener als Experte in seine Heimat zurück. Erzählt werden die miteinander verknüpften Schicksale in einfacher Sprache, nah am Empfinden der beiden Kinder, die sich zuvor keine Gedanken gemacht hatten, was außerhalb ihres Heimatdorfes geschieht. Mit seiner sehr einfachen Sprache eignet sich das Buch zwar auch für ungeübte Leser, für die Zielgruppe ab 12 Jahren finde ich die Darstellung von Bürgerkrieg und Kämpfen um Rohstoffquellen als schicksalhaftes Ereignis jedoch zu simpel. Schon 10-Jährige fragen nach den Gründen für kriegerische Konflikte, gerade wenn sie mit den Kindersoldaten und Lost Boys mitfühlen. Auch die Lösung der Probleme in Nyas Dorf durch den Brunnenbau wirkt – trotz des erklärenden Nachworts - reichlich simpel. Es ist hinreichend bekannt, dass Hilfsleistungen aus dem Ausland allein Afrikas strukturelle und politische Probleme nicht lösen können. Interessierte Grundschüler wissen das oft schon - und die Information ist ihnen durchaus zuzumuten.

Mit einer veränderten Altersempfehlung ab 10 Jahren ist „Der lange Weg zum Wasser“ eine berührende Kindergeschichte, die auch ungeübte Leser erreichen kann.

Bewertung vom 03.01.2017
Schwarze Diamanten / Bruno, Chef de police Bd.3
Walker, Martin

Schwarze Diamanten / Bruno, Chef de police Bd.3


sehr gut

Es ist Spätherbst in Saint-Denis im französischen Périgord, die Zeit, in der Polizeichef Bruno und seine Jagdgenossen auf die Trüffeljagd gehen. Genauer gesagt: meistens finden die Hunde die Trüffel. Mit der Schließung des Sägewerks im Ort, nachdem der Besitzer gegen Umweltauflagen verstoßen hat (mal wieder sind die EU-Vorschriften Schuld), erhält die dörfliche Idylle einen deutlichen Dämpfer. Kurz vor Jahresende verlieren viele Männer im Dorf ihre Arbeit - ausgerechnet kurz vor der Bürgermeisterwahl. Brunos Gelegenheits-Liebhaberin Pamela ist noch rechtzeitig vor der Wahl Mitglied bei den écolos, den Grünen geworden. Ein weiterer écolo ist Guillaume, Sohn des Sägereibesitzers Pons, nach jahrelanger Weltenbummelei gerade in die Heimat zurückgekehrt. Vom Ausgang der Wahl wird Brunos Stelle als lokaler Polizeichef abhängen - und Bruno wäre mit Sicherheit zutiefst geknickt, wenn er für den Beruf Haus, Garten und sein Saint-Denis verlassen müsste.

Als es auf dem Markt von Alvère zu Schiebereien mit Trüffeln schlechter Qualität kommt, schlagen die Wogen im Ort hoch. Der Ruf der Region ist leicht zu schädigen, die großen Pariser Hotels sind als Kunden nur mit ausgesuchter Qualität zu halten. Da die beträchtlichen Gebühren aus dem Trüffelhandel in die Gemeindekasse fließen, brennt die Trüffelfrage den Bewohnern stärker auf den Nägeln als die hohe Politik. Bruno wird als neutraler Trüffelexperte herangezogen; ein Gefallen, den er seinem alten Freund Hercule schuldig ist. Als Hercule tot aufgefunden wird, sieht sich Bruno bei seinen Ermittlungen einem Gewirr an möglichen Motiven gegenüber. Waren persönliche Rache, Ereignisse aus Hercules militärischer Vergangenheit, Erbstreitigkeiten oder gar der Trüffelskandal Auslöser der Tat?

Die ausführliche Schilderung des Trüffel-Geschäfts mit seinen ungeschriebenen Gesetzen hat mich in Schwarze Diamanten ausgezeichnet unterhalten. Auch Walkers dritter Bruno-Krimi wartet mit ausufernden historischen Bezügen auf. Der Autor lässt wie gewohnt die Sticheleien und die Renitenz im Dorf gegenüber der Zentralregierung und der EU aus jeder Zeile hervorblitzen. Die Figuren wirken sympathisch, wenn auch deutlich überzeichnet. Böse Buben sind hier im südlichen Frankreich außerordentlich böse. Bruno, Genießer und Stütze des Dorflebens, wirkt dagegen verdächtig fehlerfrei. Auch seine leichtfertig am Tatort hinterlassene Zigarette, die die Spurensuche behindert, kann an Brunos Ansehen kaum kratzen. Die detailverliebten, sinnlichen Schilderungen von Brunos Kochorgien (2 Dutzend Eier, 3l Sahne für eine Nachspeise) sind wie immer hinreißend, die Schilderung der Landschaft wirkt wie das Bild eines naiven Malers. Dass wieder einmal eine nicht gebundene Frau im besten Alter in die Handlung eingeführt wird, lässt hoffen, Bruno möge in einem der nächsten Bände endlich sein persönliches Glück finden.

Bewertung vom 03.01.2017
Der Sommer, in dem Linda schwimmen lernte
Jacobsen, Roy

Der Sommer, in dem Linda schwimmen lernte


sehr gut

Juri Gagarin war das Idol des Jahrzents. Jacobsons Icherzähler Finn wächst in Norwegen in den 60ern bei seiner allein erziehenden Mutter auf. Der Vater hat ein zweites Mal geheiratet, so dass die erste Frau nach seinem frühen Tod zu ihrem großen Kummer keine Witwenrente erhält. Sie arbeitet als Schuhverkäuferin und macht keine großen Worte darum, dass das Geld oft hinten und vorn nicht reicht. "Das ist nichts für uns" werden Dinge genannt, die sich Mutter und Sohn nicht leisten können. Besonders innige Momente erleben beide, wenn die Mutter "uns" abends vorliest. Aufgabe des Sohnes in dieser Zweisamkeit ist es, die Mutter von Aufregungen zu verschonen und ein guter Schüler zu sein. Das Projekt Untermieter, das die Haushaltskasse stützen soll, bringt Kristian Joergensen samt seinem Fernsehapparat in die kleine Gemeinschaft. Zur gleichen Zeit nimmt die Mutter, wieder ohne große Worte, Linda, die Tochter ihres verstorbenen Exmannes auf. Lindas Mutter muss sich einer Entziehungskur unterziehen. Aus Finns Einzelbett wird einfach ein Doppelbett, in dessen oberer Hälfte nun Linda schläft. Das kleine Mädchen spricht nicht sehr viel und spielt auch nicht. Finns Freunde stellen kritische Fragen über Linda, während die Mutter schon froh ist, wenn die Kinder einen schönen Tag hatten und keine Katastrophen passiert sind. Bei der Einschulungsuntersuchung wird deutlich, dass Finns Mutter völlig ahnungslos von Lindas Behinderung war und vielleicht auch sein wollte. Finn verbringt die Sommerferien gemeinsam mit Linda und der Babysitterin Marlene auf dem Campingplatz einer kleinen Insel. Er kümmert sich in diesem so gar nicht normalen Sommer rührend um Linda, fördert sie und nimmt seine Umgebung hauptsächlich durch Linda wahr. Für einen Zehnjährigen wirkt er dabei viel zu reif und fürsorglich. Freundschaft ist gleich schnell zu schwimmen, entdeckt Finn. Als die in ihrer Entwicklung behinderte Linda schwimmen lernt, wirkt der gemeinsame Erfolg der beiden wie ein Befreiungsschlag. Die erste Schulwoche konfrontiert Finn damit, dass Lindas Probleme nicht damit gelöst sind, dass er ihr in den Ferien mit Engelsgeduld Lesen beigebracht hat. Die Einsicht, wie stark die Probleme mit Linda an seiner Mutter zehren, wird zu einem entscheidenden Reifungsschritt in Finns Entwicklung. Nachdem die Schule begonnen hat, entwickelt sich Finn wie im Zeitraffer: er interessiert sich für seinen Vater, reflektiert das Verhältnis zwischen Kristian und seiner Mutter und entdeckt mit Tanja aus seiner Klasse das andere Geschlecht.

Jacobson hat mit der Geschichte eines besonderen Sommers ein sehr treffendes Bild der 60er Jahre gezeichnet. Finns Alltag wirkt einerseits klarer und einfacher als unser Leben heute, was wir als einfach empfinden war zu seiner Zeit jedoch sehr viel komplizierter; nach außen musste der Schein gewahrt werden. Strenge Benimmregeln herrschten, gegen die Untermieter Kristian souverän verstösst. Auch Kristian wirkt sehr zurückgenommen, obwohl er durch sein väterliches "Kümmern" um Finns Skikünste eine entscheidende Rolle für dessen Heranwachsen spielt. Wichtige Dinge wurden damals nicht vor Kindern besprochen, so dass Finn erst auf Umwegen in mehreren Schritten erfährt, warum auch seine Mutter den Sommer in einer Klinik verbringt. Die Beziehung zwischen Finn und seiner allein erziehenden Mutter, wie auch Finns erste Schritte ins Erwachsenenleben haben mich sehr nachdenklich gemacht. Gestört hat mich an Jacobsons leise erzähltem Roman, dass er seinen zehnjährigen Icherzähler eloquent und reflektiert wie einen Erwachsenen sprechen lässt. Erst als Finn im Zeitraffer zum Abiturienten herangewachsen ist, harmonieren Alter des Erzählers und sein Ton wieder miteinander.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 03.01.2017
Mein genialer Bruder und ich
Fitzgerald, John D.

Mein genialer Bruder und ich


ausgezeichnet

Johns Bruder Tom hat seinen Tom Sawyer genau gelesen. Als der Klempner im Garten Kanalgraben und Jauchegrube für das neue Wasserklosett aushebt, vermietet Tom Dennis Fitzgerald für einen Cent Stehplätze auf der Veranda an die Kinder von Adenville. Vater Fitzgerald hatte, wie alle seine verrückten Anschaffungen vorher, das Klo samt Zubehör im Versandhaus Sears und Roebuck bestellt. Für eine große Familie wie die Fitzgeralds genügte bisher ein Vierloch-Plumpsklo im Garten. Ein Wasserklosett im Haus? Das würde doch sowieso nicht funktionieren, unken die Nachbarn. Adenville im Jahr 1896 ist längst nicht so hinterwäldlerisch wie die sanitäre Ausstattung glauben lässt. Es gibt bereits Telefon und eine zentrale Wasserversorgung. In der Kleinstadt im US-Staat Utah leben 2000 Mormonen und 500 Bürger anderer Konfessionen. Man existiert nebeneinander und lässt sich gegenseitig in Ruhe. Fremde Einflüsse gelangen in den Ort nur durch eine griechische Einwanderer-Familie und einen fahrenden Händler, der Jude ist.

Toms Versuch mit der Einführung des ersten WCs in Adenville Kasse zu machen, bleibt nicht seine einzige Geschäftsidee. Der mittlere Sohn der Fitzgeralds zeigt besonderes Talent darin, andere für sich arbeiten zu lassen und selbst den Gewinn oder das Lob einzustreichen. Gegenüber Vater Fitzgeralds außergewöhnlichen Ideen sind inzwischen alle misstrausich; bei Toms Plänen könnte etwas mehr Misstrauen nicht schaden. Der siebenjährige John steht ganz im Schatten seines raffinierten älteren Bruders. John möchte endlich auch mal mit einer schlauen Idee im Mittelpunkt stehen. Als Tom seinen Denkapparat anwirft, um sich am ungerechten prügelnden Lehrer zu rächen, scheint der mittlere Fitzgerald mal wieder in Führung um den Titel des Dorf-Genies zu liegen.

In Adenville leben Eltern ihrem Nachwuchs konsequent Werte vor, Kinder haben neben ihren Pflichten ausreichend Freiräume, um Abenteuer zu erleben. Die Jungen, Schüler einer einklassigen Zwergschule, müssen Holz und Kohle ins Haus tragen, die Tiere füttern, Gras mähen und Unkraut im Gemüsegarten jäten. Erst nachdem die Mutter die Arbeiten für gut befunden hat, dürfen die Jungs zum Spielen gehen. Eine stets sorgende, gerechte Mutter, die sich von ihrem mittleren Sohn Tom dennoch nicht auf der Nase herumtanzen lässt, ein humorvoller, belesener Vater, ein Onkel in der Rolle des Hilfs-Sheriffs, ein treuer Alaskan Malamud, der John schon seit seinem fünften Geburtstag begleitet - die Kindheit der Brüder Fitzgerald wirkt auf den ersten Blick idyllisch. Neben der Betonung gegenseitiger Hilfsbereitschaft beschreibt der Autor ungeschönt den wenig idyllischen Alltag des 19. Jahrhunderts mit schweren Krankheiten, Unfällen und Todesfällen. Mögliche Konflikte zwischen Mormonen und Christen werden nur angedeutet. Fitzgerald scheut sich nicht vor nationalistischen Untertönen, wenn die Jungen sich um die Ehre prügeln, echte Amerikaner zu sein und nicht nur auf dem Papier die amerikanische Staatsbürgerschaft zu besitzen.

John Fitzgerald, der Generationen von Lesern mit Vater heiratet eine Mormonin unterhielt, veröffentlichte 1969 den ersten Band der Kinderbuchreihe The great brain, in Deutschland 1972 unter dem Titel Das hat der Kopf sich ausgedacht erschienen. Mit dem ausgebufften Tom hat der Autor (dessen Mutter Mormonin war) seinem älteren Bruder ein Denkmal gesetzt. Allein schon die hinreißende Szene, wie das Spülklosett nach Adenville gelangte, lohnt die Lektüre des Kinderbuchklassikers. Mit leuchtend blauem Leseband wird die nicht nur heitere Lausbubengeschichte in deutlicher Schrifttype, in neuer Übersetzung und illustriert von Katrin Engelking nach 40 Jahren wiederaufgelegt. Empfohlen für Leser ab 9 Jahren.

Bewertung vom 03.01.2017
Zweite Ehe - neues Glück
Lüpkes, Sandra

Zweite Ehe - neues Glück


sehr gut

Der Triumph der Hoffnung über die Erfahrung
Sandra Lüpkes ist zum zweiten Mal verheiratet. Mit ihrem Ratgeber will die erfolgreiche Regional-Krimi-Autorin geschiedene Partner ermutigen, ein zweites Mal vor den Standesbeamten zu treten. Lüpkes befragte 67 in zweiter Ehe verheiratete Paare, um zu ergründen warum die Liebe diese Menschen mutig und risikobereit machte. Die Ergebnisse der Befragung klingen optimistisch und stehen damit im Widerspruch zu Untersuchungen, die zweiten Ehen ein hohes Scheidungsrisiko attestieren. Was Lüpkes von ihren Interviewpartnern erfuhr und als Betroffene selbst erlebte, inszeniert sie in alltäglichen Dialogen des fiktiven Paars Insa und Tim. Beide leben nach einer gescheiterten Ehe nun unverheiratet mit Insas Kinder zusammen; auch Tim hat ein Kind aus seiner vorhergehenden Ehe. Tims freudige Andeutung seines Heiratsantrags verstört Insa, die sich für die Entscheidung noch nicht bereit fühlt. Insa muss zunächst aufarbeiten, warum ihre erste Ehe scheiterte und sich ihren Ängsten stellen, erneut in einer Beziehung zu scheitern. - Lüpkes nennt als Risikofaktoren für das Scheitern einer Beziehung die Unausgewogenheit zwischen Geben und Nehmen (die sich in Auseinandersetzungen über die Aufteilung der Familienarbeit zeigen kann), eine fehlende Balance zwischen Nähe und Freiraum oder eine mangelhafte Streitkultur. Beziehungskiller, die dem Glück im Wege stehen, seien neben Eifersucht Verschlossenheit, Misstrauen, Nörgeln oder emotionale Erpressung. Die Autorin ermuntert, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen und sich zu einem Neustart eigener Stärken bewusst zu werden. - Um innerlich bereit für eine zweite Ehe zu werden, müsse man zunächst akzeptieren, dass Beziehungen sich verändern. Erfolgsfaktoren für das Gelingen einer zweiten Ehe seien konkrete Veränderungwünsche und ihre entschlossene Umsetzung. Wer ein zweites Mal hieratet, muss sich damit abfinden, dass Freunde und Verwandte eine Weile fremdeln, ehe sie sich mit der Veränderung der ihnen vertrauten Person durch die neue Partnerschaft abgefunden haben. Eine zweite Ehe mit Kindern sieht Lüpkes nicht als Patchwork-Familie sondern als Familien-Mikado, in dem ständig Bewegung herrscht. Fragen des Sorgerechts, die Rolle der Kinder in der sich neu findenden Familie, sowie der Zweck eines Versorgungsausgleichs werden erklärt. - Sandra Lüpkes ermuntert ihre Leser überzeugend und stets optimistisch ein zweites Glück anzupacken. Die Vermittlung eigener Erfahrungen der Autorin werden Betroffene als wohltuend empfinden. Als einzigen Wehrmutstropfen des Buches sehe ich, dass die Befragung der in zweiter Ehe verheirateten Paare allein die Einstellung zur Beziehung untersucht, nicht die Dauer und daher noch kein Anlass zum Optimismus ist. Motiviert von ihrer eigenen ansteckend optimistischen Grundhaltung überschätzt Sandra Lüpkes m. A. die Kraft der positiven Einstellung und die Möglichkeit, sich bereits durch den guten Vorsatz zu ändern. Dauerhafte Verhaltens-Änderungen lassen sich mit professioneller Beratung oder Unterstützung durch eine Gruppe Gleichgesinnter erzielen. Die Verarbeitung eines Trennungsprozesses mithilfe einer Paarberatung kommt im Buch etwas zu kurz. Wenn es um die gemeinsamen Kinder geht, weist Sandra Lüpkes jedoch auf professionelle Beratung hin. - Ein ermutigender Ratgeber, um sich durch das Beispiel von Paaren motivieren zu lassen, die ihr Glück in einer zweiten Ehe gefunden haben.

Bewertung vom 03.01.2017
Roter Stern über Russland
King, David

Roter Stern über Russland


ausgezeichnet

Der Autor David King, Leiter des Kunstressorts der Sunday Times (1965 bis 1975), besitzt eine der bedeutendsten Sammlungen russischer revolutionärer Kunst. Fotos, Plakate u. a. Druckerzeugnisse wurden in den 30ern zu Propagandazwecken in hohen Auflagen, auch im Westen, verbreitet. Die Geschichte der Entstehung dieser visuelle Geschichte der Sowjetunion von 1917 bis Stalins Tod 1953 könnte ein weiteres Buch füllen. King, bei uns bekannt durch das Buch Stalins Retuschen. Foto- und Kunstmanipulation in der Sowjetunion, stellte 1970 bei einer Reportage über Lenin fest, dass kaum historische Zeugnisse über Trotzki zugänglich waren; denn Trotzki wurde als unwichtig für die Revolution betrachtet. Kings Beilage zur Sunday Times über Trotzki fällt 1971 einem Streik bei der Zeitung zum Opfer. David Kings jahrzehntelange unermüdliche Suche in Antiquariaten mehrerer Länder endet schließlich mit einem Bestand von 250 000 Objekten. Kings Sammelwut ermöglicht 1972 die Herausgabe von Trotsky: A Documentary, 1976 folgen How the GPU Murdered Trotsky, 1997 The Commissar Vanishes, 2003 Ordinary Citizens, einer Sammlung von Polizeifotos der Stalinzeit aus den Archiven des KGB, sowie mehrerer Ausstellungskataloge. (Alexander Rodchenko, Blood & Laughter: Caricatures from the 1905 Revolution). Kings Großvater hatte als Ingenieur zur Zarenzeit Eisenbahnen in Russland gebaut. Der Enkel fährt bei seinen Recherchen in Russland komfortabel auf den Schienen seines Großvaters und ist ihm heute dankbar für seine Arbeit.

Kings kurze Erläuterungen zu seiner Sammlung von Plakaten, Buchcovern und Schwarzweiss-Fotos lesen sich wie ein Auszug einer Geschichte der bildenden Künste und des Journalismus. Der amerikanische Journalist John Reed wird genannt, wie auch Clare Sheridan, die Büsten von Lenin und Trotzki anfertigte, und Max Alpert, Korrespondent der Nachrichtenagentur TASS. Die abgebildeten Plakate haben sichtbar gelitten, sie wurden gefaltet, das Papier ist inzwischen vergilbt und brüchig. Jeder Knick ist in der Reproduktion zu erkennen. Beeindruckend fand ich, dass Filmplakate aus Kings Sammlung in der Gegenwart der Designerin Judy Groves als Anregung für die Gestaltung von Plakaten für Südafrikas Anti-Apartheid-Bewegung dienten. Satirische Plakate sind im Buch enthalten, Aufrufe in Arabisch, Tartarisch, Turkmenisch und Usbekisch. ...

Kings visuelle Geschichte der Sowjetunion zeichnet sich durch erstklassige Reproduktionen der Plakate und Fotos und sachkundige Begleittexte aus.