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Bewertungen
Insgesamt 71 BewertungenBewertung vom 01.12.2022 | ||
Mit derselben Intensität und Brisanz, mit der sich Cho Nam-Joo im vergangenen Jahr in „Kim Jiyoung, geboren 1982“ bereit der Unterdrückung koreanischer Frauen* durch das Patriarchat widmete, betrachtet sie in „Miss Kim weiß Bescheid“ anhand acht verschiedener Frauenbiografien gesellschaftsrelevante Themen, die Frauen* auf der ganzen Welt betreffen: Es geht Alter und Krankheit und die Frage, bis wann ein Leben lebenswert ist; um Unterdrückung und Selbstermächtigung, um toxische Beziehungen und wahre Liebe, um Mutterschaft und weibliche Identität, Mobbing und Hatespeech, um Gleichberechtigung und Mut; aus dem Schatten zu treten und das Leben zu ergreifen, von dem man immer geträumt hat. Sie spricht Themen an, die Frauen* auf der ganzen Welt betreffen – in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – und erzeugt so ein Gefühl der Verbundenheit und des Komplizinnentums. Ihre Sprache ist klar und präzise, die Dialoge pointiert. Trotz der Kürze verleiht sie ihren Protagonistinnen Ecken und Kanten, macht sie und ihre Geschichten, die stellvertretend für so viele Schicksale stehen, greifbar. Am meisten haben mich „Unter dem Pflaumenbaum“ und „Lieber Hyannam“ bewegt, die thematisch komplett unterschiedliche Thematiken behandeln und zugleich die stilistische Variabilität Cho Nam-Joos unterstreichen, von Inwon Park in ihrer Rhythmik und Wärme wunderbar ins Deutsche übertragen wurde. Nicht alle Stories haben mich inhaltlich gepackt, fehlte es ihnen an dem gewissen Etwas, und doch ist ihnen alle eine schneidende Erkenntnis oder Pointe gemein, die kurz innehalten lässt. |
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Bewertung vom 27.11.2022 | ||
Als Iris' Mutter ins Krankenhaus kommt, sie ihr beim Waschen, beim Essen, beim Schminken helfen muss, tut sich etwas in ihr. Immer war ihre Mutter es, die für sie da war, die all das, was sie durchstand, immer "für euch" gemacht hatte. Für sie, Iris, war sie anschaffen gegangen, hatte mit Drogen gedealt, geklaut, war im Gefängnis. All das Geld, das sie verdiente, war dafür vorgesehen, dass ihre Tochter alles haben, ein Leben führen könnte, ohne jemals zurückzustecken oder sich zu schämen. Lieber die Flaschejacke, als dass sie Brot zum Frühstück haben. Iris blickt zurück auf ihre Kindheit, auf das bewegte Leben ihrer Mutter, wie sie ihren Vater kennenlernte, sie selbst geboren wurde, sie erwachsen wurde - und sich schließlich abkapselte. Warum zog sie sich zurück und lehnte die Nähe und Fürsorge ihrer Mutter am Ende ab, warum war sie ihr jemals peinlich? Schließlich hatte sie für sie, Iris, sogar Kotze vom Diskoklo gewischt. |
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Bewertung vom 12.11.2022 | ||
Schon immer zog es Isidor in die Welt, wollte er all das entdecken, was ihm bislang verborgen geblieben ist im Schtetl im ostgalizischen Tlumacz. Dafür galt es zunächst seinen religiösen Namen abzulegen, den jüdischen Stempel, den seine Eltern ihm und seinen vier Geschwistern gaben. Und so wurde aus Israel schließlich Isidor, kaum dass er seinen Heimatort 1908 für das Jurastudium gen Wien verließ. Er blühte auf in dieser eleganten Kulturmetropole, war fasziniert ob der feinen Architektur, der opulenten Kunst und dem Betragen der Menschen. Schnell fand er sich in der Gesellschaft ein, besuchte Kaffeehäuser, knüpfte Kontakte – und stieg nach seinem Studium schnell vom Sekretär zum leitendenden Direktor und Kommerzialrat auf. Es ist ein Leben, dessen Erfolg denen amerikanischer Geschichten gleicht, „vom Tellerwäscher zum Millionär“, und eben dies wurde durch geschickte Investitionen und waghalsige Aktienkäufe. Doch die Welt ist im Umbruch, der Krieg verändert das Leben der Menschen. Und während Isidors erste Ehe in die Brüche geht, das gemeinsame Ex Libris das einzige Zeugnis einstiger Zweisamkeit zwischen ihm und der schönen Berta Singer, fragt er sich des Öfteren, ob er nicht doch ein Stück Land in Palästina kaufen sollte. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis alles zu spät ist. Bis ein Volksentscheid im Jahr 1938 über die Zukunft Österreichs zugunsten der NSDAP entscheiden sollte, Hitler den „Anschluss“ Österreichs an das „Deutsche Reich“ verkündete – und die Gestapo Isidor verhaftete. |
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Bewertung vom 27.10.2022 | ||
Die Meerjungfrau von Black Conch David ist ein junger Seemann, der es liebt, mit seiner Gitarre aufs Meer hinauszufahren und seine Lieder zu singen. Eines Tages lernte er dabei ein sonderbares Wesen, eine Meerjungfrau - nicht ganz Fisch, nicht ganz Mensch - kennen, die ihn von da an auf seinen Fahrten begleitete und seinem Spiel und Gesang lauschte: Aycacia. Geflohen vor gewalttätigen Männern, den bösen Zungen der Frauen, suchte sie im Meer ihre Freiheit. Doch als sie eines Tages von einer Gruppe junger Fischer gefangen wird, wird ihr auch diese Flucht entsagt. Als David von den geflügelten Worten der Betrunkenen hört, macht er sich sofort auf den Weg, seine große Liebe zu retten. Aber wird sie im niedrigen Wasser seiner Badewanne, in seinem kleinen Haus glücklich werden? |
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Bewertung vom 20.10.2022 | ||
Anleitung ein anderer zu werden Immer wieder gibt es diese Bücher, die einem den Atem nehmen; die sich gleichermaßen wie eine wärmende Decke um einen legen und einem Tränen in die Augen treiben. Bücher, die einen nicht mehr loslassen, etwas bewegen, Gedanken weit über das Ende der Zeile hinaus provozieren. |
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Bewertung vom 17.10.2022 | ||
Seit seine Mutter vor drei Jahren plötzlich verschwand, hat das Leben des zwölfjährigen Birds an Farbe verloren: Immer wieder denkt er daran, wie sie ihm Geschichten und Fabeln von magischen Tieren und tapferen Helden erzählte, seine Welt verzauberte. Warum nur hat sie ihn verlassen, ist einfach gegangen, ohne ihm eine Nachricht zu hinterlassen? Nichts lässt darauf schließen, dass sie einmal bei ihnen gewohnt hätte, all ihre Bücher, ihre Kleidung sind weg, nur die Erinnerung an sie ist ihm geblieben. Nachdem sein Vater seinen alten Job als wissenschaftlicher Mitarbeiter verlor, mussten die beiden ihr Haus verlassen und in eine kleine Wohnung nahe der Universität Harvard ziehen, an der sein Vater nun im Archiv arbeitet. Sie leben zurückgezogen, denn seit der Krise, die das Land und seine Wirtschaft vor einem Jahrzehnt in die Knie zwang, und dem daraufhin verabschiedeten PACT-Abkommen leben sie in ständiger Angst. PACT, das bedeutet: Preserving American Culture and Traditions Act; sein Ziel: Schutz amerikanischer Ideale und Werte vor der Unterwanderung durch ausländische Einflüsse. Das heißt auch, dass Kinder von PAOs, People of Asian Origin, ihren Familien entrissen und zur Adoption freigegeben werden, um zu verhindern, dass sie dem subversiven, unpatriotischem Verhalten ihrer Eltern erliegen. |
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Bewertung vom 15.09.2022 | ||
Mit ihrem Debütroman „Dein Schweigen, Vater“ betritt Susanne Benda ein sensibles Pflaster, einen Teil der deutschen Geschichte, dessen Nachwirkungen sich bis in die Gegenwart zeigen. Bedrückend und in der Tonalität die damalige Nachkriegsatmosphäre hervorragend einfangend, beschreibt sie zunächst Pauls Kindheit, seine kindliche Liebelei und die Unbarmherzigkeit, mit der sich sein Leben von einem Tag auf den anderen verändern soll: Mit gerade einmal zwölf Jahren werden er und seine Familie nebst rund 27 000 deutschstämmigen Bewohner*innen aus Brünn ver- und zur Niederösterreichischen Grenze hingetrieben. Er sah Menschen sterben, vor Erschöpfung zusammenbrechen, spürte Hunger und endlose Trauer. Bereits diese ersten Seiten pochen dumpf und schneidend im Herzen und lassen dennoch nur erahnen, wie schrecklich es damals wirklich war. |
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Bewertung vom 07.09.2022 | ||
Je ernster die wirtschaftliche Weltlage wird, je deutlicher die Zeichen des Klimawandels zutage treten, die Augen sich vor den Folgen, vor einer möglichen, unausweichlichen Zukunft nicht mehr verschließen lassen, desto mehr wünscht man sich einen Plan B herbei. Eine Möglichkeit, dem anthropogenen Untergang zu entkommen. Unglaublich klug und über allem das Menschliche, Weiche nicht verlierend, entwirft Theresia Enzensberger in „Auf See“ das Bild einer dem Untergang geweihten Seestatt, deren utopische Motivation allmählich zu einer Dystopie verfällt. Gebaut auf Geld und Einfluss, ist Vineta eine futuristische Art der Zweiklassengesellschaft: Während auf den Waben der Seestatt die überwiegend männliche, elitäre Neureiche und Wissenschaftler wohnen, treibt nebenher ein altes Kreuzfahrtschiff mit ausländischen Mitarbeiter*innen. Kinder gibt es auf der Seestatt nicht, sie sind Parasiten, wie Yadas Vater ihr einmal sagte. Freunde hat sie deswegen keine; sie wächst in einer sterilen, streng überwachten Umgebung auf, erhält wissenschaftlichen Unterricht via Videocall. Jeder Raum für Fantasie und Kreativität wird ihr unterbunden. Doch Yada nutzt jede Chance, die Allmacht ihres Vaters, seine Idee einer Utopie zu unterwandern und rebelliert. Enzensberger macht aus ihrer jungen Ich-Erzählerin eine Heroin, die für sich selbst einsteht, für ihre Zukunft, ihr Leben kämpft, die klug und gewitzt ist, gleichermaßen verletzlich wie zäh ist. |
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Bewertung vom 01.09.2022 | ||
POV: Du bist bei einer Kostümparty eingeladen. Motto: Superheld*innen. Man reiche mir den Habit und die Holzschuhe, tonight I’ll be Marie the Matrix, coming from God’s grace and pig poo. Zornige Anführerin, loyale Freundin und talentierte Künstlerin – mit Marie de France hat Lauren Groff auf Grundlage loser, historischer Überlieferungen eine Protagonistin neu interpretiert oder viel eher erschaffen, die ihresgleichen sucht. Mit unglaublich klugen und kraftvollen Worten lässt sie die junge Frau an all den Aufgaben, die ihr das Leben stellt, wachsen, über sich hinaus und in ihre neue Rolle hinein, lässt sie ob der Macht, die sie durchströmt, in allen Facetten ihres Wesens strahlen. In eindrücklichen Bildern gewährt sie nicht nur Einblick in Maries Innerstes, ihre Kreativität, ihre Sinnlichkeit und geheimen Sehnsüchte, die sie gekonnt zu befriedigen weiß – selbst ist die Frau –, sondern zeigt auch die Dynamiken innerhalb der Schwesterngemeinschaft und in Interaktion mit der Außenwelt auf: die Entstehung von Sympathien und Antipathien, Vergeltungssucht und Neid. Und nicht zuletzt: innigster Zuneigung, Lust und Vertrauen. |
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Bewertung vom 31.08.2022 | ||
Bereits nach dem ersten Satz wusste ich: Dieses Buch, das wird was ganz Fantastisches. Und der erste Eindruck sollte nicht täuschen. Mit ihrer so markanten, schwerelosen Art, selbst die banalsten Handlungen in etwas Magisches zu verwandeln, erzählt Stefanie vor Schulte in „Schlange im Garten“ eine Geschichte vom Abschiednehmen, vom Trauern und Erinnern, von Zusammenhalt und unendlicher Liebe. Und vom Loslassen, Erwachsen werden, Heilen und Geheilt werden. Es ist dieses Spielerische, die kindlich-fantasievolle Nuance, die sie nebenbei in die Sätze einfließen lässt, die der getrübten, schmerzvollen Atmosphäre etwas Märchenhaftes verleiht, die so bitter nötige Hoffnung. Einfühlsam gibt sie den Kindern und ihrem Vater Raum, ihr Innerstes, ihre persönlichen Erinnerungen, Ängste und Wesenszüge, zu entfalten, und ermöglicht es ihnen so, gerettet zu werden. Und nicht zuletzt auch, dem ihnen ungefragt auferlegtem Stigma zu entheben, den Erwartungen der Nachbarn, der Gesellschaft, wie sie zu trauern haben, die von ihnen immer als „die Familie mit der toten Mutter“ reden wird. |
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