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alina_liest07

Bewertungen

Insgesamt 50 Bewertungen
Bewertung vom 19.02.2022
Dschinns
Aydemir, Fatma

Dschinns


ausgezeichnet

Bewegend und kraftvoll - jetzt schon ein Jahreshighlight!
„Dschinns“ ist ein eindrucksvolles und bewegendes Familienepos erzählt aus den sechs unterschiedlichen Perspektiven der jeweiligen Familienmitglieder. Der Roman beginnt aus der Sicht des Familienvaters Hüseyin, der sich nach langer, harter Arbeit in Deutschland endlich den Traum einer Eigentumswohnung in Istanbul erfüllt, nur um noch vor seinem offiziellen Renteneintritt an einem Herzinfarkt zu sterben.

Fatma Aydemir zeichnet ein tief bewegendes und kraftvolles Porträt einer Familie, deren Mitglieder alle auf ihre eigene Art mit den Geistern und Geheimnissen der Vergangenheit zu kämpfen haben. Sie erzählt dabei eindringlich von Rassismus und den damit einhergehenden Bedrohungen, von sich wandelnden Rollenbildern und Identität, von Familie und Beziehungen, von schmerzhaften Geheimnissen und vor allem von der Macht des Ungesagten.

Jeder einzelne Charakter ist so wundervoll und eindrücklich beschrieben, dass mir wirklich jedes Familienmitglied ans Herz gewachsen ist. Die Autorin wechselt gekonnt zwischen den verschiedenen (Erzähl-)Perspektiven und gibt dabei jeder Figur eine ganz eigene, intensive und lebendige Stimme - die am Ende ein großes und stimmiges Epos ergeben.
„Dschinns“ ist ein sprachgewaltiger und beeindruckender Roman - ein Buch das sowohl den Kopf als auch das Herz bewegt und unter die Haut geht und mich am Ende zu Tränen gerührt hat.

Dieser Roman gehört jetzt schon zu meinen absoluten Jahreshighlights und ist eine (Erzähl-) Stimme, die mir noch sehr lange im Kopf bleiben wird. Eine ganz große Herzensempfehlung!

Bewertung vom 12.02.2022
Die Feuer
Thomas, Claire

Die Feuer


ausgezeichnet

Einzigartig und einfühlsam erzählt

Claire Thomas webt ihre Geschichte rund um die Gedanken ihrer drei Protagonistinnen Margot, Ivy und Summer, die sich, unabhängig voneinander, eine Version von Simon Becketts „Glückliche Tage“ im Theater anschauen während rund um Melbourne die Feuer brennen. Die drei Frauen stehen an ganz unterschiedlichen Punkten in ihrem Leben: Margot ist eine angesehene Literaturprofessorin, Ivy, eine ihre ehemaligen Studentinnen, besitzt mittlerweile ihre eigene, wohltätige Stiftung und Summer ist Schauspielstudentin und jobbt als Platzanweiserin.

Die Autorin verwebt das aufgeführte Theaterstück rund um die Figur Winnie auf mühelose und einzigartige Weise in den Roman. Das eigentliche Theaterstück ist eine Art Hintergrundmelodie und das gemeinsame, wenn auch teils unterschiedliche, Erleben verbindet die drei Frauen und die Erzählung. Kurzer Hinweis hier: Sich eine kurze Zusammenfassung von „Glückliche Tage“ durchzulesen, hilft ungemein beim Leseverständnis!

Dieser Roman lebt definitiv nicht von seiner (kaum vorhandenen) Handlung, sondern von Thomas Fähigkeit die umherschweifenden, intimen Gedankengänge ihrer Protagonistinnen auf so treffende und nachvollziehbare Art zu beschreiben. Man wird hineingezogen in die Köpfe von Margot, Ivy und Summer, man erfährt von den tiefen, existenziellen Ängsten der drei Frauen und wie sie sich ihnen zu stellen versuchen.
Durch die Gedanken ihrer Figuren verwebt Thomas subtil viele wichtige, aktuelle Themen: Krankheit im Alter und Gewalt innerhalb der Beziehung spielen ebenso eine Rolle wie Rassismus,Vorurteile, Mutterschaft, Kunst oder die existenziellen Ängste verbunden mit der Klimakrise.
Der experimentelle Erzählstil hat mich gefesselt und beeindruckt, die Perspektiven wechseln leichtfüssig, fast umbemerkt von der dritten zur ersten Person und zurück, die Gedankengänge springen durch Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.
Claire Thomas hat einen Roman geschrieben, der (bewusst) viel offen lässt, und dennoch durch seine eleganten und einzigartigen Stil und seine Charaktere einen nachhaltigen Eindruck hinterlässt. Wer einen Plot getriebenen, klar strukturierten Roman sucht, wird hier enttäuscht, allen die klug beobachtete und moderne Erzählungen mögen,
kann ich dieses ganz besondere und intime Erzähl-Erlebnis nur sehr ans Herz legen.

Bewertung vom 06.02.2022
Butter
Yuzuki, Asako

Butter


ausgezeichnet

„Butter“ - Ein kulinarischer und literarischer Hochgenuss

Rika ist eine junge Journalistin in Tokio, die über ihre Recherchen mit der angeblichen, in Haft sitzenden, Serienmörderin Manako Kajii in Kontakt kommt. Kaji wird vorgeworfen, ältere, wohlhabende Männer erst mit ihren Kochkünsten verführt und dann umgebracht zu haben. Bei Rikas Versuch ein Exklusivinterview mit der Beschuldigten zu bekommen, wird sie auf eine kulinarische und genussvolle aber auch verwirrende Reise zu sich selbst geschickt.

Dieser Roman ist etwas ganz Besonderes. Vor allem die erste Hälfte ist voller ausführlicher Beschreibungen verschiedener Rezepte, Gerichten und kulinarischer Erlebnisse - es ist praktisch unmöglich keinen Appetit (auf die japanische Küche) zu bekommen. „Butter“ ist keine Plot getriebene oder rasante Lektüre, entwickelt es sich dennoch im Laufe immer mehr zu einer psychologischen und gesellschaftskritischen Erzählung. Die Autorin greift viele wichtige Themen wie Schönheitswahn, die (Un-)Vereinbarkeit von Beruf und Familie oder Einsamkeit in patriarchalisch geprägten Gesellschaften auf. So wird Rikas wird Entdeckung von guten Essen, aber auch ihre damit verbundene Gewichtszunahme, als Auflehnung gegen die unmöglichen Erwartungen und Standards, mit denen Frauen in Japan konfrontiert sind, erzählt.

Während Rikas Begegnungen mit Kajii zunächst im Fokus zu stehen scheint, sind es Rikas Beziehungen zu ihrer Freundin Reiko, ihrem Kollegen Shinoi oder ihrem Freund Makoto, die für mich das Herzstück bilden und sehr behutsam und einfühlsam erzählt werden.
Der Erzählstil ist zunächst ungewohnt, vor allem wenn man bisher wenig Berührung mit japanischer Literatur hatte - umso mehr lohnt es sich aber diesem Roman eine Chance zu geben. Kenntnisse über japanische Traditionen und Normen helfen sicherlich die ein oder andere Pointe besser zu verstehen - auch ich habe erst durch Recherche den „Tabubruch“ der letzten Szene verstanden.

Ich kann „Butter“ allen empfehlen, die Lust auf eine etwas andere Erzählung (abseits der europäischen oder nordamerikanischen Sichtweise) haben und vielleicht auch einen Startpunkt suchen um sich mehr mit diesem faszinierendem Land, seinen Strukturen aber auch seinem kulinarischen Genüssen zu beschäftigen.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 29.01.2022
Unser wirkliches Leben
Crimp, Imogen

Unser wirkliches Leben


ausgezeichnet

Fesselnde Machtspiele
Imogen Crimp’s Debütroman erzählt von der Studentin Anna, die eine Karriere als Opernsängerin in London anstrebt. Bei einem ihrer Nebenjobs als Sängerin lernt sie den wohlhabenden Banker Max kennen und beginnt eine intensive, aber komplizierte Affäre mit ihm. Während Max sie zu teuren Essen und in seine Londoner Luxuswohnung einlädt, hält er sie von vielen anderen Teilen seines Lebens völlig fern - ihre Beziehung ist von einer gewissen Unverbindlichkeit und Distanz geprägt.

Das harte, von Konkurrenz und Klasse, aber auch großer Leidenschaft gezeichnete Umfeld der Oper bildet die perfekte Kulisse für Imogen Crimp’s Erzählung über die von verschiedenen Abhängigkeiten geprägte Beziehung einer jungen Frau. Im Gegensatz zu ihren finanziell privilegierten Kommilitonen, stellt die teure Ausbildung, sowie ihre prekäre Wohnsituationen Anna vor weitere Herausforderung. Die Autorin schildert hier berührend und realistisch vom oft einsamen Kampf nach Erfolg, Anerkennung und Liebe im anonymen, kalten Großstadtdschungel, den viele junge Menschen heute führen.

„Unser wirkliches Leben“ ist ein mitreißender Roman - die Entfaltung von Annas Karriere und die zunehmende Fixierung auf ihre Beziehung sind fesselnd und tiefgründig beschrieben, ohne dabei zu konstruiert zu wirken. Die Einblicke in die Welt der Opernausbildung, sowie Anna’s Identifikation mit ihren verschiedenen Rollen fand ich besonders spannend und authentisch.
Für mich handelt es sich dabei um keine klassische Liebesgeschichte, sondern eine scharfsinnige, schmerzhafte aber auch witzige Erzählung über das komplexe Zusammenspiel von Geld, Macht und Liebe, über toxische Beziehungen, aber auch über die komplizierte Suche einer jungen Frau nach Identität und Erfolg.

Die Stärke dieses Romans liegen vor allem in den vielen ambivalenten Momenten, den komplexen Beziehungsdynamiken und der unzuverlässigen, schwierigen, aber sehr interessanten Protagonistin. Thematisch, aber auch stilistisch hat mich „Unser wirkliches Leben“ ein wenig an Sally Rooney oder auch Raven Leilani erinnert, dennoch hat die Autorin eine ganz eigene, frische Stimme gefunden und ihr ist ein faszinierender Debütoman gelungen, der keine einfachen Antworten liefert und dessen Mehrdeutigkeit mich sicher noch einige Zeit beschäftigen wird.

Bewertung vom 17.01.2022
Zusammenkunft
Brown, Natasha

Zusammenkunft


ausgezeichnet

Unbequemes, scharfsinniges Debüt einer wichtigen neuen Stimme

Die namenlose, schwarze Protagonistin in Natasha Brown’s „Zusammenkunft“ steht kurz davor, alles zu erreichen, wofür sie immer gearbeitet hat. Studium in Oxbridge, Eigentumswohnung in London, eine weitere Beförderung in ihrem prestigeträchtigen Bankjob - und nun die Einladung zu einer Gartenparty auf dem Familienanwesen ihres vermögenden, weißen Freundes vor - ein weiterer Weg in das weiße Establishment des alten Geldes.
Doch dann wird bei der Protagonistin eine Krankheit diagnostiziert, und ihr "Erfolg" fühlt sich plötzlich hohl an, sie ist desillusioniert von einer Karriere und einem Land, in dem sie täglich Rassismus und Sexismus ausgesetzt ist.

Auf gerade einmal etwas mehr als 100 Seiten schildert Natasha Brown in einem berührendem Buch mit scharfen Blick das Leben und den sozialen sowie wirtschaftlichen Aufstieg einer schwarzen britischen Frau in einem Land, das seine koloniale Vergangenheit immer noch leugnet. Brown beleuchtet in flüchtigen, aber treffenden Fragmenten wie Rassismus das Leben der Erzählerin auf allen Ebenen beeinflusst und wie erschöpfend sich dies anfühlt: Ob sie auf der Straße offen beschimpft wird oder ihre Kollegen ihr suggerieren, ihre Beförderung habe sie der "Diversität" zu verdanken - keine Begegnung, keine Beziehung und kein Erfolg ist frei von Annahmen, die auf ihrer Hautfarbe beruhen.

Der Erzählstil der Autorin ist ungewöhnlich, fast schon experimentell - der Text springt zwischen Orten und Gedanken, ist fragmentartig und teils bitterböse und sarkastisch.
Eine prägnante, erschütternde Erzählung über Rassismus, Kolonialismus, Sklaverei, Kapitalismus, Sexismus und den damit verbundene alltäglichen Mikroaggressionen.
Wer ein Fan von Büchern mit klaren, linearen Handlungssträngen und Auflösungen ist, wird hier eher nicht fündig. Dieses Buch ist umbequem und herausfordernd, es lädt ein zum Nachdenken und Reflektieren über Selbstbestimmung - hier wird kein „einfaches“ Ende geboten. „Zusammenkunft“ ist ein kurzes, aber starkes und beeindruckendes Debüt einer spannenden neuen Autorin, auf die ich auch in Zukunft sehr neugierig bin - absolute Leseempfehlung von mir!

Bewertung vom 10.01.2022
Kleine Philosophie der Begegnung
Pépin, Charles

Kleine Philosophie der Begegnung


sehr gut

Warmherzige Lektüre

Charles Pépin beschäftigt sich in „Kleine Philosophie der Begegnung“ mit der Kraft und Magie der Begegnung auf philosophische, aber auch sehr leichtfüßige Art und Weise.
Das Buch ist dabei in drei Teile gegliedert. Zuerst beschäftigt sich der Autor mit den Mechanismen und Wirkungsweise von Begegnungen, danach erkundet er ihre Vorraussetzungen und Bedingungen. Im dritten Teil werden die Bedeutung von Begegnungen, Schicksal und Zufall aus verschiedenen Perspektiven wie zum Beispiel der Anthropologie, der Religion oder der Psychoanalytik (relativ kurz) beleuchtet.

Pépin Gedanken weiten den Blick für die Kraft und die Inspiration, die aus Begegnungen mit anderen Menschen entstehen kann. Dabei handelt es sich keineswegs nur um romantische Begegnungen, auch freundschaftliche oder zufällige Begegnungen stehen im Fokus des Autors.

Während sich Pépin in seinen Ausführung zum einem auf viele berühmte Philosophen, von Aristoteles bis Sartre, beruft, ist „Kleine Philosophie der Begegnung“ ebenso voll gespickt mit Anekdoten und Beispielen aus Film, Musik, Kunst und Literatur. Dabei schafft Pépin es meistens einen eleganten und vor allem leicht verständlichen Bogen um seine Gedanken zu spannen.

Auch wenn das Thema erstmal sehr schwer und philosophisch wirken mag, stellt uns Pépin die Magie der Begegnung in vielen Farben und Aspekten auf leichte, inspirierende und warmherzige Art und Weise vor - wer eine tiefe wissenschaftliche, theoretische Ausarbeitung des Themas erwartet könnte allerdings enttäuscht werden. Dieses toll gestaltete Buch ist der perfekte Begleiter für einen entspannten Nachmittag und lässt sich in einem Rutsch verschlingen.
Einen Stern Abzug gibt es allerdings für den für mich, im Vergleich zu Teil 1 und 2, etwas schwächeren dritten Teil.

Bewertung vom 26.12.2021
Misfits
Coel, Michaela

Misfits


ausgezeichnet

Bestechend und inspirierend

Michaela Coel’s Misfits - Ein Manifest Herzstück bildet die Rede, die die Schauspielerin Drehbuchautorin und Produzentin anlässlich des MacTaggart Festivals 2018 gehalten hat.

In dem kleinem, toll gestaltetem Buch erzählt Coel von ihrem Weg zum Fernsehen, beginnend in ihrer Kindheit in London, sie erzählt von abgebrochenen Studiengänge und ihren Erfahrungen an der Schauspielschule, wo sie die erste schwarze Frau seit fünf Jahren war.

Ihre anschließenden Erfahrungen in der Fernsehindustrie sind dabei ebenso von Rassismus, Sexismus und Klassismus geprägt: So erzählt Coel von unpassenden Geschenktüten, von für schwarze SchauspielerInnen unsichere Drehorte und von unangenehmen Begegnungen mit Produzenten auf Preisverleihungen, aber auch davon wie sie von Fremden unter Drogen gesetzt und sexuell missbraucht wurde.
Trotz der enormen Schwere des Erlebten, schafft es Michael Coel ihren Kampfgeist nicht zu verlieren und so prangert sie nicht nur Missstände der Industrie auf ergreifende und auch amüsante Art und Weise an, sondern sie fordert auch mehr Transparenz und Solidarität innerhalb der Branche. Ihre Ansprache ist dabei scharf und pointiert formuliert und regt dazu an die Dinge zu hinterfragen - so nutzt sie die Metapher des kaputten Hauses als Plädoyer für Veränderung und neue Perspektiven, sowohl vor als auch hinter der Kamera

Zu beachten ist, dass es sich bei Michael Coel’s Misfits zum Großteil um kein „neues“ Werk handelt, insofern dass es auf der Rede aus dem Jahr 2018 basiert - nichtsdestotrotz sind die von Coel aufgezeigten Probleme so aktuell wie nie. Und in Buchform liest es sich nicht nur erstaunlich leicht, trotz der schweren Themen, sondern auch ermutigend und kämpferisch. Ein kleines Buch, was sicherlich vielen Menschen helfen und zum Nachdenken anregen kann.

Bewertung vom 11.10.2021
Gesammelte Werke
Sandgren, Lydia

Gesammelte Werke


ausgezeichnet

Beeindruckendes Debüt

Lydia Sandgren’s „Gesammelte Werke“ spielt vor allem im Göteborg der 70er-und 80er-Jahre, aber auch Paris oder Berlin sind Nebenschauplätze. Der Roman erzählt in Rückblenden die Geschichte der Familie Berg, vor allem aber die Geschichte der Freundschaft zwischen Martin Berg, Verleger und unvollendeter Schriftsteller und dem Künstler Gustav Becker.
Die Frage nach dem mysteriösen Verschwinden von Martins Frau Cecilia Berg, die vor über 15 Jahren Martin und die beiden gemeinsamen Kinder verließ, begleitet die Geschichte dabei von Anfang an. Durch eine Ausstellung von Gustav Beckers Arbeiten in Göteborg sowie durch den Roman eines deutschen Schriftstellers, den Martin ihr nichtsahnend zur Übersetzung gibt, wird Rakel erneut mit dem Verschwinden ihrer Mutter konfrontiert.

Die wunderbare Beschreibung der Verlagswelt und der Künstlerszene, sowie die zahlreichen literarischen und popkulturellen Anspielungen schaffen eine soghafte und nostalgische Stimmung und Atmosphäre, in der man liebsten ewig verweilen möchte. Die verschiedene Schauplätze und der Zeitgeist werden authentisch und detailverliebt beschrieben, sodass man tatsächlich das Gefühl hat mir Martin und Gustav im Göteborg der 70er zu studieren und erwachsen zu werden.

Besonders gelungen sind die verschiedenen Erzählperspektiven aus Martins und Rakels Sicht, sowie die zahlreichen klugen, feinfühligen Beobachtungen zwischenmenschlicher Beziehungen und Dynamiken, die einen nicht mehr loslassen. Der Roman ist sowohl eine herzzerreißende Familiensaga, als auch ein Buch über die Liebe und das Leben, ein Buch über die großen und kleinen Lügen, die wir uns selbst erzählen sowie nicht zuletzt eine großartige Hommage an die Liebe zur Literatur, zur Sprache und zur Kunst.

Der Roman wächst einen in seinen knapp 900 Seiten mehr und mehr ans Herz und am Ende hätte er gerne noch lange weitergehen können. Dass es sich bei diesem feinfühligen und reifen Roman tatsächlich um einen Debüt handelt, lässt sich nur mit Wissen um die knapp 10 Jährige Entstehungsgeschichte einigermaßen begreifen. Eine Geschichte, die mich noch lange begleiten wird und eine absolute Leseempfehlung für alle Literaturliebhaber!

Bewertung vom 27.09.2021
Wut und Böse
Hoeder, Ciani-Sophia

Wut und Böse


sehr gut

Mut zur Wut

Ciani-Sophia Hoeder, Gründerin des RosaMag, beschäftigt sich in „Wut und Böse“ mit der wichtigen Frage, warum weibliche Wut als unangebracht gesehen wird und selbst kleinen Mädchen diese wichtige und völlig natürliche Emotion fast reflexartig abtrainiert wird. Auch bei Erwachsenen hat sich eher der Trend zur Self-Care und Selbstoptimierung, anstatt eine Auseinandersetzung von Wut als Folge von teils strukturellen Ungerechtigkeiten, durchgesetzt. Die Autorin zeigt eindrücklich, dass vor allem dort, wo sich die Wut von weiblich gelesenen Personen auf einer kollektiven Ebene durgesetzt hat, sie Gesellschaft und Politik nachhaltig ändern und prägen kann. Es ist höchste Zeit diese Wut neu zu entdecken und somit die strukturellen Ungerechtigkeiten unserer Zeit zu bekämpfen.

Das Buch ist recht kompakt und vor allem kurzweilig gehalten und lässt sich dadurch leicht und schnell lesen. Es enthält dabei viele relevante und aufschlussreiche gesellschaftliche, aber auch persönliche Eindrücke und Informationen, ist aber immer leicht verständlich und an der ein oder anderen Stelle auch sehr humorvoll. Besonders gelungen finde ich die Verflechtung bzw. Einordnung von Sexismus, Rassismus oder Intersektionalität im Kontext weiblicher Wut. An der ein oder anderen Stelle hätte man sicher noch tiefer in die Thematik gehen können, auch fehlt mir stellenweise ein wenig der rote Faden. Dennoch regt das Buch immer wieder zum Nachdenken an und hilft vor allem die eigene Wut besser zu verstehen und zu begrüßen.

Das Softcover ist sehr angenehm in der Hand, allerdings wirkt die Cover- bzw. Farbgestaltung in natura tatsächlich etwas kitschig. Letztendlich kommt es aber auf den Inhalt an. Und da liefert die Autorin ein wichtiges (Standard-)Werk zum Thema weibliche Wut, das hoffentlich möglichst viel Aufmerksamkeit findet – eine klare Leseempfehlung für alle die einen Einstieg oder Weiterführung zu diesem wichtigen Thema suchen.

Bewertung vom 29.08.2021
Das Glashotel
Mandel, Emily St. John

Das Glashotel


ausgezeichnet

Ein Buch das nachwirkt.
Die Geschichte beginnt direkt am Ende. Zum Großteil angesiedelt zwischen 1990-2018, verfolgt die Geschichte Paul und seine Halbschwester Vincent durch Ausschnitte ihres Lebens. Während beide in dem titelgebenden Hotel auf Vancouver Island arbeiten, ereignet sich ein schicksalhafter Abend und ihre Wege trennen sich erneut. Vincent lernt den vermögenden Finanzinvestor Jonathan Alkaitis kennen und geht mit ihm nach New York. Dort werden Jonathans kriminelle Finanzgeschäfte die Schicksale und Wege vieler Menschen für immer verändern.

Neben Vincent, Jonathan und Paul spielen noch viele andere Charaktere eine Rolle, fast alle von ihnen mit einer Verbindung zu Jonathan Alkaitis. Die Geschichte folgt dabei keiner linearen Handlung, sondern ist vielmehr eine Montage von Lebenserfahrungen einer ganzen Reihe von Figuren, die über Jahrzehnte hinweg rückwärts und vorwärts betrachtet werden. Dabei schafft es die Autorin, selbst eigentlichen Nebenfiguren eine nachhallende Wirkung zu verleihen.

Was die Geschichte für mich so bestechend und faszinierend macht, ist der sprachliche Stil der Autorin, auch in der Übersetzung wunderschön gelungen. Emily St. John Mandel schafft es ein fesselndes Netz an unterschiedlichen Charakteren und Zeitebenen elegant und auf fast lyrische Art miteinander zu verweben. Trotz der Spannung und der mysteriösen, aber auch träumerischen Atmosphäre, besticht das Buch vor allem durch seine Ruhe und seine feinen Beobachtungen. Es geht um Verbundenheit, darum wie unsere Schicksale auf unterschiedliche Art und Weise miteinander verwoben sind, um Schuld und darum wie uns unsere Gespenster für immer verfolgen. Die Auflösung um Vincent Schicksal war für mich im ersten Moment etwas überraschend, ergibt aber nach kurzem Wirken umso mehr Sinn – der Kreis schließt sich.

Es fällt mir schwer das Buch durch seine Vielschichtigkeit einem bestimmten Genre zuzuordnen, und wer einen klassischen Thriller erwartet, könnte enttäuscht werden.
Allerdings gibt es eine unbedingte Empfehlung für alle, die komplexe, vielschichtige Geschichten mögen und gerne tief in Atmosphären und wunderschöner Sprache versinken.
Ein Buch, das einen – passend zum durchziehenden Geister Motiv – verfolgt.