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frau pelikan
Wohnort: 
Rostock

Bewertungen

Insgesamt 49 Bewertungen
Bewertung vom 23.02.2022
Tell
Schmidt, Joachim B.

Tell


sehr gut

Ein Buch über Wilhelm Tell, noch eines? Den kennt doch jeder. Das ist der mit dem Apfel. Das mussten wir in der Schule lesen, in der Theater AG spielen. Da ist doch irgendwie hinterher die Schweiz gegründet. Wie war das doch gleich? Ach ja, der Rütlischwur.

Im Lexikonartikel findet sich unter dem Stichwort Schweiz vieles, aber nicht der Name Wilhelm Tell. Erst in der Abteilung Mythen werden wir fündig. Tell ist ein Jäger aus dem Urner Dorf Bürglen. Er wird vom habsburgischen Landvogt Geßler gezwungen, einen Apfel vom Kopf des eigenen Sohnes zu schießen und tötet den Landvogt aus Rache. Dieses „mythische Motiv“ findet sich Sagen quer durch Europa in fast allen Jahrhunderten. Der Nordmann, der im Roman beim Landvogt zu Gast ist, dürfte die Geschichte genauso gut von zuhause oben in Kälte und Eis kennen. Exkurs: Die Schweiz ist ein „Willensbund“, sie ist kein Staat aufgrund der kulturellen, sprachlichen oder religiösen gemeinsamen Identität seiner Bewohner und Bewohnerinnen.

Schmidt erzählt diese Sage, als ob er sie in Teilen für wahr hielte; wie unter einem Mikroskop seziert er einen kurzen Zeitabschnitt heraus, präpariert diesen unter der Wachsschicht der Jahrhunderte heraus, ohne jegliches Pathos, kein nationalistisches Heldentum. Die Figuren stehen nackt vor ihrem Autor.

Der Klappentext preist das Buch an: „Modern, frisch, schillernd.“ Ha, ha, Wortwitz. Aber …………………… NEIN! „The Revenant“ in den Alpen, schon eher.
„Tell“ ist ein sprachlich präzis durch komponierter Text. Natur und Menschen zeigen sich von ihrer bedrohlichen, gnadenlosen und gewalttätigen Seite. Die Armut ist uns zum Herz zerreißen. Der Autor schildert den grausamen Berg und den alles verschluckenden dichten Wald; ein menschenfeindlicher Landstrich, in dem auch der Mensch des Menschen Feind ist, in der früher und gewalttätiger Tod an der Tagesordnung ist.

Joachim B. Schmidt lebt seit Jahren in Island, wo sein letzter Roman „Kalmann“ spielt. Nun ist er erzählerisch in die Einöde und Berge seines Geburtslandes gewechselt. Und geht gleich in‘s schweizerisch Eingemachte. Die Herzkammer, sozusagen. Alles ist Kampf und Wut. Auf dem Tellenhof leben drei Generationen zusammen. Das Leben ist hart, der Hunger sitzt mit am Tisch, Haferbrei ist das täglich Brot. Eine Großfamilie, der die Mitte fehlt, denn Sohn Peter, Bruder von Wilhelm, ging eines Tages in die Berge und kam nicht zurück. Nach Wochen der Suche nahm Wilhelm Peters Platz auf dem Hof ein, im Stall, bei der Jagd und auch im Bett von Witwe Hedwig. Die Kinder sind Walter, Willi und Lotta.

In kurzen Episoden schildert der Autor jeweils aus der Sicht einzelner Figuren den Lauf der Dinge, subjektive Eindrücke und Gedanken ziehen an uns vorbei. Schnell geht es aus dem Kopf des Landvogts (draußen der böse Gessler, drinnen der liebende Familienvater) zur Zugehfrau vom Pfarrer Furrer, zu Walter, zur Grosi Marie. Langsam entwickelt sich der rote Faden in der Collage. In der Tat liest sich das streckenweise wie ein Script. Der Leser kann den Eindruck bekommen, dass er nicht auf seinem Sofa sondern auf einem Schneidetisch in Hollywood oder Potsdam/Babelsberg liegt. Sind Tempo und Bewegung wirklich so wichtig für diese Geschichte? Nein. Warum hat der Autor diese Erzählweise gewählt hat, keine Ahnung. Hat er etwa der Geschichte nicht getraut? Diese Gefahr besteht zu keiner Zeit. Stoff und Text tragen. Für uns Zivilisationsleichen ist die Rückfahrt ins 13. Jahrhundert eine heftige, und Schmidt erspart uns nichts. Keine Gewalt, keine Gleichgültigkeit gegenüber menschlichem Leid, keine Schlechtigkeit, kein Blutvergießen, keinen Mord. Und immer wieder spüren wir Wut, Wut, Wut – vor allem bei Wilhelm, der Protagonist, der im ganzen Text auffällig selten zu Wort kommt. Er spricht generell wenig, ist ein Mann der Tat. Braucht die Einsamkeit, die Wälder, wohl immer noch auf der Suche nach dem Bruder. Der Mann ist ein unberechenbares Pulverfass, kräftig wie ein sprichwörtlicher Bär, cholerisch und gewalttätig, auch

Bewertung vom 20.02.2022
Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße
Leo, Maxim

Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße


ausgezeichnet

Vor einigen Tagen betrat ich meine kleine, angestammte, besitzergeführte Buchhandlung. Nach einigem Small Talk mit dem Chef erzählte ich ihm, dass der „neue Maxim Leo“ meine nächste Lektüre sei. Die linke Augenbraue zog sich nach oben, ein überrascht kritischer Blick kroch misstrauisch über die beiden kleinen kugelrunden Brillengläser mit dem dezenten Goldrand. Dieses Buch werde die Gesellschaft spalten, prophezeite es aus dem gepflegten Revolutionärsbart. Auf welcher Seite er dabei stehen würde, war offensichtlich klar, während es an meiner Haltung offensichtlich begründete Zweifel gab. Nun denn, das bunte Buch unter dem Arm, verzog ich mich in den Lesesessel.

Um es vorne weg zu sagen: Dieses Buch wird gar nichts spalten, und schon gar nicht unsere Gesellschaft. Dieses Buch ist ein Märchen. Es war einmal. Oder ein Schelmenroman. Der Protagonist, Peter Hartung , enthält Spuren von Simplicissimus, vom mutigen Ritter Don Quijote, von den vielen Erzählungen über Till Eulenspiegel bis in die heutige Zeit,
von braven Soldaten Schwejk, von Felix Krull und nicht zuletzt von Peter Holtz. Kurz: Held wider Willen.

Maxim Leo ist Journalist und Autor. Er schreibt Kolumnen, Bücher, Drehbücher. Oft Krimis, Plots für den „Tatort“. Das adelt, zeigt uns aber gleichzeitig, dass wir es hier nicht mit Literatur in ihrem tieferen Sinne zu tun haben. Die Sprache des Autors ist straight und schnell, die Dramaturgie des Textes professionell, seinen Mutterwitz kann Leo 1:1 in geniale Sprachbehandlung umsetzen. Egal, wie quer manche Leser*innen das Buch in seiner Gänze einschätzen mögen: es wird niemanden geben, der oder die nicht wenigstens zwei oder drei Mal während des Lesens sehr laut lachen wird. Dazu kommen ein echtes Händchen für Situationskomik und ein Instinkt dafür, wie weit der Autor Themen oder Konstellationen treiben kann. Die Dosis macht eben das Gift.

Das Buch ist mutig, das ganze Projekt sitzt sozusagen stets und ständig auf der Rasierklinge. Schwanger oder nicht, Fan oder großes Kopfschütteln, ob so viel Geschmacklosigkeit. Dazwischen wird es wenige Schattierungen geben. In einer Kolumne über die politisch korrekte Sprachbehandlung schrieb Leo unter der Überschrift „Der verschwundene Negerkönig“: „Sprach-Säuberer denken ja immer, man könne mit Worten auch gleich Ideen oder Überzeugungen auslöschen. Meistens passiert aber genau das Gegenteil. Mich erinnert das an die DDR, wo die Mauer in der Schule „antifaschistischer Schutzwall“ hieß, was ihren Fall letztendlich nur beschleunigt hat.“

Nun aber in medias res.

„Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße“ ist Michael Hartung. Der sitzt nach vielen Rückschlägen in seinem Leben in einer schlecht laufenden Videothek, die er sich von seinem ehemaligen Arbeitgeber hat andrehen lassen. Nun sieht er, wie die zu Hochtouren auflaufenden Streaming Dienste ihm die Existenz zerstören. Im „Moviestar“, wie der heruntergekommene Laden ironischerweise heißt, erscheint eines Tages der Journalist Alexander Landmann.

Er hat Hartungs Namen in einer Stasi-Akte zu einem spektakulären Fall entdeckt: Am 12. Juli 1983 landete eine S-Bahn aus der Hauptstadt der DDR, die dort hätte bleiben sollen, in West-Berlin. Hartung war zu dieser Zeit dort im Bahnhof für das Stellen der Weichen verantwortlich. Blöderweise brach ihm an diesem entscheidenden frühen Morgen der Sicherheitsbolzen der Weiche ab – und das Verhängnis nahm seinen Lauf.

Landmann wittert seine Chance, es droht schließlich der nächste November. Die Mauerfall- und Wende- Gedenkmaschinerie braucht frisches Futter. Die Magie und das Gruselpotential der üblichen Revolutionsbärte verblasst fast 30 Jahre danach deutlich. Neuer Stoff muss her. Der Journalist greift einmal im richtigen Moment zu und landet einen veritablen Coup. Die Medien nehmen den Fall auf, die Sache gerät blitzesschnell aus dem Ruder. Es schaukelt sich eine gesellschaftliche Welle auf, die weder vor dem Bundestag noch vor der Liebe halt macht. Wer ist dieser Michael Hartung

Bewertung vom 30.01.2022
Zusammenkunft
Brown, Natasha

Zusammenkunft


gut

Dieser Debutroman ist ein kurzer. Kaum 120 Seiten. Und trotzdem steigen der Leser oder die Leserin aus dem Text aus wie nach einer sehr, sehr brutalen Achterbahnfahrt. Die beherrschenden Affekte: Angst und Wut, Wut und Angst. Die Autorin gönnt uns zwar ganze Sätze, aber keinen fließenden Text. Den haben wir uns nicht verdient. Da drei Seiten, hier ein Fitzelchen. Nur langsam erschließt sich das Setting. Alle Figuren haben Namen, nur die Ich-Erzählerin und ihr Freund nicht. Brown verweigert ihrer Protagonistin diese simple Abgrenzung gegen die Umwelt. In vieles, das sie in ihrem Monolog formuliert, müssen wir uns erst hineinlesen. Die auch heute gelebte britische Gesellschaftsordnung und der Umgang der Geschichte mit Glorie und Zerfall des British Commonwealth sind dem deutschen Leser, der deutschen Leserin fremd.

Der berufliche Werdegang der Ich-Erzählerin erscheint zielstrebig und erfolgreich. Erfolg zu haben, das war das gesetzte Ziel. Als Frau, und dazu noch als schwarze Frau, gab es dafür nur einen Weg: Leistung, Disziplin, Anpassung. Wie Brown an einer Stelle formuliert: „Bis die Knochen brechen.“ Sie macht Karriere, muss immer mindestens drei Mal so gut sein wie die Kollegen. Das kennen wir bundesdeutschen Frauen allerdings auch. Sie muss dann trotzdem die Beförderung mit einem Kollegen „teilen“ und wird von einem anderen angepöbelt, dass er nun als weißer Mann gegen eine schwarze Frau vollends bei Beförderungen durch die Quote fiele. Das Diktat der Diversity mache ihn zum Opfer. Arbeit als Hochleistungssport. Statusillustration als Bedingung. Zwischendurch immer wieder verzweifelte kleine Blitzlichter von Arztbesuchen und Diagnosen. Krebs. Sie belügt den Freund. Alles gut.

In der zweiten Hälfte des Textes weitet die Autorin den Blickwinkel der Leser und Leserinnen durch die Brille und Gedankenwelt der Protagonistin. Erinnerung an die Kindheit in der jamaikanischen Familie; das Gefühl, mit dem britischen Pass in der Tasche, im weißen Großbritannien wie ein Paria behandelt zu werden. Exemplarisch: der Flughafenangestellte, der sie ohne weiteres Federlesen wie selbstverständlich auf dem Weg zum Business Check-In abfängt und an die Economy-Schlange laviert.

Als sie bei den wohlhabenden und genealogisch über Jahrhunderte im britannischen Boden verwurzelten Eltern des Freundes unter dem Etikett „die aktuelle Herzensangelegenheit des Sohnes“ zu sein, zu einem Party-Wochenende eingeladen ist, prallen „die kleine Menschenseele“ und das „global Historische“ in der Protagonistin aufeinander – und es zieht ein unglaubliches Gedankenexperiment in ihr auf.

P.S.: Lieber Verlag, was habt Ihr Euch bei dem Cover gedacht? Ich verstehe ja die englisch gestutzte Heckensichtlinie. Aber doch nicht so, oder?
P.P.S.: Liebes Lektorat, auch auf die Gefahr, dass ich pinschiterig wirke - der Plural von "Aula" ist NICHT "Aulas".

Bewertung vom 24.10.2021
Die Enkelin
Schlink, Bernhard

Die Enkelin


sehr gut

Diese Rezension kommt aus Mecklenburg.

Kaspar Wettner betreibt seit Jahrzehnten in Berlin eine Buchhandlung. Seine Frau Birgit hat zum Anfang auch im Laden mitgeholfen. Doch bald hat sie das nicht mehr erfüllt. Nach Monaten in einem indischen Ashram macht sie eine Ausbildung zur Goldschmiedin, dann eine zur Köchin. Dann beginnt sie vermeintlich zu schreiben. Schon lange sind Alkohol und Medikamente ihre Begleiter, als sie eines Tages in der Badewanne ertrinkt.

Kaspar geht in Birgits Schreibstube auf Spurensuche und findet Teile seiner eigenen und der gemeinsamen Vergangenheit. Die beiden, er aus dem Westen, sie aus dem Osten Berlins, lernen sich als Studenten in Ostberlin kennen. Bei Diskussionsveranstaltungen und in der Kneipe bei Ingrid. Nicht lange, und Kaspar setzt alle Hebel in Bewegung, dass Birgit zu ihm nach West-Berlin kommt. Die Flucht gelingt.
Aber Birgit hat Zeit ihres Lebens ein Geheimnis gehütet. Sie hat eine Tochter. Als sie 20jährig auf den Parteifunktionär Leo reinfällt, der sie dann in der Schwangerschaft sitzen lässt, bekommt sie das Kind und beauftragt eine Freundin, den Säugling direkt nach der Geburt auf die Schwelle des Pfarramtes zu legen.
Nach dieser langen Zeit beginnt Kaspar die Suche nach Birgits Tochter. Und findet sie in der Tat in einer völkischen Gemeinschaft in einem Dorf nahe Güstrow, in Lohmen, denn „ um Güstrow schien es die meisten zu geben - …“.

Und Kaspar findet nicht nur Birgits Tochter Svenja sondern auch deren 14jährige Tochter Sigrun und Svenjas Mann Björn, der den Gast gleich mal nach dem potentiellen Erbe der Mutter abcheckt. Diese Gier macht sich der frisch gebackene Stiefopa zunutze und ab sofort verbringen Sigrun und er Zeit miteinander in Berlin. Dies aber erst, nachdem Björn ihm das Versprechen abgenommen hat: Kein Alkohol, kein Piercing, kein Kino oder TV.

Vorneweg: Bei Bernhard Schlink ist der Leser oder die Leserin sprachlich auf der sicheren Seite. Keine Experimente, alles sauber durcherzählt. Da sind wir safe wie in Abrahams Schoss. Und natürlich blitzt auch immer wieder auf, dass Schlink gelernter Jurist ist. Bei der mittlerweile stetig anschwellenden Flut von Juristen und Juristinnen, die der Überzeugung sind, dass sie nicht nur Bücher juristischen Inhalts schreiben können, muss das nicht unbedingt sein. Die Leserschaft hat da teilweise schon lange Leidenswege mit belletristisch dilettierenden Staats- und Rechtsanwälten hinter sich.

Die Geschichte kommt langsam in Fahrt, zu langsam. Auf Seite 100 kann man den Eindruck bekommen, man befände sich im „Geteilten Himmel 2.0“. Dann aber wird aus der Ost-West-Story, mit der Behäbigkeit der 31 Jahre Nachwende, eine sehr gegenwärtige Erzählung. Von der Neuen Rechten, von Menschen, die in deren Gemeinschaft die Struktur und Orientierung suchen und finden, die die heutige Gesellschaftsordnung nicht mehr vorrätig hält. Und die auch vor Gewalt nicht zurückschrecken.

Über das letzte Drittel des Buches und vor allem über die Figur des „Opa Kaspar“ kann und soll sich jeder und jede eine eigene Meinung bilden. Dieses Buch ist auf jeden Fall ein rechtschaffener Versuch, sich dem Phänomen erzählend zu stellen.

Bewertung vom 21.09.2021
DAFUQ
Jarmysch, Kira

DAFUQ


sehr gut

Kennen Sie das Musical „Chicago“? Bestimmt. Spätestens seit der 2002 Neuverfilmung mit Catherine Zeta Jones. The Cell Block Tango. Der Song, in dem die sechs Verbrecherinnen sich vorstellen und ihre jeweiligen Untaten beichten? In so eine Situation führt uns der Roman „Dafuq“ von Kira Jarmysch. „Dafuq“ ist die Gangsta slangartig verkürzte Form von Kurzform what, why oder where the fuck. Die Emotion dahinter kann sich jeder selbst denken.

So wie in der Zelle in Chicago beschreibt Kira Jarmysch den Alltag in einer russischen, einer Moskauer Gefängniszelle. Es ist ihr Romandebut, eigentlich ist Jarmysch seit 2014 bekannt als Sprecherin des Oppositionellen Aleksej Nawalny. Auch sie wurde bereits verhaftet und unter Hausarrest gestellt. Ohne es wirklich zu wissen, könnten wir also biographische Verwandtschaften zwischen der Autorin und ihrer Protagonistin vermuten.

Anja Romanova ist eine 28-jährige Studentin, die bei einer nicht genehmigten Demonstration festgenommen und prompt zu zehn Tagen Arrest verurteilt wird. Nicht Gefängnis, nicht Lager – Arrest. Sie findet sich in einer Sechs-Frau-Zelle wieder, drei Doppelstockbetten, in und auf denen sich das bunte Kaleidoskop der Moskauer Gesellschaft eingefunden hat – ein russischer Cell Block Tango beginnt. Zwischen unruhigen Nächten, herausfordernden Mahlzeiten, verabreicht von einem ebenso herausfordernden Küchenteam, Alpträumen besetzt mit Hexen und Messern, Handyausgabezeiten und den so genannten „Hofgängen“ lernt das lesende Publikum die Zellenbesatzung kennen. Maja, Irka, Katja, Natascha und Diana. Die eine komplett irr und schwer tablettensüchtig, die andere aus der Moskauer High Society mit mehr künstlichen als natürlichen Körperteilen. Dazwischen Anja, der als einzige ein „politisches Delikt“ auf dem Zettel hat. Harter Tobak sind die anderen fünf Frauen für sie. Fremd ist sie für ihre Mithäftlinge. Eine Demonstration, ungenehmigt und dafür zehn Tage Arrest? Das geht Katja nicht in den Kopf.

Sprachlich ist „Dafuq“ kein Meister(innen)werk, aber das lag wohl auch nicht im Fokus der Autorin. Nah an den Charakteren modelliert sie das Idiom passend zur sozialen Herkunft der Figuren. Das ist sehr, sehr unterhaltsam. Und bedrohlich. Denn das Bild, das sich auf diesem Wege von der russischen Gegenwartsgesellschaft formt, lässt den oder die demokratisch gebildeten und erzogenen Mitteleuropäer:in erschauern. Druck, Gängelei, Korruption, gelenkte Staatsmedien, Willkür, und Gewalt kurz, die ganze „Putinokratie“, schlicht nicht vorstellbar in unserem Land.

In den zehn Tagen „auf Zelle“ hat Anja viel Zeit zum Nachdenken, Zeit, sich zu erinnern. Coming of Age eben. An Kindheit und Jugend. An das Dorf, in dem sie groß geworden ist, an die Mutter. An die erste Verliebtheit, an die Zeit an der Uni, aber auch an das Ritzen an Handgelenken und Armen mit den Rasierklingen, um sich zu spüren. An wilde Partys und ihre langsame Politisierung (Pardon, diese Alliteration musste einfach sein.) Das ist manchmal etwas langwierig, erweist sich aber mehr und mehr als aufschlussreich und spannend. Aber, für mich als Leserin wäre dieser Text alles nichts ohne Maja, Irka, Katja, Natascha und Diana.

Bewertung vom 06.09.2021
Die stumme Tänzerin / Hamburgs erste Kommissarinnen Bd.1
Glaesener, Helga

Die stumme Tänzerin / Hamburgs erste Kommissarinnen Bd.1


gut

Bewährtes neu gemischt

Die Handlung ist schnell skizziert. Der Roman führt uns in das Hamburg des Jahres 1928. Wir lernen die junge, wissbegierige und rebellische Paula kennen, die die Nase von ihrem langweiligem Schreibjob voll hat und durch einen Zufall als Sekretärin bei der WKP, der Weiblichen Kriminalpolizei, landet. Als eine Reihe brutaler Frauenmorde im Milieu passieren, wird auch Paula gemeinsam mit einer Kollegin in den Strom der Ereignisse verwickelt. Und sie hat keine Ahnung, wie nahe ihr diese Ermittlungen noch kommen werden.

Diese Reihen-Premiere ist recht überschaubar. Das Milieu ist ein bisschen Gereon Rath’s Berlin (Volker Kutscher), Paula ist die Hamburgische Charly Ritter (Gereon Rath’s Verlobte und dann Ehefrau). Die Atmosphäre ist dicht gestrickt. Sie ist auch die absolute Sympathieträgerin im Buch. Jung, mutig, manchmal auch verzagt, mit viel Empathie für ihre Mitmenschen und auch Tiefgang. Zerrissen zwischen Konventionen und Familiensinn auf der einen, dem Wunsch nach Unabhängigkeit und einer sinnvollen Tätigkeit auf der anderen Seite. Eine Anfängerin im Beruf und im Leben, die Fehler macht, und der ein ums andere Mal Glück und Zufall (dem auch mal nachgeholfen wird) aus brenzligen Situationen helfen. Die Personnage drumherum und die Nebenkonflikte sind so angelegt, dass sie fortsetzungstauglich sind.

Auch die Saat für die Liebe ist schon eingebracht. Hier finden wir einen der wenigen wirklich mutigen Schwerpunkte. Glaesener thematisiert offensiv die weibliche Homosexualität. Die Kriminalhandlung ist spannend, zum Ende die Zusammenhänge aber arg konstruiert – und auch vorhersehbar.

Merkwürdigerweise nimmt man als Hörer:in dies der Autorin nicht übel. Das liegt vielleicht an der Stimme und Interpretation von Christiane Marx, der man gern folgt. Die Sprache fließt und stellt sich in den Dienst der Handlung. Keine Experimente. Fenster sind stets „staubig“, Gedanken sind „elektrisierend“. Ein Schmöker, nichts Bahnbrechendes. Aber – mit Potential für kommenden Titel.

Bewertung vom 25.08.2021
Heimatsterben
Höflich, Sarah

Heimatsterben


sehr gut

Gesellschaftliche Dystopien haben Konjunktur. Eine Dystopie schildert einen „üblen Ort“, eine Zukunft, die schwarz aussieht und in der Regel böse endet. Was wäre wenn, ….. das Hitler-Regime den Krieg gewonnen hätte (Andreas Eschbach: NSA), Terroristen uns den Strom abdrehen, den amerikanischen Präsidenten bedrohen etc. (die Romane von Marc Elsberg), gewaltbereite Neonazis sich organisieren, die sich die Unzufriedenen unseres Gesellschaftssystems zunutze machen (Jerôme Leroy: Der Block), der Clash of Cultures droht, das alte Europa untergehen zu lassen (Michel Houllebeqc: Die Unterwerfung; Constantin Schreiber: Die Kandidatin).

Und hier kommt gleich die nächste: Was wäre, wenn eine Partei, nicht unähnlich der AfD, angeführt von einem charismatischen Vorsitzendem aus „altem Adel“, die Schwäche der Demokratie nutzt und das Bundeskanzleramt erobert? Davon handelt der Debutroman von Sarah Höflich. Die Autorin, Jahrgang 1979, hat bisher als Drehbuchautorin und Produzentin für die UFA gearbeitet, das merkt man ihrem Schreibstil deutlich an und ich würde mich nicht wundern, wenn wir „HeimatSterben“ bald verfilmt sehen.

Als Teppich unter den Polit-Plot breitet Höflich die Geschichte der Familien Ahrens und von Altdorff aus. Freundlicherweise bekommt der Leser und die Leserin im Innendeckel einen Stammbaum zur Orientierung. Das Cover ziert ein verschimmelnder Apfel, der bekanntlich nicht weit vom (Stamm-)baum fällt. Dabei ist schnell zu spüren, welche Geschichte die Autorin eigentlich erzählen möchte, die der Familie.

Oma Tilde Ahrens, die als einziges Familienmitglied Flucht und Vertreibung nach dem
Zweiten Weltkrieg aus dem Osten überlebt hat, liegt hochbetagt im Sterben. Aus den USA fliegt auf die letzte Minute Enkelin Hanna Ahrens, nicht Hanna Ahrendt, wie sie dort immer wieder erklären muss, ein. Tilda bittet Hanna kurz vor ihrem Tod, die Familie zusammenzuhalten. Und die Handlung nimmt ihren bösen Lauf. Die Familie hat alles zu bieten, was die Leserschaft sich wünscht: den schwulen aidskranken Gentlemen-Onkel, dessen Neffe sich in ihn verliebt; der iranische Zahnarzt, der Bauer, die magersüchtige Schwester, die Hippie-Mutter und natürlich der machtgierige Schwager von Altdorff, der mit adligem Pomp und nationalistischem Gepränge ins Bundeskanzleramt einzieht.

Als Katalysator der Handlung und Ort der tieferen Reflexion dient eine langjährige und intime Briefkorrespondenz zwischen Tilde und Felix.

In der wahren Welt der Politik wird Felix mit den harten Realitäten konfrontiert. Derweil formiert sich an der Basis seiner Partei der militante Widerstand. Vokabeln wie „BürgerWehr“ und „Ermächtigungsgesetz“ fallen. Die Bundesrepublik scheint auf dem Weg in ein System, dass Fortschrittlichkeit, Individualität und Toleranz konsequent bekämpft.

Ein spannendes und lesenswertes Buch mit kleinen Abstrichen. Für das nächste wünsche ich mir weniger Klischée und einen Lektor, der die Personnage so zusammenstreicht, dass jeder Figur ausreichend Raum und schriftstellerische Sorgfalt bleibt.

Bewertung vom 10.08.2021
In allen Punkten
Wlasak, Helmut

In allen Punkten


gut

Zuerst einmal merken die Leser und Leserinnen sehr schnell, wess‘ Zunge Kind der Autor ist. Der österreichischen. Immer wieder gibt es Formulierungen oder Worte, über die der Liebhaber des Hochdeutschen stolpert oder schmunzelt.

Helmut Wlasak hat lange Jahre in verschiedenen Positionen in der Justiz verbracht, als Polizist, als Strafrichter in Graz. Nun hat er offensichtlich diese Zeit Revue passieren lassen und die skurrilsten, berührendsten oder komischsten Fälle so bearbeitet, dass sie in das Licht der lesenden Gemeinschaft treten können. In ca. 30 schlaglichtartig skizzierten Texten lernen wir die kriminelle Personnage kennen. Diebstahl, Betrug, Drogenbesitz und –schmuggel, Bandenkriminalität. Aber auch querulatorisches Irresein. Mal mit Pointe, mal ohne.

Wer die beklemmende Tiefe und Kälte der Erzählbände von Ferdinand von Schirach „Schuld“, „Strafe“ und „Verbrechen“ erwartet, wird enttäuscht. Hier geht es im Allgemeinen leichter zu. Wlasak erzählt sprachlich unauffällig (abgesehen vom charmanten Idiom), aber anschaulich und mit Humor. Er berichtet über Fälle bei Gericht, von Dieben und Betrügern; von denen, die es immer versuchen, aber nie Erfolg haben. Von Dummköpfen und den tragischen Naiven.

Manch eine Episode kann eine Nachttischlektüre sein, aber längst nicht alle. So zum Beispiel „Inge“, die Geschichte einer alten Dame, die sich, erschöpft von der jahrzehntelangen Pflege ihrer mehrfach behinderten Tochter, zu einem erweiterten Suizid entschließt. Oder die Verhandlung gegen „Edith und Erika“, die zur Bekämpfung von Einsamkeit durch alkoholische Vergnügungen regelmäßige Einbrüche auf dem Außengelände eines Baumarktes begehen. Stichwort: Gartenzwerg. Bittersüß.

Bewertung vom 05.07.2021
Betreff: Falls ich sterbe
Setterwall, Carolina

Betreff: Falls ich sterbe


gut

Carolina Setterwall macht die Leser*innen anfangs in zwei verschiedenen Erzählsträngen mit Carolina, der Ich-Erzählerin, deren Lebensgefährten Aksel und deren gemeinsamen Sohn Ivan bekannt. Der Gedanke, dass es sich hier um eine Autofiktion handelt, liegt nahe. Das erklärt auch die tagebuchartige Struktur und Alltagssprache in großen Teilen des Textes.

Auf einer Zeitschiene lernen Carolina und Aksel sich auf einem Fest kennen, und es gibt den sprichwörtlichen Funken. Die Beziehung der beiden entwickelt sich wie im Fieber, auch wenn Aksel manchmal ohne weitere Erklärungen für einen gewissen Abstand sorgt. Nur wenige Jahre später, im parallel erzählten Text, sind die beiden ein Paar und haben einen acht Monate alten Sohn. Beide sind gestresst. Das Baby, die Arbeit, ein Umzug. Und dann ist Aksel eines Morgens plötzlich tot. Kein Suizid, keine Gewalt, kein Unfall. Einfach - eingeschlafen und nicht wieder aufgewacht. Und nach dem Nebel des Schocks stellt sich die Frage. Wie kann Carolina mit dieser Situation umgehen?

In Kritiken über dieses Buch wird stark auf den Tod Aksels und Carolinas Umgang mit dieser Situation fokussiert. Rückt man in der Betrachtung jedoch ein Stück vom Text ab, ergeben sich zahlreiche andere Facetten der Hauptfigur. Nicht nur Carolina, die Witwe und alleinerziehende Mutter. Es gibt auch Carolina, die Kollegin, die Freundin, die Liebhaberin, die Lebensgefährtin, die Wütende, die Neidische, die Ungerechte, die Depressive, die Patientin. Alle anderen Figuren scharen sich um sie und ihr Leben wie Statisterie. Sie bleiben im Buch unscharf, die wenigsten haben Namen sondern nur Funktionen. So können Leser*innen einen Schutzabstand für sich zu den Ereignissen aufbauen.

Handlung und Text haben zu Beginn ein rasantes Tempo, leben aber vor allem von der genauen Beobachtungsgabe und der schonungslosen Offenheit der Ich-Erzählerin den Leser*innen gegenüber. Setterwall lässt uns an jedem Gedanken, jedem emotionalen Zustand Carolinas teilhaben, bis in das letzte, schmerzhafte Detail.

Anders als viele Kritiker*innen, die von einer „literarischer Sensation“ etc. berichten, kann ich dies nicht feststellen. Setterwall erzählt sprachlich unprätentiös und direkt. Für wahre Literatur gibt es zu wenig Essenz auf der Metaebene, zu wenig Reflektion auf das große Ganze im Buch. Was weder kritikwürdig noch nachteilig für die Leser*innen ist! Vielleicht sind 450 Seiten Unglück, Tränen und Selbstzweifel nur so zu ertragen?!?

Fazit: Lesenswert, aber nur lesbar, wenn Ihr selbst gerade gute Nerven habt; nix für den Strand.