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Benutzername: 
Luisabella
Wohnort: 
Hamburg

Bewertungen

Insgesamt 174 Bewertungen
Bewertung vom 15.09.2023
Gewässer im Ziplock
Vowinckel, Dana

Gewässer im Ziplock


gut

Coming-of-Age Roman, der jüdisches Leben, Heimat und Identität verhandelt

»Es war immer das Gleiche mit ihr [Marsha], dachte er [Avi]. Sie ging, ohne sich zu verabschieden, und kam, ohne sich anzukündigen, und am Ende freute man sich umso mehr über sie, weil sie so unzuverlässig war, dass es immer auch eine Gnade war, wenn sie sich dazu herabließ, sich mitzuteilen. »Yofi.«« S. 286

In ihrem Debütroman »Gewässer im Ziplock« schreibt Dana Vowinckel über eine amerikanisch und deutsch-jüdische Familie. Abwechselnd lesen wir aus Sicht des alleinerziehenden Vaters Avi, der für seinen Job als Chasan aus Israel nach Deutschland gezogen ist, und seiner Tochter Margarita (aka Rita, 15 J.), die als Jüdin in Deutschland geboren und aufgewachsen ist, die Story rund um diese Familie. Diese beginnt mit dem all-jährlichen Besuch Ritas ihrer Großeltern (mütterlicherseits) in Chicago. Die US-amerikanische Mutter Marsha hat Avi und Rita früh verlassen und ist in die USA zurückgekehrt. Bei ihrem Besuch der Großeltern sieht Rita häufig auch ihre Mutter, dieses Jahr hat diese sie nach Israel für einen Roadtrip eingeladen. So spannt sich eine Story mit nicht wenig Drama vor den Lesenden auf, die sich aus Ritas Sicht wie ein Coming-Out-Of-Age Roman liest. Der Schmerz über die Trennung der Eltern wird immer wieder auf beiden Seiten - Rita & Avi - deutlich und gibt dem Roman eine weitere Nuance.

»»There is no such thing as poetic justice«, sagte Marsha, »and, my darling, that is the cruelest and the kindest thing about our lives.« Dann ging sie.« S. 317

Besonders an dem Buch hat mir der Blick auf jüdisches Leben, Kultur und Traditionen in Berlin, Chicago und Israel gefallen. Auch wie unterschiedlich, Glaube und Religion interpretiert werden können, fand ich sehr stark beschrieben. Kunstvoll wird dies mit der Story verwoben, ebenso wie jüdische Wörter selbst. Was mir nicht gefallen hat, war der ‚Good Parent - Bad Parent‘-Part, bei dem zeitweise die Mutter überhaupt nicht gut davon kommt, dann aber der Vater zu streng ist und Margarita nicht nur zwischen den umabgestimmten Eltern zerrissen ist, sondern sich gefühlt ständig auf eine Seite schlagen muss. Das fand ich sehr anstrengend, ebenso wie der nicht gelöste Konflikt zwischen den Eltern, der mal mehr mal weniger schlummert.

Insgesamt ist »Gewässer im Ziplock« ein spannender und schön geschriebener Roman, der gekonnt Themen wie jüdische Identität, Traditionen und der Suche nach Heimat verhandelt, aber dennoch einige Längen hat und mich damit in Gänze leider nicht ganz so überzeugen konnte. Empfehlung gibt es aber natürlich trotz der Längen ♡

Bewertung vom 05.09.2023
Terafik
Karkhiran Khozani, Nilufar

Terafik


sehr gut

»Er [Khosrow] konnte nur zusehen, wie das Land langsam ausblutete. Er würde ihr [Nilufar] gerne sagen, dass eine Nation mit über achtzig Millionen Menschen, mit einer Fläche fünfmal so groß wie Deutschland nicht einfach in vierzig Jahren zerstört, eine 4000 Jahre alte Kultur nicht einfach ausradiert werden könne, aber seine Tochter musste auflegen, ein andermal.« (S.122) 🇮🇷💔

Nilufar wächst als Tochter eines iranischen Vaters und einer deutschen Mutter in Deutschland auf. Als der Vater seinen Job verliert, verlässt die Mutter mit kleinen Nilufar den Vater von heute auf morgen. Dieser kehrt schließlich in den Iran zurück. Mit Anfang 30 arbeitet Nilufar als Psychotherapeutin in Berlin, als sie sich dazu entschließt, ihren Vater zum ersten Mal im Iran zu besuchen und Antworten auf Fragen zu finden.

Warum hat ihr Vater nie Persisch mit ihr gesprochen?👨‍👧
Warum ist er gegangen? 🇮🇷

Diese Fragen und Themen der Identitätssuche von Nilufar verhandelt der Roman und zeigen damit nicht nur die Zerrissenheit zwischen Verständnis, Liebe und Wut auf den Vater, sondern auch auf die eigene Herkunft und Zugehörigkeit auf. Dabei wird das Gedankenspiel ‚Was wäre wenn … ?‘ 💭 häufig gespielt, aber selten im Diskurs mit anderen thematisiert. Insbesondere im immer wieder von Nilufar angestellten Vergleich mit ihrer gleichaltrigen, im Iran aufgewachsenen Cousine Narges wird deutlich, wie unterschiedlich ihre Leben verlaufen sind — natürlich geprägt durch die verschiedenen Länder, Sprachen und Kulturen.

»»Nilufar!« Narges lacht schallend. »Was willst du denn hier? Hier wollen die jungen Leute alle weggehen. Denkst du wirklich, du könntest hier leben?«« (S.232)

Stilistisch gekonnt schreibt die Autorin Nilufar Karkhiran Khozani in ihrem autofiktionalen Roman »TERAFIK« über ihre erste Reise in den Iran zu ihrem Vater, über Identitätssuche, über Familie und Zugehörigkeit, über die Zerrissenheit zwischen Kulturen und über Vater-Tochter-Beziehung. Immer wieder baut sie dafür Rückblenden des Vaters sowie SMS-Kommunikationen ein und gibt damit nicht nur einen Einblick in Nilufars Gedankenwelt, sondern auch die Perspektive des Vaters. Dadurch entsteht ein eindrucksvolles Gesamtbild, bei dem dennoch Interpretationsraum verbleibt.

Heraus kommt ein einprägsamer und emotionaler Roman über Identität, Familie und Zugehörigkeit. Stellenweise hätte ich mir etwas mehr Reflektion mit der eigenen Situation als auch dem Iran als Land der Gegensätze gewünscht. Zudem bleibt die Mutter leider eine - für den Kontext auch sehr relevante - Leerstelle. Nichtsdestotrotz finde ich dieses (mutmaßlich) sehr persönliche Auseinandersetzung sehr wichtig und vielseitig.

Alles in allem: Ein Buch, das mir neue Perspektiven und Denkweisen aufgezeigt hat, und damit eine weitere Sichtweise auf den Iran gibt, und das ich daher sehr gerne empfehle. 🩷

Bewertung vom 21.08.2023
Heartbreak
Bagci, Tarkan

Heartbreak


gut

»»Du bist ohne Plan hergekommen? Einfach so?« [Marie] »Ja und?«, fragt Tom. »Machst Du nie mal was aus 'nem Bauchgefühl heraus?« »Nein«, meint Marie trocken. »Das einzige Gefühl, das aus meinem Bauch kommt, sind Schmerzen.« Tom lacht, aber Marie nimmt es ihm nicht übel. Er kann schließlich nicht wissen, dass das nur zur Hälfte ein Scherz war.« (S.182)

In »HEARTBREAK« erzählt der Podcaster, TV-Moderator und Autor Tarkan Bagci zunächst parallel die Geschichten von Marie, einer jungen Frau mit Depressionen, Angststörungen, einem okayen Job mit neurotischem Chef und schwierigem Verhältnis zu ihren Eltern; und dem erfolgreichen Musiker Tom [Thomas], der sich neben seiner Musikkarriere eine Schauspielkarriere aufbauen sollte. Marie - hat es insgesamt nicht leicht im Leben - wird von ihrem Partner geghostet und ist heartbroken 💔 , während Tom’s Karriere durch einen tragischen Unfall und eine Lüge zerstört wird und der Shitstorm ihn tief trifft. Beide belogen und betrogen, treffen sie sich in einem Hotel in der Toskana. Wen diese Storyline anspricht, liest, was daraus wird 🫢

Ich wollte den Roman sehr mögen, weil ich Tarkan Bagci als Moderator und Podcaster sehr gut finde. Pluspunkte sind aus meiner Sicht auf jeden Fall, dass das Buch psychische Krankheit thematisiert und somit weiter in die Gesellschaft rückt. Leider war mir die Story nicht ausgereift genug, zu oberflächlich und vorhersehbar. Auch bei den Charakteren hätte ich mir mehr Beschreibung und Tiefe gewünscht, zumal ich die Handlungsmotivationen und auch Handlungen nicht realistisch empfand. Zudem bin ich ein großer Fan von ‚FORGIVE AND LET KARMA DO ITS THINGS’ 🧘🏼‍♀️ … Vielleicht lag es an meinen hohen (und vielleicht zu hohen 👉🏼👈🏼) Erwartungen - auch trotz des großartigen Covers 💘 konnte mich der Roman leider nicht überzeugen.

Fazit: Cute Story 💖, die sicherlich Liebhaber:innen finden wird und sich schnell liest. Meins war es leider nicht, das ist aber völlig OK. 😌

Bewertung vom 18.08.2023
Kartonwand
Çevikkollu, Fatih

Kartonwand


ausgezeichnet

In seinem erzählenden Sachbuch »Kartonwand: Das Trauma der Arbeitsmigrant/innen am Beispiel meiner Familie« schreibt der Kabarettist, Schauspieler und Autor Fatih Çevikkollu über seine Familie und den (möglichen) Einfluss von Arbeitsmigration auf die Psyche.



Zu Beginn des Buches werden Grundlagen der Arbeitsmigration erläutert und mit weiteren Quellen belegt bzw. Literaturverweise gegeben. So wird bspw. dargestellt, warum es ein Abkommen zwischen der Türkei und Deutschland gab, wie sich die ablehnende, offen diskriminierende Haltung gegenüber den Arbeitsmigrant*innen in Deutschland zeigte und mit welchen Mitteln Deutschland - z. B. § Rückkehrförderungsgesetz (1983) - diese Arbeitsmigrant*innen loswerden wollte.

Geprägt von diesen Lebensumständen schildert der Autor die Geschichte seiner Familie, an deren Beispiel die Zerrissenheit zwischen dem Leben in der Türkei und dem Arbeiten in Deutschland deutlich wird. Die »Kartonwand« beschreibt dies eindrücklich:

»Es gibt die Türkei als Lebensziel, und alles wird dorthin ausgerichtet. Das ist der Klassiker. […] Alle hatten zu Hause eine Wand mit Kartons, […] , in denen die Sachen, die man mit in die Türkei nehmen wollte, aufbewahrt wurden. Alles Schöne und Wertvolle wurde aufgespart. Oder eben Dinge, die in Deutschland gut und günstig sind. Das Hässliche wird in Deutschland benutzt, das Schöne geht mit ins Paradies.« (S.29)

Für viele türkische Arbeitsmigrant*innen war Deutschland ein Provisorium und die Rückkehr in die Türkei das Ziel. Dies zeigt sich bspw. in einer Kartonwand, aber auch darin, dass z. B. Kinder (vorerst) in der Türkei bei Verwandten gelassen worden sind. Oder in Deutschland geborene Kinder, die in die Türkei zur Schule geschickt worden sind, damit sie schon einmal dort seien, wenn die Eltern zurückkommen würden. ‚Kofferkinder‘ nennt Fatih Çevikkollu diese Kinder, die nicht selten zwischen Deutschland und der Türkei hin- und hergeschickt worden sind. Das macht natürlich auch viel mit den Kindern, wie sich am Beispiel des Autor zeigen lässt:

»Ich bin Deutscher, aber ich habe immer das Konzept der Türkei im Kopf. Wie ein Betriebssystem, das nicht genutzt wird, ein Upload, der nicht gestartet wird, aber immer präsent ist wie ein Avatar.« (S.29)

Parallel zu den politischen, gesellschaftlichen und strukturellen Themen um Arbeitsmigration, die Çevikkollu darstellt, schreibt er über seine Familie als Beispiel dessen. Es wird schnell deutlich, wie verheerend diese Kombination aus Rassismus, günstige Arbeitskraft und Deutschland als Provisorium sein kann. Zumindest im Falle seiner Mutter hat dies zu psychischen Problemen geführt. Ganz unabhängig davon, dass auch die Familie und das gemeinsame Zusammensein und Glück darunter leiden.

»Migration löst keine psychischen Krankheiten aus, stellt aber in jedem Fall eine seelische Belastung dar. Sie kann unter Umständen dazu beitragen, dass krankheitsauslösende Faktoren begünstigt werden. Meine Eltern lebten nicht in Deutschland, sie arbeiteten hier. Ihre dreißig Jahre in Deutschland waren ein Provisorium, und keiner machte sich klar: Die baldige Rückkehr sollte sich zur Lebenslüge entwickeln.« (S.31)

Ich finde den Satz »Meine Eltern lebten nicht in Deutschland, sie arbeiteten hier.« (S.31) sehr vielsagend. 💔

Das Buch thematisiert Arbeitsmigration aus verschiedenen Perspektiven, die ich als sehr bereichernd und wichtig empfinde. Dies wird durch das persönliche Beispiel der Familie Çevikkollu verstärkt. Sicherlich gibt es noch einige weitere Aspekte, die hier nicht berücksichtigt worden sind, aber der Subtitel gibt sehr gut vor, was in diesem Buch erwartet werden kann. Einziger Kritikpunkt ist, dass sich Inhalte zum Teil sehr stark wiederholen, was vielleicht daran liegen könnte, das Kapitel einzeln verfasst bzw. überarbeitet worden sind.

Insgesamt ein sehr wichtiges, aktuelles und eindrückliches erzählendes Sachbuch, das ich sehr empfehle. 🧿💙

Bewertung vom 13.08.2023
Sylter Welle
Leßmann, Max Richard

Sylter Welle


gut

Ein letzter Sommerurlaub bei Großeltern auf Sylt — mit Erinnerungen im Gepäck

Max Richard Leßmann — Sänger, Podcaster und Dichter (Gedichtband »Liebe in Zeiten der Follower«, 2022) — ist aus dem Internet nicht wegzudenken. Jetzt hat er seinen ersten Roman veröffentlicht: »Sylter Welle« 🌊

Ein letztes Mal die Großeltern in ihrem Sommerurlaub auf Sylt besuchen, nicht wie früher immer mit dem Camper, sondern dieses Mal in der »Sylter Welle« — einem Hotel direkt an der Strandpromenade in Westerland. Und damit fängt es schon an, seine Oma Lore holt ihn zu Fuß und nicht mit dem Auto ab, wo es sonst aus dem Handschuhfach immer die zuckrigen ‚Sauren Äpfel‘ 🍏 gab. In seinem Roman schreibt Max über die gemeinsamen drei Tage auf Sylt mit seinen Großeltern und schildert dabei nicht nur Urlaubserlebnisse, sondern schwelgt in alten Erinnerungen, die nicht immer so witzig und klebrig-süß sind, wie sie sich mit den ersten Sätzen vielleicht lesen mögen. Oftmals haben die Stories, Anekdoten und Erinnerungen doch auch einen bitteren, traurigen oder harten Beigeschmack. Mitleid kann Max von diesen Großeltern beispielsweise nicht erwarten, denn mensch tut sich ja selber schon leid. 💔 Zurück zum Urlaub — selbstverständlich wird in der Sylter Institution ‚Kupferkanne‘ Kuchen geschlemmt.

»Laut Google essen Menschen in Deutschland durchschnittlich fünf Kilo süßes Gebäck im Jahr.
Und auch wenn ich in meinem Alltag eigentlich nie Kuchen esse und erst recht keine Torte, schaffe ich es allein durch die wenigen Besuche bei meinen Großeltern mit Leichtigkeit über diese lächerlich kleine Grenze.« (S.53) 🍰

Max #nordischbynature schreibt in norddeutscher Manier über seine Familie und damit auch über die ihm gestellte Frage: »»Wen von diesen ganzen Leuten würdest du eigentlich mögen, wenn es nicht deine Familie wäre?«[Frage von Max Ex-Freundin an Max]« (S. 157). Es ist eine Liebeserklärung an seine Großeltern, gerade weil die harten Seiten der im 2. Weltkrieg großgewordenen Menschen nicht verklärt werden.

Ein Roman, der gerade wegen des Witz, Charm und Nostalgie nicht über die Tragik, Trauer und das Unverständnis einiger Erinnerungen hinwegtäuscht. Mich haben viele Anekdoten sehr nachdenklich gestimmt. … Wem wenn nicht unserer Familie sollten wir die Fragen stellen können, die wir stellen wollen? Haben nicht alle Menschen Mitgefühl verdient? 

Was deutlich wird: Lieben tun wir trotz unserer Verletzungen und viele in verschiedenen Lovelanguages. ❤️‍🩹

Ein berührendes Buch, dessen Cover meiner Meinung nach, perfekt zum Inhalt passt. 🌊🔥

Bewertung vom 13.08.2023
Schönwald
Oehmke, Philipp

Schönwald


weniger gut

Karolin Schönwald eröffnet im hippen Berlin 🐻🪩 eine queere Buchhandlung mit ‚einer‘ Freundin (Alina) und bei der Eröffnung kommt es zum Desaster, als ein Pulk von Menschen vor dem neuen Geschäft randaliert und die Fensterscheibe zerstört. Der Grund ist: Das Startkapital für die Ladeneröffnung stammt aus dem Erbe von Karolins Großvater, einem verstorbenen, ehemaligen Nationalsozialisten. Neben dieser 💥Thematik greift der Roman die Familienprobleme der Schönwalds und damit etliche weitere gesellschaftliche Spannungsfelder und aktuelle Themen (u. a. Trump Kritik, umaufgearbeitete Nazi-Vergangenheit in deutschen Familien, Familienstreitereien und -konflikte, Queerness, etc.) auf und auf 543 Seiten wird dies aus den verschiedenen Perspektiven der fünf Familienmitglieder (den Eltern Harry und Ruth sowie den erwachsenen Kindern — Chris, Karolin und Benni) exerziert.

»SCHÖNWALD« von Philipp Oehmke konnte mich leider nicht überzeugen. Ich muss ehrlich sagen, dass das Buch meiner Meinung nach zu viele Seiten umfasst und diese leider nicht inhaltsstark füllt. Der Roman wollte aus meiner Sicht zu viel und die Thematiken werden mir persönlich zu oberflächlich und auch zu sprunghaft verhandelt. Abgesehen davon, konnte ich leider keine Verbindung zu den Protagonist:innen aufbauen … Das war einfach nichts mit diesem Roman und mir — aber vielleicht geht es anderen ganz anders als mir?

Von mir gibt es daher leider keine Leseempfehlung.

Bewertung vom 13.08.2023
Vatermal
Öziri, Necati

Vatermal


ausgezeichnet

»Auf die Frage »Wie geht's dir?« gab es keine Antwort. Wir fragten einander ja nie »Wie geht's«, höchstens »Was geht?«, und die Antwort war immer dieselbe: »Nichts, und bei dir?« Wir fragten uns nicht, gerade weil wir wussten, was zu Hause los war.« (S.255f)

Gleich vorweg: Deutscher Buchpreis 📖🏆 - this one is made for you 🔥

Also worum geht’s und warum sollten wir das ALLE lesen?

In seinem Debüt (ich meine, was für ein krasses Debüt kann man abliefern?! 😮‍💨) »VATERMAL« lässt der Autor Necati Öziri seinen Protagonisten Arda, ein Anfang 20-jähriger Literaturstudent, sein Leben in der Rückschau erzählen. Arda liegt zu diesem Zeitpunkt schwerkrank auf der Intensivstation und wird abwechselnd von seiner Mutter Ümran oder seiner Schwester Aylin besucht. Sein Vater ist sein Leben lang abwesend und für diesen erzählt er sein Leben:

»Du sollst wissen, wer ich gewesen bin. Damit du niemals die Erleichterung fühlst, von der ich so oft heimlich träumte: von einem Toten angeschwiegen zu werden. Ich möchte dir für immer die Möglichkeit nehmen, nicht zu wissen, wer ich war. Du sollst erfahren, wie es deiner Familie in Deutschland ging, wie im letzten Sommer meiner Jugend alle meine Freunde verschwunden sind und wie auch ich versuchte, vor mir selbst zu fliehen. Du sollst wissen, wie stark es regnete an dem Tag, als Aylin von zu Hause wegrannte, wie sie »Tut mir leid« in mein Ohr flüsterte, die Wohnungstür hinter sich offen ließ und nie mehr zurückkam. […].« (S.19f)

Am Krankenbett erzählt sowohl seine alkoholabhängige Anne von ihren Lebensweg, der von der Vergangenheit der eigenen Eltern als Gastarbeiter:innen in Deutschland stark geprägt ist, als auch Aylin von ihrem Erleben der Familie und des Vaters Metin. Aus diesen Erzählperspektiven entsteht ein ungemein vielschichtiger, emotionaler und Emotionen hervorrufender Roman, der so viel mehr als nur eine fiktive Geschichte zu erzählen vermag. Die verschiedenen Blickwinkel sorgen dafür, dass Handlungen nicht gerechtfertigt werden, sondern vielmehr und wichtiger, eine Erklärung bekommen.

Was prägt Menschen? Was machen ständige Amtsbesuche und das Warten auf eine Staatsangehörigkeit mit einem Menschen? Wie kann es sich anfühlen, wenn ein Elternteil eine Leerstelle bleibt? Wie hinterfragen wir (Männlichkeits-)Ideale?

Der Autor Necati Öziri schafft es viele wichtige, gesellschaftliche Themen und Probleme aufzuzeigen und sich damit mitten ins Herz der Lesenden zu schreiben. Ein intensiver Roman voll Humor, Tragik, Komik, Empathie und Charme. ❤️‍🔥 Ein Buch, das für mich lange nachhallt und dem ich ganz viel Aufmerksamkeit 🩷💭💬 wünsche und Preise 🤝🏼

Für mich ein literarisches Highlight ✨

Bewertung vom 01.08.2023
Nachts erzähle ich dir alles
Landsteiner, Anika

Nachts erzähle ich dir alles


sehr gut

LOOKING FOR A FEEL-GOOD BOOK WITH DEPTH?

HERE IT IS 💖 LAY BACK AND READ YOURSELF INTO 🇫🇷🥐☀️

Léa entflieht ihrem stressigen Alltag als stolze Cafébesitzerin und ihrer Trennung von ihrer Ex-Freudin Antonia aus München in die Familien-Villa in Südfrankreich. Dort wird sie an ihrem ersten Abend von der jungen Alice in ihrem Garten überrascht und die beiden Frauen unterhalten sich. Kurze Zeit später stellt sich heraus, dass Léa die letzte Person war, die Alice getroffen hat. Alice’ Bruder Emilé, ein erfolgreicher Podcaster und Social Media Star, sucht Antworten auf die Fragen und den plötzlichen Tod seiner 16-jährigen Schwester. So treffen die Léa und Emilé aufeinander und was als Befragung beginnt, wird zu intensiven Gesprächen, Support und ganz maybe auch dem ersten Kuss — aber mehr wird hier definitiv nicht gespoilert. 💋 Auch Claire — eine langjährige Familienfreundin — nimmt eine besondere Rolle in diesem Südfrankreich Abenteuer ein und gibt dem Buch eine weitere Perspektive und Tiefe. 💘

»»Wir setzen dieses Gefühl [Verliebt sein] sofort in eine Wechselwirkung, und zwar mit dem Verlangen, dass es erwidert werden muss, damit es Liebe ist Deshalb fühlt sich die Liebe so oft nach Verlust an. Nach Angst und Enttäuschung, nach Verrat und Betrug. Wir nehmen dieses opulente Gefühl, das überhaupt keine Grenzen kennt, und packen es in unsere kleine egoistische Erwartungshaltung. Und wenn es dann nicht besteht, wenn wir nicht zurückgeliebt werden, schmeißen wir es aus dem Fenster. Die wenigsten wollen lieben. Aber alle wollen geliebt werden.««(Claire zu Léa, S.296)

In »Nachts erzähle ich Dir alles« schreibt die Autorin Anika Landsteiner über Liebe, Verliebtsein, Trennung, Abschied, Schmerz, Tod, Abtreibung und starke Frauen 🔥 Wie das alles zusammen passt und zu solch einem großartigen BANGER wird? Überzeugt Euch selbst 🧡 Sprachlich, stilistisch und thematisch hat mich das Buch absolut begeistert — RIESEN Leseempfehlung von mir 🧡🩵

Und da ich »So wie Du mich kennst« noch nicht gelesen habe, geht es für mich damit weiter.

[4.5/5 ☆]

Bewertung vom 30.07.2023
Cleopatra and Frankenstein
Mellors, Coco

Cleopatra and Frankenstein


sehr gut

»»So ist doch niemand«, hatte sie danach gesagt. Sie saßen auf dem Wohnzimmerboden, um sie verstreut lag die schwarze Orchideenerde. »Oder?« Sie sah ihn an.
»Ich weiß es nicht, Cley«, sagte er. — »Aber was glaubst du?« — »Ich bin mir sicher, dass es schlimmere Paare gibt.« Er zuckte mit den Schultern. »Und bessere.«« (S.293) ❤️‍🩹

Boy meets Girl. Frankenstein meets Cleopatra und könnten verschiedener kaum sein: Cleo (aka Cleopatra) — Britin, Mitte 20, wunderschön, depressiv, gerade fertig mit dem Studium und noch in der Findungsphase des Lebens mit erheblichen Geldsorgen trifft auf Frank (aka Frankenstein) — einen US-amerikanischen Mittvierziger, CEO einer erfolgreichen Werbeagentur, reich und alkoholsüchtig. Am New Year’s Eve treffen die beiden in New York aufeinander, stürzen sich in ihre Liebe, und heiraten wenige Monate nach ihrem Kennenlernen. Das hier Welten aufeinander prallen — UK vs. USA; Künstlerin meets erfolgreichen Founder; Depression trifft auf Alkoholismus; Zwanziger vs. Vierziger — wird deutlich, und das quasi vorprogrammierte Drama nimmt seinen Lauf. Dabei wird diese toxische Beziehung wird in ihrem DEBÜT »Cleopatra und Frankenstein« 💘von der Autorin Coco Mellors (Ü: Lisa Kögeböhn) nicht nur aus der Sicht der beiden Protagonist:innen gezeigt, sondern immer wieder wechselt die Erzählperspektive zu anderen wichtigen Figuren aus ihrem Leben, deren Lebensgeschichte gekonnt mit der titelgebenden Lovestory erzählt wird. Gekonnt werden die komplexen Strukturen zwischenmenschlicher Beziehungen seziert und das Buch wird genau dadurch zum Pageturner, dass es so realistische Charaktere mit all ihren Schwächen, Fehlern, Traumata, Wünschen und Sorgen, wie sie das Leben selbst schreiben könnte, erschafft. Und genau DAS macht diesen Roman für mich aus: Die Charaktere, die nicht nur mit ihren glänzenden Seiten präsentiert werden, sondern insbesondere auch durch ihre jeweiligen Abgründe. Ähnlich wie bei Sally Rooney, sind es mit den Charakteren auch bei Coco Mellors die ehrlichen, zynischen, witzigen Konversationen, die sarkastischen Zwischentöne und -bemerkungen, die das Buch so einzigartig machen.

Einziger Kritikpunkt 🤏🏼 von meiner Seite ist die sehr überspitzte und stereotypische Darstellung von Frank als reichem, erfolgreichem und attraktivem Mann, während Cleo hauptsächlich auf ihre Schönheit und Depressionen reduziert wird und nicht nur keinen Erfolg als Künstlerin hat, sondern als seine Ehefrau gar nicht wirklich daran arbeitet. Dabei hätte ich mir mehr feministische Perspektive als auch tiefgehendere Auseinandersetzung mit ernsthaften physischen Erkrankungen gewünscht.



Shall I read it — yes or no?

YES — Es ist keine Lovestory, die noch nie so erzählt worden wäre, aber es ist die Art und Weise, wie sie erzählt wird, die sie besonders macht. 💖 Die Charaktere wecken Sympathien und Antipathien gleichermaßen — und das ist es, was ein gutes Buch ausmacht: Das ich es nicht aus der Hand legen will, weil ich wissen will, wie es weitergeht. 🔥



[CN: Alkoholismus, selbstverletztendes Verhalten, Depressionen, Suizidversuch]

Bewertung vom 30.07.2023
Der Trost der Schönheit
Arnim, Gabriele von

Der Trost der Schönheit


ausgezeichnet

»Schönheit als philosophische Herausforderung — das mag ja angehen, aber als Alltagsglück? Manche empfinden Schönheit als überflüssige Dekoration des Lebens, die man ebenso gut abschaffen könnte. Ich glaube, sie irren.« (S.164)

In ihrem Sachbuch »Der Trost der Schönheit« philosophiert, schreibt, denkt nach und sinniert die Autorin Gabriele von Arnim über Schönheit und den Trost, den diese uns spenden kann, wenn wir offen für die Schönheiten des Lebens und der Welt sind. Bereits in ihrem Buch »Das Leben ist ein vorübergehender Zustand« schrieb die Autorin, dass Schönheit Schmerzen/Trauer/schwere Zeiten erträglicher machen könne und in diesem neuen Buch widmet sie sich ganz diesem Thema Schönheit und u. a. »balsamische ZuHauseGefühl«. Sie fragt, was Schönheit ausmache, aussage über die Person, die sie erkennt. Ist es nicht immer auch sehr subjektiv, was wir als ‚schön‘ empfinden und bezeichnen? Sie schreibt über Weltschmerz und warum wir Schönheit in diesen Zeiten brauchen. Zugleich beschreibt sie, was Schönheit von Makellosigkeit unterscheidet und wie sehr Schönheit mit Vergänglichkeit verbunden ist und, warum dies auch hoffnungsvoll, tröstend und schön sei. Sie schreibt mit einer Weisheit über Schönheit, Trauer, Trost, Schmerz, WeltErleben, wie sie vielleicht nur die Lebenserfahrung an Einzelne schenken kann.

»Trost heißt nicht, dass alles gut wird.
Trost heißt am Schmerzfluss Ufer bauen,
Liegeplätze,
an denen man den Kahn anbinden, aussteigen und sich ausruhen kann.« (S.78)

Mit ihrem Sachbuch appelliert sie die Schönheit, die verschiedensten Formen und Facetten daher kommt, wahrzunehmen, sich zu öffnen und sich daran zu erfreuen. [»SehenKönnen« (S.188)] Sie erinnert uns daran, Schönheit zu sehen und zu genießen.

»Ich brauche nicht nur Schönheit als Trost, sondern die innere Sicherheit, Schönheit auch dort zu entdecken, wo ich sie nicht vermute. Es sind die kleinen Dinge. Und es sind die kleinen Momente.« (S.63)

Es ist ein wirklich wunderschönes, tiefsinniges, weises, philosophisches, reflektierendes und persönliches Sachbuch, das Gabriele von Arnim geschrieben hat und mich tief berührt hat. Ich könnte ewig weitere Zitate aus dem Buch einfügen, weil ich mir so viele Stellen markiert habe und überzeugt bin, beim nächsten Lesen weitere finden zu können.

Ganz ganz große Leseempfehlung für alle Menschen, weil ich überzeugt bin, dass wir alle von Zeit zu zeit Schönheit und Trost brauchen können ❤️