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Benutzername: 
Kata_____Lović
Wohnort: 
Bremen

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Insgesamt 177 Bewertungen
Bewertung vom 19.11.2023
Unschärfen der Liebe
Overath, Angelika

Unschärfen der Liebe


gut

»Und während der Zug über eine hohe Trasse sauste...hatte er nur den einen Wunsch, diese Geschwindigkeit auf den Gleisen würde abnehmen, leiser werden. Er brauchte Langsamkeit, er wollte nicht fortfahren. Nicht so fortfahren in einem ganz elementaren Sinn.« | 129

Angelika Overath hat mit »Unschärfen der Liebe« einen Reiseroman geschrieben, präziser einen Zugreiseroman.
30 Stunden Zugfahrt, vom Schweizer Chur über Österreich, Slowenien, Kroatien, Serbien, Bulgarien nach Istanbul fährt die aus ihrem vorherigen Roman »Ein Winter in Istanbul« bekannte Figur Baran. Der griechisch-türkisch-deutsche Baran meint den Schweizer Cla zu lieben. Cla gab alle Sicherheiten auf, verließ Alva und folgte ihm nach Istanbul, wo er das Leben ohne Verbindlichkeiten genießt. Baran meinte damit zurecht zu kommen, dass Cla nicht nur ihn begehrt, während sein eigenes Interesse an anderen Männern erlosch. Von Clas Exfreundin Alva mit ihrer Tochter Florentin, sagt Cla, da sei auch noch Liebe für sie. Nun haben Baran und Alva Grenzen überschritten, drei Tage und Nächte, die sich wie Liebe anfühlten. Liebt er sie jetzt auch? Ist es Rache, Ausdruck seiner Bindungsunfähigkeit?
Während seine Gedanken, Gefühle und Begegnungen versatzstückartig »Vor-bei, vor-bei, vorbei, vorbei, vorbei.« |60 ziehen, verhandelt »Unschärfen der Liebe« die ewige Frage, was Liebe aushalten kann, welche Grenzen sie findet, in welche Gefühle sie umschlagen kann und wie sie erlischt. Das Thema riecht nach Dramatik, Verzweiflung, Liebeskummer und Kitsch, besonders ob der vielen Variationen und Symbolik, die in die Landschaften Begegnungen, Gedanken und Geschichte eingewebt sind. Wäre da nicht da gleichmütige Rattern der Schienen, die den Sound herunterdimmen, alle Grenzen verwischen und die Bedeutung diffundieren mit allgemein menschlichen Dilemmata. Leise, melancholisch, hintergründig und nach vielen Enden offen hält sich »Unschärfen der Liebe«, lange, bis es bei der Ankunft Gewisstheiten gibt, die auch ins Wanken geraten werden.
⤵️⤵️⤵️⤵️⤵️
Nett zu lesen war »Unschärfen der Liebe«, ob mehr, ich bin mir mit mir selbst nicht einig. Das Konzept der Zugfahrt besticht, melancholisch-offen-fragmentarische Texte sagen mir zu. Doch sprachlich und emotional streifte mich »Unschärfen der Liebe«, nur. Ich befürchte, dass dieser Roman schnell in mir verblasst, außer ein paar wenige Klischees streifende Figuren und Dialoge aus Südosteuropa, die werden wohl länger im Gedächtnis bleiben.

Bewertung vom 19.11.2023
Muna oder Die Hälfte des Lebens
Mora, Terézia

Muna oder Die Hälfte des Lebens


ausgezeichnet

»E̶r̶ h̶a̶t̶ m̶a̶n̶c̶h̶m̶a̶l̶ s̶o̶ e̶i̶n̶e̶ V̶e̶r̶a̶c̶h̶t̶u̶n̶g̶ i̶m̶ B̶l̶i̶c̶k̶...A̶l̶s̶ w̶ü̶r̶d̶e̶n̶ a̶l̶l̶e̶, u̶n̶d̶ b̶e̶s̶o̶n̶d̶e̶r̶s̶ i̶c̶h̶, s̶t̶ä̶n̶d̶i̶g̶ R̶e̶g̶e̶l̶n̶ v̶e̶r̶l̶e̶t̶z̶e̶n̶, d̶i̶e̶ i̶c̶h̶ n̶i̶c̶h̶t̶ e̶i̶n̶m̶a̶l̶ k̶e̶n̶n̶e̶.A̶b̶e̶r̶ i̶c̶h̶ k̶a̶n̶n̶ i̶h̶n̶ j̶a̶ w̶o̶h̶l̶ n̶i̶c̶h̶t̶ u̶m̶ e̶i̶n̶ R̶e̶g̶e̶l̶w̶e̶r̶k̶ b̶i̶t̶t̶e̶n̶. E̶r̶ w̶ü̶r̶d̶e̶ m̶i̶c̶h̶ f̶ü̶r̶ v̶e̶r̶r̶ü̶c̶k̶t̶ e̶r̶k̶l̶ä̶r̶e̶n̶.
Schließlich sagte ich es so, dass mir der Mensch in Berlin in der Tat sehr wichtig sei, und es läuft auch gut.« |271

»Muna« ist ein Konzentrat der verstrickten Erfahrungen, Gedanken und Gefühle einer Frau in dieser Zeit in dieser Welt, die selbst beteiligt ist an ihrer Isolation und Gewalt in einer Beziehung, die sie passiv und aktiv aufsucht. Mal ist es einfach, Muna von sich fernzuhalten. Es gelingt, sie als unerträglich, gefangen, selbstzerstörerisch, naiv, dumm, unsolidarisch, bindungsgestört und unnahbar zu sehen, als eine Figur, die es schwer macht, Sympathie und Empathie zu erregen. Doch sie kommt immer wieder unangenehm nahe. Denn die Umstände, die Muna zu Muna werden lassen, sind auch strukturell. Sie begegnen einer Frau in dieser Zeit in dieser Welt in der einen und der anderen Form. Da ist es manchmal leichter, Dinge nicht zu denken, Wut nicht zu fühlen, sie gegen sich selbst zu richten oder mit anderen Frauen nicht solidarisch zu sein. Wie sie beim Brennglas »Muna« doch an die Oberfläche kommen, setzt Mora stilistisch intelligent in Szene. Diese Sätze sind im Text durchgestrichen, in Klammern gesetzt und die Figur korrigiert sie immer wieder im Fluss ihrer Gedanken herunter. Muna ist auf den ersten Blick keinesfalls eine Frau, die das gebildete Lesepublikum als "armes Opfer" abtun kann, auch wenn sie die verstrickten Überlebensstrategien ihrer isolierten und Alkoholkranken Mutter reinszeniert. Muna ist in der Theaterszene aufgewachsen, intelligent, gebildet, gereist, in den Literaturwissenschaften und in der Literaturszene verortet.
Der Kontrast zwischen den verhandelten Themen in ihrer akademischen Laufbahn und ihrer Lebenswelt könnte größer nicht sein.
.
Erbaulich ist die Lektüre erst mit gewonnenem empathischem Abstand zu Muna und zum Roman, der es schafft, enorme Spannung beim Lesen aufzubauen und bis zum mehrdeutig interpretierbaren Ende zu halten. Mora gelingt es, mit »Muna« ein gesellschaftlich relevantes Thema in einer literarisch innovativen Form aufzugreifen und tabuisierte Ränder feministischer Auseinandersetzungen zu treffen. Denn immer noch ist die Ausweichbewegung leichter, als eigene Verstrickungen in männlich dominierte Gewaltausübung zu fokussieren.
Mich hat »Muna« überzeugt

Bewertung vom 19.11.2023
Unsereins
Mahlke, Inger-Maria

Unsereins


gut

»"Erinnerst du dich an den mittleren Sohn von Senator Mann, den Dunkelhaarigen? Von dem es eine Zeitlang hieß, dass er das Geschäft übernehmen werde?"
Marie nickt. "Vage."
"Nun. Er hat ein Buch veröffentlicht."
"Wie schön."
"Wir kommen darin vor." Sie blickt erstaunt auf. "Du kannst dich freuen, dich nennt er 𝑒𝑖𝑛𝑒 𝑆𝑐ℎ𝑜̈𝑛ℎ𝑒𝑖𝑡."« |396

Fast 400 Seiten braucht es, bis von jenem Roman die Rede ist, der »Unsereins« Relevanz verleiht. Denn »Unsereins« dreht sich um Lübeck, um Thomas Mann und um die Buddenbrooks. Präziser formuliert dreht es sich 𝑝𝑎𝑟𝑎𝑙𝑙𝑒𝑙 𝑧𝑢 den Manns und 𝑝𝑎𝑟𝑎𝑙𝑙𝑒𝑙 𝑧𝑢 den Buddenbrooks, denn allzu direkt verhandelt der neue Roman von Mahlke das Mannsche Material nicht. Lübeck ist wie im Original nie benannt, beschrieben wird eine Freie Hansestadt im Norden, "der eigentlich zweitkleinste Staat des Deutschen Kaiserreichs". Die mutmaßlichen Vorbilder der Figuren der Buddenbrooks dienen »Unsereins« als Ausgangspunkt. Mahlke reichert sie mit recherchierten Informationen an, arbeitet ambivalente jüdische und nationaldeutsche Identitäten heraus und dichtet insbesondere die Welten der niederen Schichten sowie Innenwelten der Frauenfiguren hinzu.
Auch wenn der Text angenehm fließt, er den Buddenbrookschen Ton gut trifft, ihn mit subtilen modernen Formulierungen und Perspektiven bricht, gelang es leider nicht, mein Intesse an den Figuren und Geschichten zu halten, trotz der einnehmenden Idee, sich den Buddenbrooks, den Manns und dem Gesellschaftsgefüge auf dieser Weise zu nähern. Dafür bleibt »Unsereins« in der Spannung auf einem zu gleichschwingenden, wenn auch harmonischen Niveau. Für meinen Geschmack hat »Unsereins« zu viel verästeltes Personal und Geschichten, die zu wenig Raum bereiten für die Entfaltung der und die Bindung an die Erzählung.
Ich bedaure das sehr, denn meine Erwartungen an den neuen Roman der Buchpreisgewinnerin von 2018 waren sehr hoch.
Ich kann mir aber vorstellen, dass sich »Unsereins« für Buddenbrook-Kenner:innen, Lübeck-Kenner:innen oder an historischen Romanen mehr Interessierte anders liest, denn der Text ist intensiv recherchiert und gespickt mit Bezügen und Variationen.

Bewertung vom 19.11.2023
Judenfetisch
Feldman, Deborah

Judenfetisch


ausgezeichnet

»Mach dir nicht so viele Gedanken dazu, sonst wirst du wahnsinnig.« |227

Wer mit »Judenfetisch« eine stringente und soziologisch objektivierbare Abhandlung davon erwartet, was "Jüdischsein" heute bedeutet, ist mit dem aus dem Subjektiven und Emotionalen schöpfenden, suchenden, streitbaren und immer wieder auf Grenzen stoßenden politischen Essay von Feldman falsch gewickelt. Wer eine sich immer wieder wundernde, humorvolle, darunterliegend mit Ernsthaftigkeit, Wut, Trauer und Liebe gespickte Selbstverortung von Deborah Feldman lesen und davon ausgehend über diese Gesellschaft, das Verhältnis zu-, die Vereinnahmung von Juden|tum und die eigene Verortung nachdenken möchte, greife zu diesem Essay. Ob jetzt der richtige Zeitpunkt dafür ist oder es gut täte, ihn in anderen gesellschaftlichen Stimmungen zu lesen, frage ich mich aber zunehmend.

In Israel steigt die durch ihren autobiographischen Roman »Unorthodox« breit bekannte Autorin mit Gedanken zu ihrer Positionierung als Jüdin und als sich selbst bestimmender Mensch ein, der die direkten Verbindungen zur orthodoxen jüdischen Religion abgelegt wissen wollte.
Mit Blick für Kuriositäten, Widersprüche und in Sorge beschreibt Feldman ihre Sicht auf die erstarkte Rechte und Orthodoxie in Israel und ihren zu der Zeit der Roman Entstehung wahrscheinlich noch ambivalenten Bezug zur israelischen Politik. Doch das Hauptaugenmerk von »Judenfetisch« liegt auf Jüdischsein in Deutschland aus Sicht einer Expat aus Amerika, den vielen Schichten, Ambivalenzen, unausgesprochenen Zuweisungen, Vereinnahmungen, Projektionen und Tabus, dem Anti- und Philosemitismus, dem Phänomen von Konvertiten, der Förderung von Judentum in Deutschland, den Ambivalenzen eines öffentlichen Jüdischseins, der gegenseitigen Härte bei unterschiedlichen Verortungen zum Jüdischsein und dem Gelingen einer sicheren familiären Verbundenheit mit Gleichgesinnten.
Assoziativ verbinden sich vielfältige Blickwinkel, Beobachtungen, Orientierungsversuche und beengende Zuschreibungen zum Jüdischsein, die oft viel über die Zuschreibenden erzählen.

Feldman verhält sich zu den Vereinnahmungen, Projektionen und ihrer eigenen Geschichte, reflektiert sie und möchte dabei nicht gefallen. Sie sticht in Ambivalenzen, vielschichtige Motivlagen und wie in der aktuellen Situation unmittelbar zu spüren ist, nicht nur ihre eigenen heißen Emotionen und Verletzlichkeiten. Die von Feldman aufgeworfen Fragen halten sich streitbar offen. Doch so sehr der Autorin ein Austeilen vorgeworfen werden kann und sich »Judenfetisch« heute kontroverser liest, bleibt sie auf Verständigung aus. Die Verteidigung von Subjektivität, Humanismus und der Universalität der Menschenrechte zieht sich durch den Text. Ob und wie sie darin verstanden wird, ihre Haltung gefällt oder sie der im Text immer wieder umkreisten Vereinnahmbarkeit der deutschen Mehrheitsgesellschaft entgehen kann, ist eine andere Frage.
Angesichts der aktuellen Situation und auch der Rolle, in die Feldman aktuell gekommen ist und damit mitten drin ist in emotional aufgehitzten Debatten, Diskussionen, Verletzungen und Vorwürfen, frage ich mich immer mehr. Geht es, diesen persönlichen von mir als wertvoll empfundenen Text, der zwei Jahre vor dem 07. Oktober entstanden ist, unabhängig davon zu lesen? Die Wahrscheinlichkeit halte ich für größer, dass er sich zerreibt insb. hier in Social Media in aktuellen Fragen zu Subjektivität, Repräsentation und Binarität "auf welcher Seite" Text und Autorin stehen oder vereinnahmt werden. Auch wenn unter anderem genau diese Vereinnahmung Thema des Essays ist, kann er aktuell wahrscheinlich kaum noch mit entschleunigtem und nüchternem Abstand betrachtet und diskutiert werden. Aber Texte bleiben, diesen möchte ich mit zeitlichem Abstand noch einmal zur Hand nehmen, fürs erste haben wir nur diese Zeit.

3 von 3 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 14.10.2023
Sehr blaue Augen
Morrison, Toni

Sehr blaue Augen


ausgezeichnet

2019 starb diese einflussreiche, kluge und auch heute noch relevante Autorin. Toni Morrison war die erste Schwarze Autorin, die den Literaturnobelpreis erhielt und wir sollten sie nicht vergessen. So sieht es auch der Rowohlt Verlag, der nach und nach wichtige Werke von Morrison neu übersetzen und durch Vor- und Nachworte rahmen lässt. Den Inhalt von »Sehr blaue Augen« setze ich als bekannt voraus und schließe gleich meine Begeisterung an, wie überlegt Morrison an die Figuren und den Aufbau ihres Debüts heranging. In welcher komplexen sprachlichen und formalen Qualität sie ihr literarisches Werk aufbaute. Mit welch einer bewusst humanistisch-politisch bürgerrechtlichen Klarheit sie die Klaviatur der Rassismen formulierte, Chancenungleichheiten erzählte und stets hoffnungsvolle Momente, Möglichkeiten und Emanzipation aufzeigte, ohne ihre Figuren zu verraten. Ein »Erzählprojekt«, so nannte sie es selbst, das die internalisierten Rassismen und den daraus entstandenen Selbsthass und überzeugte Hässlichkeit mit dem Mädchen Pecola erzählt, das sich nichts sehnlicher wünscht als blaue Augen. Der Blick auf die vielen Figuren, auf den vielfältigen Auswirkungen von White Supremacy auf Schwarze Menschen in den USA bleibt immer liebend und verstehend, egal wie schrecklich sie sich verhalten oder behandelt werden. Der gedankenvolle Umgang mit Sprache kann auch in der neuen Übersetzung nur erahnt werden. Morrison im Original lohnt sich wahrscheinlich sehr. Das persönliche Nachwort von Alice Hasters unterstreicht die Aktualität und Übertragbarkeit auf die deutsche Situation, zusätzlich hätte ich mir einen literarischen Kommentar gewünscht, auch wenn es gar nicht möglich sein soll, Botschaft und Literatur zu trennen.

Wenn ihr Morrison noch nicht kennt, lest sie, wenn es schon länger her ist, lest sie wieder. Die Thematik könnte aktueller nicht sein. Im Grunde beschäftigt sich Morrison mit ähnlichen Themen wie Moshtari Hilal, mit anderen Rassismen und anderen Mitteln und auf eine bestechende Weise. Tragen wir dafür Sorge, dass diese bedeutende Autorin Kanon wird, Kanon bleibt und nicht in Vergessenheit gerät.

Bewertung vom 14.10.2023
Schnell leben
Giraud, Brigitte

Schnell leben


sehr gut

»Schnell leben« kreist sich um einen großen Verlust. Sie hatten gerade ein Haus gekauft, eines, das ihr der Zeitgeist einflüsterte, da passiert es. Girauds Mann und Vater des gemeinsamen Sohnes stirbt. Ein Motorradunfall, dessen genauen Hergang und Vorboten die Autorin immer wieder versucht zu rekonstruieren, doch es bleibt eine Leerstelle und sie löst sich nicht auf. Ebensowenig wie ihre »Liternei des Wenn«, die sie Jahrelang quälte und Ausgangspunkt der Geschichte ist.

»Wenn ich die Wohnung nicht hätte verkaufen wollen... Wenn sich mein Großvater nicht gerade in dem Augenblick umgebracht hätte, als wir Geld brauchten. Wenn wir den Schlüssel zu dem Haus nicht schon vor dem Einzug ausgehändigt bekommen hätten. Wenn meine Mutter nicht meinem Bruder angerufen hätte, um ihn zu sagen, dass wir über eine Garage verfügen... Wenn es geregnet hätte...« |19f

Jedes Kapitel von »Schnell leben« beschäftigt sich mit einem der Wenns, geht Schritt für Schritt die Ereignisse ab, bettet die scheinbar individuellen Entscheidungen und Bedürfnisse in einer recht französischen Art in kulturelle Praktiken der Zeit und läuft auf die Katastrophe zu, die sie weder hat sehen, noch verhindern können, aber durch die Obsession der Wenns zumindest im Nachhinein versucht unter Kontrolle zu bekommen. Das Suchen und Finden von Erklärungen und Kontexten führen zu einem gelassenen und akzeptierenden Tonfall. »Schnell leben« könnte genau so gut »Weiter leben« heißen, denn zwischen den Zeilen lässt sich das weitere erfüllende Leben in einem umarmenden und hellen Sound erspüren.

Brigitte Giraud erhielt für diesen runden und lebensbejahenden Roman 2022 den Prix Goncourt.

Bewertung vom 14.10.2023
Eine Fliege kommt durch einen halben Wald
Müller, Herta

Eine Fliege kommt durch einen halben Wald


ausgezeichnet

»Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.« |7

»Die Würde kann man brechen. Das weiß ich. Kann man sie auch Falten oder Teilen? Und wird sie später wieder ganz? Kann es sein, dass der Verlust der Würde anders meldet als der Verlust der Freiheit?« |23

Diesen Sommer, genauer am 17.August ist Herta Müller 70 Jahre alt geworden. Ich bewundere nicht viele Menschen, aber dieser Kraft, Wut, Klugheit und Lebensbejahung einer Herta Müller kann auch ich mich nicht entziehen.

In »Eine Fliege kommt durch einen halben Wald« hat der Hanser Verlag politisch-literarische Wortmeldungen der Nobelpreisträgerin aus dem letzten Jahrzehnt zusammengetragen. Mit einer Direktheit und einnehmenden Klarheit verteidigt sie die Freiheit und unantastbare Würde der Menschen. Sie benennt beharrlich die Orte und Zeiten, an denen sie doch betastet, in Frage gestellt, nicht verteidigt oder getreten wird. Die Geschichte, sei es in Deutschland, ihrem Herkunftsland Rumänien oder in einem weiteren Sinne Osteuropa, hält Müller in ihren Kontinuitäten präsent, sie öffnet oder schließt Diskussionen mit ihrer bestechenden Argumentation.

Ich hatte das Glück, Müller aus einigen der 13 Wortmeldungen lesen zu sehen, sie zu hören und auf mich wirken zu lassen. Wenn ihr die Chance habt, nutzt sie unbedingt und lasst euch beeindrucken und überzeugen von der Klugheit dieser wichtigen Denkerin unserer Zeit. Wenn die Chance nicht besteht, dann gibt es immer noch dieses Zeit überdauernde Buch.

Bewertung vom 14.10.2023
Rosenroman
Danyi, Zoltán

Rosenroman


ausgezeichnet

Zoltán Danyi hat mit Rosenroman eine Hommage an das Verschwinden erschaffen. Verschwunden ist der Vater, ein Rosenzüchter, der Krieg, Bombardierung und Embargo trotzte und das Leben um die Rosen in die Erzählfigur einsähte. Verschwunden ist die Mutter, die bei der ersten Gelegenheit des Krieges zurück nach Ungarn zu ihrer Familie ging, sie war Ungarin aus Ungarn. Zwei Jahre lang schickte sie dem verlassenen Sohn eine Enzyklopädie zum Geburtstag, dann verlor sich ihre Spur. Sein Körper zersetzt sich an der fruchtbarsten Stelle, da helfen auch alle selbst auferlegten Zwänge nicht, die Ärzt:innen auch nur zum Teil, die Kontrolle übernimmt der Verfall. Wie bei der Liebe, dem undurchdringlichen Begehren von und nie ankommen bei seiner Frau, die sich anderes wünschte und schließlich wie die Mutter verschwand.

»Aber die Ungarn in der Vojvodina werden am schnellsten verschwinden, und das ist eine besondere Situation, eine besondere und eine hervorgehobene Position... und von dieser hervorgehobenen Position aus kann man besser sehen, dass auch das nichts ist, es verschwindet... und weil ich etwas von diesem Verschwinden verstanden habe, also muss ich, ob es gefällt oder nicht, sagen, dass so betrachtet ein jeder ein Ungar aus der Vojvodina ist.« |396

Der Verlust der alten Heimat Vojvodina, Teil eines verschwundenen Landes, Jugoslawien, eines lebhaften fruchtbaren Bodens für die ungarische Minderheit, die sich unterscheidet von den Ungarn aus Ungarn, wird umkreist, wie der verdrängte Krieg, die Gewalt, die Verarmung und die Emigration. Auch wenn die Erzählstimme immer wieder zu den Rosen zurückkehrt, den Mutterboden betrachtet, sich Wege und Orte einprägt, den Vater hervorholt, seine Liebe in allen Stadien und Facetten heraufbeschwört, seinen Körper unter Kontrolle versucht zu bringen, er kann das Verschwinden nicht aufhalten oder doch?

»Sich zu erinnern und nach Genauigkeit zu streben ist nichts anderes, als auf größenwahnsinnige, anmassende Weise ein hoffnungsloses Unternehmen zu betreiben.« |369

Die Erzählstimme trotzt dem Verschwinden mit dem Erinnern und Erzählen. Unsicherheiten, Unzuverlässigkeiten und durch Scham und Stolz zurechtgelegtes sind ihr immer bewusst, manchmal kommt es zu einer inneren Diskussion und zu einem äußerlichen Verstummen. Danyis Sprache spiegelt dabei die mitunter unerträgliche hintergründige rastlose Spannung. Er reiht in endlosen Satzketten die Gedanken der Erzählstimme aneinander, springt in Zeiten und Orten, kommt zu einem zwanghaften einengenden Turnus zurück und zu einem wortreichen Schweigen, wenigen hallenden Tönen, die immer wiederkehren.

»Rosenroman« ist eine herausfordernde und lohnende Lektüre.

Bewertung vom 14.10.2023
Trotz alledem
Krese, Marusa

Trotz alledem


ausgezeichnet

Slowenien ist Gastland der Frankfurter Buchmesse und es ist nicht nur literarisch ein enorm reiches und spannendes kleines Land. Slowenien ist auch ein zeitgeschichtlich bewegter Teil Europas, insbesondere in der Mitte und zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts. Slowenische Partisaninnen kämpften an der Seite ihrer Brüder gegen Deutsche, Italienische, Österreichische und nationalistische politische Kräfte Südosteuropas einen harten, meist stark überzeugten Kampf und fanden sich mit der Gründung Jugoslawiens auf der Siegerseite Titos wieder. Die 2013 verstorbene Lyrikerin, Journalistin und Friedensaktivistin Maruša Krese ist die Tochter eines dieser Partisanenpaare.

Sie wählte in ihrem einzigen Roman, den sie an ihren Lebensende vollendete, einen dokumentarischen Stil. »Trotz Alledem« zeichnet die Zeit der Kämpfe im zweiten Weltkrieg vor der Staatsgründung detailreich in Multiperspektivität und erschafft so ein Bild einer Mentalität des Glaubens und Schweigens, der Härte und Autorität, dem angstgeleiteten zur Schau stellen der furchtlosen Flucht nach vorn. Nach der Staatsgründung Jugoslawiens verfestigt sich die Härte, der Dienst an der Sache, der Privilegien mit sich bringt und Opfer. Sehr schmal der Grat zum Fall, denn auch Goli Otok, der Verfolgung von nicht Linientreuen gibt »Trotz Alledem« Raum, ebenso wie dem Ende Jugoslawiens und ihrer Generation der Partisanenkinder, die im Glauben Jugoslawiens aufwuchsen, rebellierten, die schweigende Strenge ihrer Eltern nicht guthießen und sie in sich aufsogen, ohne es zu wollen.

Es ist eine Dringlichkeit in diesem rohen Zeitzeugnis zu spüren, der Wunsch die Eltern(generation) und das Erbe des eigenen Kampfgeistes, des nicht Redens und der scheinbar furchtlosen Härte zu sich selbst zu verstehen. Liebe, Freiheit und Zärtlichkeit treten hinter der Sache zurück und bahnen sich trotz alledem durch die schweisame, Härte betonende Mentalität ihren Raum.

Ilma Rakusa und Kreses Sohn Jakob fügen der fragmentarischen und mit recherchierten Informationen voll gefüllten Nachzeichnung des Weges ihrer Eltern(Generation) eine Nachzeichnung der Person Maruša Krese hinzu, eine energiereiche, sich immer wieder in die Sache stellende friedenspolitisch sehr aktive Frau, die nicht ruhen konnte und nicht schweigen wollte zu dem Weltgeschehen, sich selbst gegenüber aber mit einer kompromisslosen Härte begegnete. Lesenswert, wenn ich auch nicht sicher bin, ob es Kontextwissen voraussetzt.

Bewertung vom 14.10.2023
Die leeren Schränke
Ernaux, Annie

Die leeren Schränke


ausgezeichnet

»Klar sehen, zwischen zwei Krämpfen alles erzählen. Sehen, ab wann alles den Bach runter ging. Ich bin ja nicht mit dieser Wut zur Welt gekommen, ich habe sie nicht immer gehasst, meine Eltern, die Kundschaft, den Laden... Die anderen, die Kultivierten, die Professoren, die ehrbaren Leute hasse ich mittlerweile auch. Ich habe den Bauch voll von ihnen. Ich kotze auf sie, auf die Kultur, auf alles was ich gelernt habe. Von allen Seiten gef**ckt...« |17

Die 20jährige Literaturstudentin und Krämerstochter Denise Lesur beendet in »Die Leeren Schränke« ihre Schwangerschaft. Sie löst sich von der schamvollen Selbstunterordnung gegenüber ihrem Geliebten, dem standesbewussten Zahnarztsohn Marc und Seinesgleichen. In der Wartezeit auf den Abbruch erzählt sie sich wütend und emotional die Ausschlüsse der bürgerlichen Welt, der starren Klassengrenzen und von ihrem Klassenaufstieg, der ihr nur in Scham und Selbstverläugung möglich war. Ihr hungerndes Begehren nach Sexualität liest sich als Symbol für ihre Klasse. Die begrenzende Beschämung weiblicher Lust setzt zusätzlich Schranken, doch Lesur wird zu Befreiung und Selbstbestimmung finden.

Zu ihrem Stil hatte Ernaux in ihrem nun auch im Deutschen vorliegenden Debüt noch nicht gefunden. Die Sprache ist viel direkter, wütender, aufbegehrend, fast roh. Entgegen ihrem späteren Werk wählt Ernaux mit Lesur eine fiktionalisierte Figur, die wie wir heute wissen, viel mit der autofiktionalen Figur Ernaux und mit ihrer später kultivieren Archäologie ihrer Selbst zu tun hat. Es gibt hier noch keinen nüchternen sezierenden Blick, der von außen auf die Figur schaut.
Doch thematisch ist schon alles angelegt. »Die Leeren Schränke« läuft auf »Das Ereignis« zu, auf das die Literaturnobelpreisträgerin in ihrem späteren Werk zurückkommen wird. Es streift das Verlangen und die Scham der »Erinnerung eines Mädchens« und ist schon in der Stimmung von »Der Platz« »Die Scham« und »Eine Frau«.

Wem »Der Junge Mann« zu dünn war in Seiten und Inhalt, »Die Leeren Schränke« ist ein "richtiger Roman" und sowohl vom Inhalt spannend und vielschichtig, als auch für Ernaux-Kennerinnen interessant zu betrachten, wie ihr literarisches Werk begann, was schon angelegt war und was sich später erst entwickelte. Mich hat »Die Leeren Schränke« überzeugt.