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Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
Kata_____Lović
Wohnort: 
Bremen

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Insgesamt 173 Bewertungen
Bewertung vom 14.10.2023
Sehr blaue Augen
Morrison, Toni

Sehr blaue Augen


ausgezeichnet

2019 starb diese einflussreiche, kluge und auch heute noch relevante Autorin. Toni Morrison war die erste Schwarze Autorin, die den Literaturnobelpreis erhielt und wir sollten sie nicht vergessen. So sieht es auch der Rowohlt Verlag, der nach und nach wichtige Werke von Morrison neu übersetzen und durch Vor- und Nachworte rahmen lässt. Den Inhalt von »Sehr blaue Augen« setze ich als bekannt voraus und schließe gleich meine Begeisterung an, wie überlegt Morrison an die Figuren und den Aufbau ihres Debüts heranging. In welcher komplexen sprachlichen und formalen Qualität sie ihr literarisches Werk aufbaute. Mit welch einer bewusst humanistisch-politisch bürgerrechtlichen Klarheit sie die Klaviatur der Rassismen formulierte, Chancenungleichheiten erzählte und stets hoffnungsvolle Momente, Möglichkeiten und Emanzipation aufzeigte, ohne ihre Figuren zu verraten. Ein »Erzählprojekt«, so nannte sie es selbst, das die internalisierten Rassismen und den daraus entstandenen Selbsthass und überzeugte Hässlichkeit mit dem Mädchen Pecola erzählt, das sich nichts sehnlicher wünscht als blaue Augen. Der Blick auf die vielen Figuren, auf den vielfältigen Auswirkungen von White Supremacy auf Schwarze Menschen in den USA bleibt immer liebend und verstehend, egal wie schrecklich sie sich verhalten oder behandelt werden. Der gedankenvolle Umgang mit Sprache kann auch in der neuen Übersetzung nur erahnt werden. Morrison im Original lohnt sich wahrscheinlich sehr. Das persönliche Nachwort von Alice Hasters unterstreicht die Aktualität und Übertragbarkeit auf die deutsche Situation, zusätzlich hätte ich mir einen literarischen Kommentar gewünscht, auch wenn es gar nicht möglich sein soll, Botschaft und Literatur zu trennen.

Wenn ihr Morrison noch nicht kennt, lest sie, wenn es schon länger her ist, lest sie wieder. Die Thematik könnte aktueller nicht sein. Im Grunde beschäftigt sich Morrison mit ähnlichen Themen wie Moshtari Hilal, mit anderen Rassismen und anderen Mitteln und auf eine bestechende Weise. Tragen wir dafür Sorge, dass diese bedeutende Autorin Kanon wird, Kanon bleibt und nicht in Vergessenheit gerät.

Bewertung vom 14.10.2023
Schnell leben
Giraud, Brigitte

Schnell leben


sehr gut

»Schnell leben« kreist sich um einen großen Verlust. Sie hatten gerade ein Haus gekauft, eines, das ihr der Zeitgeist einflüsterte, da passiert es. Girauds Mann und Vater des gemeinsamen Sohnes stirbt. Ein Motorradunfall, dessen genauen Hergang und Vorboten die Autorin immer wieder versucht zu rekonstruieren, doch es bleibt eine Leerstelle und sie löst sich nicht auf. Ebensowenig wie ihre »Liternei des Wenn«, die sie Jahrelang quälte und Ausgangspunkt der Geschichte ist.

»Wenn ich die Wohnung nicht hätte verkaufen wollen... Wenn sich mein Großvater nicht gerade in dem Augenblick umgebracht hätte, als wir Geld brauchten. Wenn wir den Schlüssel zu dem Haus nicht schon vor dem Einzug ausgehändigt bekommen hätten. Wenn meine Mutter nicht meinem Bruder angerufen hätte, um ihn zu sagen, dass wir über eine Garage verfügen... Wenn es geregnet hätte...« |19f

Jedes Kapitel von »Schnell leben« beschäftigt sich mit einem der Wenns, geht Schritt für Schritt die Ereignisse ab, bettet die scheinbar individuellen Entscheidungen und Bedürfnisse in einer recht französischen Art in kulturelle Praktiken der Zeit und läuft auf die Katastrophe zu, die sie weder hat sehen, noch verhindern können, aber durch die Obsession der Wenns zumindest im Nachhinein versucht unter Kontrolle zu bekommen. Das Suchen und Finden von Erklärungen und Kontexten führen zu einem gelassenen und akzeptierenden Tonfall. »Schnell leben« könnte genau so gut »Weiter leben« heißen, denn zwischen den Zeilen lässt sich das weitere erfüllende Leben in einem umarmenden und hellen Sound erspüren.

Brigitte Giraud erhielt für diesen runden und lebensbejahenden Roman 2022 den Prix Goncourt.

Bewertung vom 14.10.2023
Eine Fliege kommt durch einen halben Wald
Müller, Herta

Eine Fliege kommt durch einen halben Wald


ausgezeichnet

»Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.« |7

»Die Würde kann man brechen. Das weiß ich. Kann man sie auch Falten oder Teilen? Und wird sie später wieder ganz? Kann es sein, dass der Verlust der Würde anders meldet als der Verlust der Freiheit?« |23

Diesen Sommer, genauer am 17.August ist Herta Müller 70 Jahre alt geworden. Ich bewundere nicht viele Menschen, aber dieser Kraft, Wut, Klugheit und Lebensbejahung einer Herta Müller kann auch ich mich nicht entziehen.

In »Eine Fliege kommt durch einen halben Wald« hat der Hanser Verlag politisch-literarische Wortmeldungen der Nobelpreisträgerin aus dem letzten Jahrzehnt zusammengetragen. Mit einer Direktheit und einnehmenden Klarheit verteidigt sie die Freiheit und unantastbare Würde der Menschen. Sie benennt beharrlich die Orte und Zeiten, an denen sie doch betastet, in Frage gestellt, nicht verteidigt oder getreten wird. Die Geschichte, sei es in Deutschland, ihrem Herkunftsland Rumänien oder in einem weiteren Sinne Osteuropa, hält Müller in ihren Kontinuitäten präsent, sie öffnet oder schließt Diskussionen mit ihrer bestechenden Argumentation.

Ich hatte das Glück, Müller aus einigen der 13 Wortmeldungen lesen zu sehen, sie zu hören und auf mich wirken zu lassen. Wenn ihr die Chance habt, nutzt sie unbedingt und lasst euch beeindrucken und überzeugen von der Klugheit dieser wichtigen Denkerin unserer Zeit. Wenn die Chance nicht besteht, dann gibt es immer noch dieses Zeit überdauernde Buch.

Bewertung vom 14.10.2023
Rosenroman
Danyi, Zoltán

Rosenroman


ausgezeichnet

Zoltán Danyi hat mit Rosenroman eine Hommage an das Verschwinden erschaffen. Verschwunden ist der Vater, ein Rosenzüchter, der Krieg, Bombardierung und Embargo trotzte und das Leben um die Rosen in die Erzählfigur einsähte. Verschwunden ist die Mutter, die bei der ersten Gelegenheit des Krieges zurück nach Ungarn zu ihrer Familie ging, sie war Ungarin aus Ungarn. Zwei Jahre lang schickte sie dem verlassenen Sohn eine Enzyklopädie zum Geburtstag, dann verlor sich ihre Spur. Sein Körper zersetzt sich an der fruchtbarsten Stelle, da helfen auch alle selbst auferlegten Zwänge nicht, die Ärzt:innen auch nur zum Teil, die Kontrolle übernimmt der Verfall. Wie bei der Liebe, dem undurchdringlichen Begehren von und nie ankommen bei seiner Frau, die sich anderes wünschte und schließlich wie die Mutter verschwand.

»Aber die Ungarn in der Vojvodina werden am schnellsten verschwinden, und das ist eine besondere Situation, eine besondere und eine hervorgehobene Position... und von dieser hervorgehobenen Position aus kann man besser sehen, dass auch das nichts ist, es verschwindet... und weil ich etwas von diesem Verschwinden verstanden habe, also muss ich, ob es gefällt oder nicht, sagen, dass so betrachtet ein jeder ein Ungar aus der Vojvodina ist.« |396

Der Verlust der alten Heimat Vojvodina, Teil eines verschwundenen Landes, Jugoslawien, eines lebhaften fruchtbaren Bodens für die ungarische Minderheit, die sich unterscheidet von den Ungarn aus Ungarn, wird umkreist, wie der verdrängte Krieg, die Gewalt, die Verarmung und die Emigration. Auch wenn die Erzählstimme immer wieder zu den Rosen zurückkehrt, den Mutterboden betrachtet, sich Wege und Orte einprägt, den Vater hervorholt, seine Liebe in allen Stadien und Facetten heraufbeschwört, seinen Körper unter Kontrolle versucht zu bringen, er kann das Verschwinden nicht aufhalten oder doch?

»Sich zu erinnern und nach Genauigkeit zu streben ist nichts anderes, als auf größenwahnsinnige, anmassende Weise ein hoffnungsloses Unternehmen zu betreiben.« |369

Die Erzählstimme trotzt dem Verschwinden mit dem Erinnern und Erzählen. Unsicherheiten, Unzuverlässigkeiten und durch Scham und Stolz zurechtgelegtes sind ihr immer bewusst, manchmal kommt es zu einer inneren Diskussion und zu einem äußerlichen Verstummen. Danyis Sprache spiegelt dabei die mitunter unerträgliche hintergründige rastlose Spannung. Er reiht in endlosen Satzketten die Gedanken der Erzählstimme aneinander, springt in Zeiten und Orten, kommt zu einem zwanghaften einengenden Turnus zurück und zu einem wortreichen Schweigen, wenigen hallenden Tönen, die immer wiederkehren.

»Rosenroman« ist eine herausfordernde und lohnende Lektüre.

Bewertung vom 14.10.2023
Trotz alledem
Krese, Marusa

Trotz alledem


ausgezeichnet

Slowenien ist Gastland der Frankfurter Buchmesse und es ist nicht nur literarisch ein enorm reiches und spannendes kleines Land. Slowenien ist auch ein zeitgeschichtlich bewegter Teil Europas, insbesondere in der Mitte und zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts. Slowenische Partisaninnen kämpften an der Seite ihrer Brüder gegen Deutsche, Italienische, Österreichische und nationalistische politische Kräfte Südosteuropas einen harten, meist stark überzeugten Kampf und fanden sich mit der Gründung Jugoslawiens auf der Siegerseite Titos wieder. Die 2013 verstorbene Lyrikerin, Journalistin und Friedensaktivistin Maruša Krese ist die Tochter eines dieser Partisanenpaare.

Sie wählte in ihrem einzigen Roman, den sie an ihren Lebensende vollendete, einen dokumentarischen Stil. »Trotz Alledem« zeichnet die Zeit der Kämpfe im zweiten Weltkrieg vor der Staatsgründung detailreich in Multiperspektivität und erschafft so ein Bild einer Mentalität des Glaubens und Schweigens, der Härte und Autorität, dem angstgeleiteten zur Schau stellen der furchtlosen Flucht nach vorn. Nach der Staatsgründung Jugoslawiens verfestigt sich die Härte, der Dienst an der Sache, der Privilegien mit sich bringt und Opfer. Sehr schmal der Grat zum Fall, denn auch Goli Otok, der Verfolgung von nicht Linientreuen gibt »Trotz Alledem« Raum, ebenso wie dem Ende Jugoslawiens und ihrer Generation der Partisanenkinder, die im Glauben Jugoslawiens aufwuchsen, rebellierten, die schweigende Strenge ihrer Eltern nicht guthießen und sie in sich aufsogen, ohne es zu wollen.

Es ist eine Dringlichkeit in diesem rohen Zeitzeugnis zu spüren, der Wunsch die Eltern(generation) und das Erbe des eigenen Kampfgeistes, des nicht Redens und der scheinbar furchtlosen Härte zu sich selbst zu verstehen. Liebe, Freiheit und Zärtlichkeit treten hinter der Sache zurück und bahnen sich trotz alledem durch die schweisame, Härte betonende Mentalität ihren Raum.

Ilma Rakusa und Kreses Sohn Jakob fügen der fragmentarischen und mit recherchierten Informationen voll gefüllten Nachzeichnung des Weges ihrer Eltern(Generation) eine Nachzeichnung der Person Maruša Krese hinzu, eine energiereiche, sich immer wieder in die Sache stellende friedenspolitisch sehr aktive Frau, die nicht ruhen konnte und nicht schweigen wollte zu dem Weltgeschehen, sich selbst gegenüber aber mit einer kompromisslosen Härte begegnete. Lesenswert, wenn ich auch nicht sicher bin, ob es Kontextwissen voraussetzt.

Bewertung vom 14.10.2023
Die leeren Schränke
Ernaux, Annie

Die leeren Schränke


ausgezeichnet

»Klar sehen, zwischen zwei Krämpfen alles erzählen. Sehen, ab wann alles den Bach runter ging. Ich bin ja nicht mit dieser Wut zur Welt gekommen, ich habe sie nicht immer gehasst, meine Eltern, die Kundschaft, den Laden... Die anderen, die Kultivierten, die Professoren, die ehrbaren Leute hasse ich mittlerweile auch. Ich habe den Bauch voll von ihnen. Ich kotze auf sie, auf die Kultur, auf alles was ich gelernt habe. Von allen Seiten gef**ckt...« |17

Die 20jährige Literaturstudentin und Krämerstochter Denise Lesur beendet in »Die Leeren Schränke« ihre Schwangerschaft. Sie löst sich von der schamvollen Selbstunterordnung gegenüber ihrem Geliebten, dem standesbewussten Zahnarztsohn Marc und Seinesgleichen. In der Wartezeit auf den Abbruch erzählt sie sich wütend und emotional die Ausschlüsse der bürgerlichen Welt, der starren Klassengrenzen und von ihrem Klassenaufstieg, der ihr nur in Scham und Selbstverläugung möglich war. Ihr hungerndes Begehren nach Sexualität liest sich als Symbol für ihre Klasse. Die begrenzende Beschämung weiblicher Lust setzt zusätzlich Schranken, doch Lesur wird zu Befreiung und Selbstbestimmung finden.

Zu ihrem Stil hatte Ernaux in ihrem nun auch im Deutschen vorliegenden Debüt noch nicht gefunden. Die Sprache ist viel direkter, wütender, aufbegehrend, fast roh. Entgegen ihrem späteren Werk wählt Ernaux mit Lesur eine fiktionalisierte Figur, die wie wir heute wissen, viel mit der autofiktionalen Figur Ernaux und mit ihrer später kultivieren Archäologie ihrer Selbst zu tun hat. Es gibt hier noch keinen nüchternen sezierenden Blick, der von außen auf die Figur schaut.
Doch thematisch ist schon alles angelegt. »Die Leeren Schränke« läuft auf »Das Ereignis« zu, auf das die Literaturnobelpreisträgerin in ihrem späteren Werk zurückkommen wird. Es streift das Verlangen und die Scham der »Erinnerung eines Mädchens« und ist schon in der Stimmung von »Der Platz« »Die Scham« und »Eine Frau«.

Wem »Der Junge Mann« zu dünn war in Seiten und Inhalt, »Die Leeren Schränke« ist ein "richtiger Roman" und sowohl vom Inhalt spannend und vielschichtig, als auch für Ernaux-Kennerinnen interessant zu betrachten, wie ihr literarisches Werk begann, was schon angelegt war und was sich später erst entwickelte. Mich hat »Die Leeren Schränke« überzeugt.

Bewertung vom 14.10.2023
Über die Berechnung des Rauminhalts II
Balle, Solvej

Über die Berechnung des Rauminhalts II


ausgezeichnet

Auf den zweiten Teil von die » Über die Berechnung des Rauminhalts« habe ich freudig gewartet. So inspirierend war der erste Teil, in dem die Antiquariatsbuchhändlerin Tara in einer Zeitschleife hängen bleibt. Immer wieder landet sie im achtzehnten November, Groundhogday in intellektuell. Im ersten Teil sucht Tara nach dem Ausweg und es ist am Ende offen, ob sie bereit ist für die Lücke im System, für den Sprung raus aus der ewigen Wiederholung der Außenwelt, in der sie selbst die einzige Variation ist. Auch Wochen nach dem Lesen dachte ich so einige Radfahrten darüber nach und versuchte zu erraten, was wird Balle in den folgenden sechs Bänden tun? Wird sie die Perspektive zu den anderen Figuren wechseln? Wird sie auflösen, dass es sich um ein Wahnsystem der Figur handelt? Zur gleichen Zeit war ich überzeugt, nein, das wäre viel zu einfach und linear, meine Gedanken sind zu begrenzt für diese Autorin und Geschichte, sie wird mich überraschen. Und, was soll ich sagen, ich wurde nicht enttäuscht.

Es ist nicht einfach über Band Zwei zu schreiben, ohne zu spoilern, denn der Text lebt von überraschenden neuen Perspektiven. Tara sucht nicht mehr nach Lücken, sie akzeptiert den chronischen Zustand des achtzehnten Novembers und findet zu neuen Bewegungen in diesem zeitlich begrenzten Raum. Variationen findet sie, indem sie den Blick nach außen richtet, auf die flüchtigen Einblicke in die Leben Anderer, auf kollektiv strömende Menschenmengen, deren Sog nur kurz auf sie wirkt und über die örtliche Bewegung im Raum, die ihr sogar das Erleben von Jahreszeiten ermöglicht. Auch wenn es ihr sinnlos erscheint, fast zwanghaft dokumentiert sie ihre über die Zeitschleife hinausgehenden Gedanken. Mit Band Zwei schafft die Autorin es, mich wieder in Erstaunen zu versetzen, auf eine unaufgeregt leise und langsam einsinkende Art. Sprache und Tempo bilden damit einen Kontrast zum Gewissheiten in Frage stellenden Inhalt. Balle öffnet Raum um Raum und ich hab großes Vertrauen, dass sie weiter in Erstaunen versetzen wird.

Denn das ist gesetzt, es müsste schon einiges passieren, dass ich die weiteren Bände nicht mehr lese. So müssen sich Fantasy- oder Romantasy- oder wie diese Genres heißen- Leser:innen fühlen, die der nächsten Fortsetzung mit Spannung entgegenfiebern, ich warte mit Freude auf Band Drei.

Habe ich oder andere Rauminhaltbegeisterte dein Interesse geweckt? Steig ein in diesen Zug, es ist inspirierend, klug, eine entrückte, ganz eigensinnige Welt, die viel zu sagen hat über unser Sein.

Bewertung vom 14.10.2023
Tesla oder die Vollendung der Kreise
Bremer, Alida

Tesla oder die Vollendung der Kreise


ausgezeichnet

Wer kennt Nikola Tesla? In den Ländern, die einmal Jugoslawien waren, jede:r. Tesla, ein umtriebiger Erfinder von Wechselstrom und Elektrotechnik. Was er genau erfunden hat, hab ich nie richtig verstanden, versucht es nicht, mir zu erklären, gefühlt den Kern von Allem. Tesla, ein eleganter Visionär, der serbische Wurzeln hatte, im heutigen Kroatien auf die Welt kam und um die Jahrhundertwende in New York eine schillernde Figur des öffentlichen Lebens war. Er lebte in Hotels, ließ sich sponsoren, blieb in den Erfindungen und Ideen umtriebig, als Person immer geheimnisvoll, eigen und zurückgezogen. Für die Südslawen war er ein Held, ein Symbol für die jugoslawische Intelligenz. In der neuen Welt zwischen bekannt und verkannt, in der Sowjetunion ein wenig bekannt und im alten Europa so gut wie unbekannt, eignete er sich nur zu gut als Identifikationsfigur für die im Stolz verletzten kleinen südslawischen Völker.
Heute kommt Tesla unverhofft Ruhm zu, nein, damit meine ich nicht in Südosteuropa, denn das Auto, es ist fast ein exzentrisches Kuriosum, der Tesla hat seinen Namen von Nikola, und ist damit wieder in aller Munde.

Die historische Person Tesla kommt in »Tesla oder die Vollendung der Kreise« nur flüchtig vor. Erzählt wird die Geschichte aus Sicht einer anderen historisch belegbaren Person, des kroatischen Mediziners Ante Matijaca, der 1888 in Zadar, Dalmatien geboren wurde und als junger Mann mit Ausbruch des ersten Weltkriegs in New York landete. Jugoslawien ist noch eine fixe Idee, die der leicht fiktionalisierten Figur Anton ein Ausweg zu sein scheint aus Armut und Bedeutungslosigkeit. Anton schafft den amerikanischen Traum, er steigt auf und landet in der Medizin. Als er eine Audienz beim wunderlichen und glamourösen Tesla gewährt bekommt, ist er in seinem Bann. Später überlässt Tesla ihm geheimnisvolle Papiere. Kurz vor Ausbruch des zweiten Weltkriegs folgt der Tesla sein Leben lang ergebene Arzt der Bitte seiner Eltern, in die alte Welt zurückzukehren, die Papiere hütet er wie einen Schatz, während die Zeitgeschichte Spuren hinterlässt.

Alida Bremer hat mit »Tesla oder die Vollendung der Kreise« einen runden historischen Roman geschrieben, voller Hoffnung, Spannung und Enttäuschung. Es ist ein Psychogram der südslawischen Mentalität. Fast nebenbei vermittelt der Roman viel über die Geschichte der Medizin, die Auswanderung nach Amerika, den für Weiße Südosteuropäer:innen in der neuen Welten möglichen sozialen Aufstieg und über die Geschichte der kleinen südslawischen Völker. Der Zusammenschluss erscheint als ersehnte Lösung gegen das durch die Kolonialisierung der KuK Monarchie und das durch die Herablassung des westlichen Europas gespeiste Minderwertigkeitsgefühl. Durch den großen zeitlichen Bogen des Romans, wirkt Jugoslawien wie eine kleine Episode in der Region Südosteuropa.
Sehr lesenswert.

Bewertung vom 14.09.2023
Der Geschmack von Aprikoseneis
Alani, Feurat

Der Geschmack von Aprikoseneis


ausgezeichnet

Stringent und ausgefallen in der Form folgt »Der Geschmack von Aprikoseneis« einem klaren Konzept. 1000 Dreizeiler wie Tweets, Telegramme oder SMS, reiht der Autor aneinander. Im Stil sind sie nüchtern gehalten, erzeugen so Spannung im Kontrast zum emotional geladenen Inhalt, blumigen Worten und kindgerechter Gestaltung. Sie erinnern an Haiku, Suren oder Notizen und greifen Schlaglichter der Erinnerung heraus. Auf Seitenzahlen wird verzichtet, es gibt nur die Nummerierung und stüzende, die Stimmung aufnehmende Illustrationen, die auch die Zahl drei aufgreifen. In drei Farbfamilien gehalten und im Graphic Novel Stil rahmen sie emotionale Passagen von Krieg und Spannung. Gut dosiert fügt der Autor dem Text kurze kontextualisierende Fakten, Jahreszahlen und Erklärungen hinzu.

Chronologisch und emotional wird die Geschichte entgegen der formalen Strenge vorangetrieben, Coming of Age und Autofiktion in einer ganz anderen und aufregenden Form. Alani ermöglicht damit gemeinsam mit der im Exil aufgewachsenen Figur Alani eine emotionale Aufklärung und ein Hereinwachsen in die gesellschaftliche und politische Entwicklung des Iraks von 1989 bis 2011. Das erste Mal lernt er mit neun Jahren den Irak kennen. Die Heimat seiner Eltern zeigt sich duftend, modern, gesellig, voll und reich mit kleinen für das Kind subtilen Grenzen. "Saddam" darf niemand sagen, fällt das Wort doch, geraten alle in Spannung und sein Vater bleibt in Paris, zu groß ist das Risiko einer erneuten Inhaftierung. 1990 sieht Alani dann "Feuerwerk" am Irakischen Himmel durch das französische Fernsehen. Seine Pariser Freunde finden es lustig, während seine Familie Angst hat und weint. Ein die Bevölkerung zermürbendes Embargo wird folgen. 1992 reist Alani in ein verändertes Land und wächst weiter herein in eine Reibung zwischen der Pariser Sicherheit und der auf seinen heranwachsenden Schultern lastenden Nähe zu dem sich stets verändernden Irak. 2003 treibt es den noch nicht fertig ausgebildeten Journalisten zurück in den nun vom amerikanischen Militärs besetzten Irak.
Es entstehen erste Reportagen und immer mutigere journalistische Arbeiten, die in die Dreizeiler fließen, ebenso wie seine Liebe und Trauer um den sich stets in Unruhe und Kriegen verändernden Irak.

Sprachlich, konzeptuell, gestalterisch, inhaltlich und in der Gesamtheit ist »Der Geschmack von Aprikoseneis« ein spannendes, berührendes und dringliches Werk, dem ich viele Leser:innen wünsche. Ein besonderes und gelungenes Buch.

Bewertung vom 13.09.2023
Mystische Fauna
Bodrozic, Marica

Mystische Fauna


ausgezeichnet

»Mystischen Fauna« ist ein Essay in präziser poetischer Sprache, Nature Writing, eine intime Selbsterforschung, ein entwaffnendes sich zeigen, ein stilles Abtragen in sich selbst verkörperter Erinnerungen, eine Geschichte von Orten, Gewalt, Vertrauen und Verstehen. Bodrožić führt heilende Selbstgespräche in einem sendenden Mitteilungsbedürfnis und in einer übersprachlichen Verbundenheit, die mit dem unmittelbaren Kontakt mit Tieren, Pflanzen und Soil Kraft gibt, ohne dass sich an ihr festgeklammert wird, eine innere Freiheit in Verbundenheit.

Bodrožićs Texte brauchen Einlassung auf ihre Energie und mit Intellektualität verbundener Spiritualität. Die vertrauensvolle Offenheit ihres Werks verführt jedoch auch bei weniger Zugang zu Schwellenerlebnissen der menschlichen Wahrnehmung; zu einnehmend ist ihre archäologische, behutsame Abtragung von Wahrnehmungsschichten und Erinnerungen und ihre Verbundenheit. Intuitiv folgt Bodrožić den Kontakten mit Tieren, die bei aller Gewalt unmittelbar in Beziehung treten und steigt hinab in vorbewusste Sphären. War die Bewegung von »Die Arbeit der Vögel« die Würdigung des Unterwegsseins, des Dazwischenseins, so ist es bei der »Mystischen Fauna« das Ankommen, die Ruhe und das Vertrauen, das beim Lesen abfärbt, stärkt und Möglichkeiten der eigenen Entwicklung finden lässt ohne einen bestimmten Weg zu weisen.

Klingt abstrakt? Dann noch einmal in der Außenschau. Die Erzählstimme befindet sich auf La Gomera und scheint in einer Schwellensituation zu sein, in der sie noch nicht weiß, in welche Richtung ihr Leben weitergeht. Als eine Bekannte sie bittet, ihren Hund und Haus für eine nicht fest bestimmte Zeit zu hüten, tritt sie in eine intensive Beziehung mit dem Hund und der Natur. Sie steigt ab in verschüttete Erinnerungen ihrer Kindheit in Dalmatien, in der die Tiere ihr Kontakt und Vertrauen schenkten. Um so verstörender sind die Erinnerungen an Gewaltausbrüche ihres Opas, ihres Hauptbezugsmenschen der Kindheit, später ihrer Mutter, und an ein verschüttetes Schlüsselerlebnis, das eigene beteiligt sein am Töten eines Tieres. Sie betrachtet die aufkommenden Erinnerungen Schicht um Schicht, versprachlicht sie, würdigt ihre zerstörerische Kraft und gibt sich der heilenden vertrauensvollen Beziehung zu Tier und Natur hin, die den Weg zeigen zu der eigenen Sanftheit, dem sich anvertrauen, dem Gewahrwerden der inneren Weite und dem sich Verbundenfühlen mit der Welt.