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Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
ElliP
Wohnort: 
Hessen

Bewertungen

Insgesamt 125 Bewertungen
Bewertung vom 01.05.2023
Polnischer Abgang
Hoffmann, Mariusz

Polnischer Abgang


sehr gut

Kurz nach der Wende kommt Jarek, ein 14-jähriger Pole, mit seinen beiden Eltern aus einem polnischen Dorf nach Deutschland – unser Held, Ich-Erzähler, Sympathieträger, Sprachrohr und Vermittler. Durch seinen relativ neutralen Blick werden die Absurditäten und die Unverhältnismäßigkeit der Bürokratie, die Schikanen und Probleme, Schwierigkeiten und auch die skurrilen Momente deutlich und ich habe mit dem Kopf geschüttelt, gelacht oder war verärgert über das, was die Familie erleben musste und war immer dicht am Geschehen.
Eine durchweg sympathische, warmherzige Familie, die ihren Sohn liebt, die sich in Deutschland ein besseres Leben erhofft und vieles daransetzt, sich zu integrieren und den Sprung in die neue Welt zu schaffen.
Aber ein Geheimnis gibt es trotzdem und das hat mit Oma Agnieszka zu tun, die schon früher nach Hannover ausgesiedelt ist. Aber warum? Ohne es ihrem Mann oder ihren Söhnen mitzuteilen, war sie eines Tages verschwunden und Jarek vermisst seine resolute und tatkräftige Oma sehr. Warum nutzt die Familie jetzt ihre Einladung, um selbst auszuwandern, fährt dann aber gar nicht zu ihr in den Norden, sondern erstmal nach Hamm, dann nach Unna.
Auf der Reise begegnen ihnen ganz unterschiedliche Menschen, mit denen sie z.T. ihr Leben teilen, auf engstem Raum gemeinsam wohnen, um sich dann aber kurz später wieder aus den Augen zu verlieren.
Themen sind Auswanderung, das Fortgehen und das Ankommen, die Suche nach Sicherheit und der Wunsch nach einem besseren Leben in Freiheit, wirtschaftlichem Erfolg und ohne Repressionen, es geht auch um Diskriminierung, Vorurteile und Erwachsenwerden, um Liebe und Freundschaft, Familie, Zusammenhalt, alte Zwänge und neue Möglichkeiten.
Der Roman liest sich flüssig und spannend, mir macht das Lesen unglaublich viel Spaß – der Duktus ist lustig und voller Situationskomik, aber natürlich werden immer wieder düstere Themen angesprochen und aus Kinderperspektive erklärt bzw. beschrieben. Mir öffnen sich die Augen und viele von den Problemen werden für mich erst jetzt deutlich erkennbar, ein Buch, das Grenzen überwinden und Verständnis für die Schwierigkeiten und Unabwägbarkeiten en passant vermitteln kann.

Bewertung vom 23.04.2023
Nach einem Traum
Schad, Gina

Nach einem Traum


gut

Es ist, was es ist...
Eine App, mithilfe derer man immer weiß, wo der Partner sich gerade befindet – Notwendig? Sinnvoll? Wichtig? Für Paare, die sich vertrauen oder eher für Paare, die an der Treue des anderen zweifeln?
Diese App wird auch Thema im Roman „Nach einem Traum“ von Gina Schad und regt in jedem Fall zum Nachdenken an.
A la Brecht – „Arm das Land, das Helden nötig hat“, kann man Parallelen ziehen: „Arm die Liebesbeziehung, die eine solche App nötig hat“. Aber ist es überhaupt Liebe, was Marie und Simon miteinander verbindet? Muss Liebe körperlich gelebt werden? Kann sie sich auf mehrere Partner verteilen? Hat sie im Roman eine Zukunft?
Marie kann sich ein Leben ohne Simon nicht mehr vorstellen, ihre Gedanken kreisen ständig um ihn und sie vernachlässigt Freundschaften, Hobbys und schlägt sogar ein verlockendes Jobangebot in einer anderen Stadt aus. Das ist eine einseitige, toxische Liebe, die jeder Hoffnung auf Verwirklichung in der Realität entbehrt. Wir verhält sich der idealisierte Simon, der mit Frau und Familie immer betont, sein jetziges Leben nicht verändern oder gefährden zu wollen, andererseits ihr aber immer wieder auch Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft macht und sie mit seiner Zeit und Aufmerksamkeit beschenkt.
Dies ist ein moderner Lieberoman, bei dem die Frage nach der Trennung bzw. dem Happy-End ständig wie ein Damokles-Schwert über Marie hängt, ein moderner Briefroman, bei dem Kurz-Botschaften über das Handy ein Großteil der Kommunikation ausmachen.
Genauso verkürzt, nebensächlich, unverfänglich wie die Messages ist auch der emotionale Gehalt des Kurzromans.
Mein Mitleid mit Marie und Simon hält sich in engen Grenzen, eine Identifikation stellt sich selten ein und unerfüllte Sehnsucht nach Nähe, Kommunikation und wahrer Begegnung bilden die emotionale Grundstimmung. Flüssig und interessant zu lesen lässt mich dieser Kurzroman trotzdem etwas ratlos zurück. Die Protagonisten handeln allesamt unvernünftig, sie schaden sich selbst und stehen ihrem Glück im Weg. Es gibt keine Entwicklung der Charaktere und auch kein fulminantes Ende am Schluss, eventuell eine Warnung vor den unbegrenzten Möglichkeiten des digitalen Zeitalters, aber das ist mir zu wenig.

Bewertung vom 11.04.2023
Josses Tal
Rehse, Angelika

Josses Tal


gut

In dem Debutroman „Josses Tal“ von Angelika Rhese geht es um Schuld und Vergangenheitsbewältigung, um die Zeit während der Nazi-Diktatur und die Un-/Möglichkeiten des einzelnen, im Einklang mit seinem Gewissen überleben zu können.
In der Rahmenhandlung begegnet uns Helen, eine junge Frau, die sich auf Spurensuche auf den Weg zu dem Einsiedler Josse macht, welcher in Norwegen lebt und für den Tod ihrer Großmutter angeblich mitverantwortlich ist. Gemeinsam tauchen beide in die furchtbaren Geschehnisse längst vergangener Zeiten ein und über Stunden hinweg erzählt ihr der fast 80-jährige alte Mann von seinem Leben, seinem Aufwachsen bei den ungeliebten Großeltern, seiner schwachen Mutter, die ihn nicht vor der Wut und der Gewalt des Großvaters schützen konnte, von seinen Verstrickungen in die Zeit des Nationalsozialismus`. Der Leser erlebt den schwachen, klugen Josef, hat Mitleid mit dem geschundenen und wenig geliebten Kind und kann die grausame Umwelt nicht verstehen. Und dann erzählt Josse ungeschönt und erstaunlich detailliert von seiner Kindheit und Jugend während der Zeit der Nationalsozialisten, von seiner Freundschaft zu einem SS-Mann, von seiner eigenen Beteiligung bei den Pimpfen und seinem Aufstieg zum Fähnleinsführer. Erzählt wird von Bespitzelungen, Bücherverbrennungen, Aufmärschen und Gedichten für den Führer, von Deportationen, Arbeitslagern und Zwangsarbeit. Und Joseph gesteht Helen von seiner eigenen Verstrickung und seiner Schuld, die Verblendung eines Kindes und Jugendlichen, die freiwillige Unterstützung des Regimes, von seiner Mitverantwortung am Tod ihrer Großmutter.
Der Roman „Josses Tal“ von Angelika Rhese liest sich sehr flüssig und spannend und die Normalität des Alltags in der NS-Zeit wird deutlich erkennbar. Aber die Figuren bleiben eindimensional, sie alle haben ihre Rollen, sind gut oder böse und durchlaufen keine Entwicklung, ausgenommen Josef, der sich vom kindlichen Opfer zum jugendlichen Mitläufer und Täter entwickelt, der sich letztendlich zwar befreien, aber seine Schuld nicht einfach ablegen kann.
Für mich bleiben viele Fragen offen, die nicht klar beantwortet werden und die der Logik der Geschehnisse widersprechen. Die Zufälle häufen sich, die Figuren agieren nicht nachvollziehbar und unklug, die Charaktere leiden z.T. unter ihrer eigenen Borniertheit, Unvorsichtigkeit oder Menschenverachtung. Es gibt nur wenige Protagonisten, mit denen ich mitfühlen und deren Motivation ich nachvollziehen kann.
Sicherlich ist dies ein Roman, der über die erschreckenden und schrecklichen Zustände im dritten Reich detailliert berichten kann, für mich aber keiner, der nachvollziehbar die Verstrickungen von Schuld, Reue, Mitläufertum, Lüge, persönlicher Verantwortung und Vergangenheitsbewältigung thematisiert.

Bewertung vom 10.04.2023
Corregidora
Jones, Gayl

Corregidora


sehr gut

Im Zentrum steht die schöne und faszinierende Ursa, eine geschundene Seele, eine junge, schwarze Bluessängerin, aufgewachsen in Armut und Elend, gewohnt an Gewalt und Ausbeutung, Missbrauch von Männern, auf der Suche nach Liebe und Selbstbestimmung.
Im Gesang verwirklicht sie sich, ihre Stimme wird über die Zeit immer spröder und rauer, sie gewinnt an Persönlichkeit durch die vielen belastenden Erfahrungen im Laufe der Zeit. Ursas Leben erinnert mich an die Biographie von Billie Holiday, die auch so vieles durchlebt hat und deren Schmerz sich in ihrem Gesang widerspiegelt.
Auch wenn der die Sprache sehr harsch, roh, brutal und immer wieder äußerst vulgär ist, passt es zu der Geschichte und wirkt trotzdem nicht wirklich obszön. Es stimmt traurig und die unglaubliche Verzweiflung und Ausweglosigkeit aus diesem Leben wird deutlich.
Ein furchtbares und tabubrechendes Vergehen in der Vergangenheit bietet die Grundlage für das Lebensgefühl Ursas: Junge schwarze Frauen, die nur als Sexualobjekte gesehen und immer wieder vergewaltigt wurden. Ein Vater, der vor seinen eigenen Töchtern nicht Halt macht, Männer ohne Gefühl, ohne Respekt, Frauen, die als Ware gesehen werden, nur dazu da, dem Sklavenbesitzer und den Freiern zu dienen. Dieses Wissen lässt kaum Hoffnung auf Veränderung zu, ein Kreislauf aus Gewalt, Sexualität, Verlangen und Sehnsucht ist der Tenor des Romans, den der traurige, sehnsüchtige Gesang des Blues widerspiegelt.
Das Nachwort der Autorin Gayl Jones, Professorin für Literatur, stimmt mich sehr nachdenklich und die Zitate und Erklärungen von anderen Schriftstellern, von Motivation und Anspruch, vom Willen nach Ausdruck und Gestaltung des gesprochenen Wortes sind einleuchtend und sinnstiftend. Die sprachlichen und inhaltlichen Wiederholungen, Schleifen - Call and Response - diese Parallelen zu den Stilmitteln des Blues finde ich großartig.
Die Autorin betont, dass sie nicht zum Mitleid anregen will, sondern in schonungsloser Sprache zeigen möchte, was die Realität alles beinhaltet. Besonders getroffen hat mich auch der Begriff "vergewaltigungsfarben", weil so vieles an Gewalt und grausamer Geschichte der Sklaverei dahintersteckt und eine Flut von qualvollen Bildern ausgelöst wird.
Ein wirklich besonderes Buch, das zum Nach- und Weiterdenken anregt, das die bittere Realität schonungslos darstellt, das Augen öffnet, die Schrecken der Vergangenheit und die immer noch aktuellen Auswirkungen auf die Betroffenen thematisiert.

Bewertung vom 10.04.2023
Räume des Lichts
Tsushima, Yuko

Räume des Lichts


sehr gut

Den Rahmen des Romans „Räume des Lichts“ von Yuko Tsushima bildet der Einzug bzw. der Auszug aus einer wunderbar lichtdurchfluteten Wohnung der namenlosen Protagonistin mit ihrer dreijährigen Tochter.
Im Zentrum steht die zutiefst unglückliche junge Frau, die nicht Herrin ihres Schicksals ist. Sie hinterfragt ihre desaströse Situation nicht, bekommt kaum Hilfe, kann nicht für sich und ihre Tochter sorgen. Es ist unendlich traurig, diese Hilflosigkeit zu erkennen, aber trotzdem stellen sich bei mir weder Mitleid noch Nähe zu ihr ein. Fremd, unpersönlich, undurchschaubar bleibt sie bis zum Schluss. Über ihre eigenen Interessen erfahren wir nichts. Sie wird nur im Rahmen ihrer defizitären Rolle als Mutter, als Angestellte, die jeweils Angst hat, den Ansprüchen nicht zu genügen, charakterisiert.
Das unaufgearbeitete Verhältnis zu dem Vater der Tochter nimmt eine dominante Rolle ein, er ist weder an seinem Kind noch an seiner Exfrau interessiert, taucht nicht zu den Mediationsgesprächen auf, bietet weder finanziell noch emotional seine Unterstützung an.
Eine Entwicklung der Figuren findet in diesem Roman nicht statt. Ich habe das Gefühl, dass Mutter und Tochter sich immer weiter voneinander entfremden und Überforderung, Wut, Schuldgefühle und Aggressionen die Basis der Beziehung bilden, eine Abwährtsspirale in das totale Desaster.
Lakonisch erzählt weist der Text eine eigenartige Schönheit in seiner Starre und Ereignislosigkeit auf: Die Geschichte einer Depression, die nur mithilfe von Liebe, Nähe und / oder psychologischer Unterstützung gelöst werden könnte.
Eros und Thanatos tauchen immer wieder auf, am Ende überwiegt allerdings das Todesmotiv. Der Tod ist omnipräsent, ob im Traum oder in der Realität, auf der Straße, in der Nachbarschaft, im Alltag. Gewalt- und Katastrophenphantasien peinigen die junge Frau und vermindern ihr ohnehin geringes Selbstwertgefühl.
Zum Schluss schließt sich der Rahmen, die Wohnsituation verschlechtert sich aus eigenem Antrieb, Enge, Dunkelheit, Perspektivlosigkeit und als Leserin kann ich nur traurig den Kopf schütteln - warum?
Das Nachwort skizziert das Leben und Werk der japanischen Autorin und bietet interessante Rückschlüsse auf die Rolle von alleinerziehenden Frauen im Japan der 70-er Jahre, Entstehungszeit des Romans, und es zeigt sich, dass die Aktualität leider immer noch punktuell gegeben ist.

Bewertung vom 10.04.2023
Vinz Solo
Beck, Sebastian

Vinz Solo


sehr gut

Vinz, ein junger, unglücklicher Mann auf der Suche nach seinem Platz im Leben. Er lebt in der bayrischen Provinz, weiß nicht, wohin die Reise gehen soll, verliert sich in Tagträumen und wäre am liebsten Rockstar. Stattdessen ist der Alltag durch Langeweile und Normalität geprägt, er spielt in einer Kirchenband, Highlights sind „Herr deine Liebe“ im Gottesdienst und Abende in der einzigen Dorfdisco „Trash“. Seine überschaubaren Wünsche sind ein Auto, eine neue Gitarre und endlich eine Freundin – aber diesem steht so vieles im Weg, so z.B. vor allem sein negatives Selbstbild: „Vinzenz Carl Bachmaier, dürrer Kerl mit Pflaumbart und Pferdeschwanz, Möchtegerngitarrist, Beziehungstrottel, unehrenhaft entlassener Oberministrant, Knackie, Looser, Abschaum, der Typ im Spiegel ekelte mich an.“
Der Roman erinnert an „The catcher in the rye“ – auch ein junger Mann auf der Suche, der sich treiben lässt, eigentlich nicht weiß, wo die Reise hingeht, unglücklich ist, aber auch mit seiner Umgebung so seine Probleme hat. Eine Coming-of-Age Geschichte, bei dem die Entwicklung des Anti-Helden im Zentrum steht, ein Roman voller Lokalkolorit, der aber mit einigen Veränderungen auch in Leer oder in der Eiffel spielen könnte, denn die Suche und das Unglück der Jugend ist allgemeingültiger Ausgangspunkt.
Die katholische Kirche nimmt einen großen Stellenwert ein, als Heimat, die Vinz verabscheut, die ihn aber auch gefangen hält und von der er sich nicht lösen kann. Und immer wieder begegnen uns ihre unterschiedlichen Vertreter, die Vinz beeinflussen wollen.
Sebastian Beck formuliert unglaublich wortgewandt und urkomisch aus der Perspektive von Vinz, immer wieder voller Humor und treffsicherer Pointen, ohne dabei ins Oberflächliche oder Derbe abzurutschen.
Am Schluss steht ein Glückstag – die Begegnung mit Lara: Für Vinz bedeutet das eine neue Frisur, neue Kleidung, ein Ohrring, alles seiner neuen Bekanntschaft zu verdanken. Die Hoffnung auf Veränderung steht im Raum und wir können Vinz nur das Beste für die Zukunft wünschen – er hat es verdient.

Bewertung vom 21.01.2023
Rabenkinder / Morduntersuchungskommission Leipzig Bd.1
Poppe, Grit

Rabenkinder / Morduntersuchungskommission Leipzig Bd.1


ausgezeichnet

Ungewöhnlicher Pageturner: Beim Mauerfall Mord
Am 10. Nov. 1989, dem Tag nach dem Fall der Mauer, wird in Torgau, dem einzigen geschlossenen Jugendwerkhof in der DDR, die Leiche des ehemaligen Direktors gefunden. Die Anlage ist bis auf drei Jugendliche schon evakuiert worden, nur Tanja, Maik und Andreas leben noch auf dem Gelände, eingesperrt und überwacht, alle anderen Insassen konnten schon befreit oder verlegt werden. Im Durcheinander der Tage während des Mauerfalls gelingt ihnen aber die Flucht und sie tauchen unter.
Mord oder Suizid? Haben die drei Jugendlichen etwas damit zu tun? Ein Motiv hätten sie allemal, da der Direktor und die übrigen sogenannten Pädagogen und Erzieher ihnen das Leben durch Einzelhaft, Strafen für jede Kleinigkeit, Strafsport, Nahrungsentzug, Arrest und Schikanen immer wieder zur Hölle gemacht haben.
Die Ermittlerin Beate Vogt von der Morduntersuchungskommission aus Leipzig wird auf den Fall angesetzt und bekommt Unterstützung aus dem Westen durch Hauptkommissar Josef Almgruber aus Nürnburg, aber die Zusammenarbeit ist nicht immer ohne Probleme und Vorurteile gegenüber den Methoden und Denkweisen des jeweilig anderen und des Systems, das er / sie noch verkörpert. Außerdem mischt sich auch die Stasi noch ein und will den Fall übernehmen, was natürlich alles verkompliziert und eine stringente Ermittlung vereitelt…
Der erste Kriminalfall von Grit Poppe liest sich rasant und atemlos, die düstere Atmosphäre im Jugendwerkhof lässt unglaubliche Schrecken erahnen und ein System von Gewalt, Korruption, Sadismus hinter diesen Mauern wird erkennbar. Das unterschiedliche Ermittler-Duo lässt aber auch Momente der Heiterkeit zu, Ost trifft West, immer wieder stoßen die beiden an ihre Grenzen, lösen sich, gehen dann aber auch wieder aufeinander zu und merken, dass der Fall nur im Miteinander zu lösen ist.

Die Handlung sorgt immer wieder für Überraschungen, Beziehungen werden hinterfragt, unterschiedliche Perspektiven eingenommen. Sprachlich und inhaltlich abwechslungsreich zeigt Grit Poppe ihr Können, teilweise ganz in Krimimanier, kurz und prägnant, voller Spannung, dann gibt es aber auch wieder die poetischen Passagen voller Metaphern und Symbole, die die Geschichte ausmalen und bereichern. Geschichtliche Hintergründe, die Wendeereignisse, werden thematisiert, die turbulente Zeit der Wiedervereinigung dient als Hintergrund.
Ein wunderbarer Krimi, der viele Informationen über die Zeit und über das Leben in den Jugendwerkhöfen mit dem ungewöhnlichen Mordfall paart, eine Mischung aus Fiktion und Realität, die bestens unterhält, bei der alle Krimileser auf ihre Kosten kommen und die außerdem noch, so ganz nebenbei, aufklärt und Geschichte erfahrbar macht.

Bewertung vom 21.01.2023
Unten
Ilisch, Maja

Unten


ausgezeichnet

Die begrenzte Welt
Ein Horrorszenario – jeder lebt auf seinem Stockwerk ohne Kontakt nach oben oder unten in die jeweiligen anderen Stockwerke, in seiner kleinen, überschaubaren Welt, kontrolliert von der allseits gegenwärtigen Hausverwaltung, die überall ihre Augen hat. Ein System der Überwachung, Fremdbestimmung und Gängelung, Raum für Freiheit, Lebensfreude und Kreativität bleibt kaum. Doch Nevo und ihre Freundin nutzen die wenigen Möglichkeiten, um die Hausverwaltung zu hintergehen und sich kleinere Übertretungen zu leisten, suchen den toten Winkel der Kamera, spielen Fangen, sind vergnügt und erfreuen sich an der gegenseitigen Gesellschaft. Diese heimlichen Momente des Glückes währen allerdings nicht lang – beim Verstecken vor den gefürchteten Aufpassern, die Schrecken und Panik verbreiten, verschwindet Juma im Wäscheschacht und kommt nicht mehr zurück. Neben ihrer Mutter, die den ganzen Tag bei der Arbeit verbringt und nie Zeit für Nevo hat, ist Juma die wichtigste Person in ihrem Leben.
Deshalb überwindet sie ihre Angst und macht sich auf die Suche nach ihrer besten Freundin. Das Abenteuer beginnt, das sie in neue Stockwerke, und gleichzeitig neue Welten bringt. Die Angst vor der ominösen Hausverwaltung und deren scheinbar grenzenlose Macht vereint alle Bewohner. Gefahren und Schrecken lauern überall und es gilt, diese auf ihrem Weg zu ihrer Freundin und gleichzeitig auch zu sich selbst zu überwinden und zu bestehen.
Ein beglückendes, spannendes Jugendbuch von Maja Ilisch, das auch sprachlich verzaubert, poetisch, treffend, voller origineller Einfälle. Eine wunderbare Heldin, die Aufgaben und Abenteuer in einer ihr fremden Welt besteht, die durch verschiedene Begegnungen reift, unterschiedliche Perspektiven kennenlernt, sich weiterentwickelt, ihre eigenen Ängste überwindet und in eine fantastische Welt eintaucht, bei der nichts so ist, wie es auf den ersten Blick erscheint – ein modernes, kluges Märchen mit einer Botschaft, die zum Nachdenken anregt und eine Leseempfehlung für alle, die sich gerne eine neue Welt voller Spannung, Kreativität, Freundschaft und Mut erlesen.

Bewertung vom 05.01.2023
Nicht aus der Welt
Köhler, Anne

Nicht aus der Welt


ausgezeichnet

Was wäre wenn…
Das Hotel für besondere Menschen – eine Parallelwelt zur Insel der besonderen Kinder – steht im Zentrum des Romans von Anne Köhler. Dieses Hotel ist keins, das Profit anstrebt, das Werbung macht oder besonders angesagt sein möchte. Im Gegenteil: Ein Sehnsuchtsort - ein Ort der Zuflucht, des Rückzugs, der Menschenfreundlichkeit – Agape als Lebensmotto. Der Mensch als Ganzes wird angenommen, in seiner Eigenart und Schrulligkeit akzeptiert und es wird nicht Heilung wie in einem Sanatorium angestrebt, sondern eine Bejahung des menschlichen Makels und eine Linderung von Qual oder Unannehmlichkeiten der Realität.
Die Gäste sind handverlesen, man such nicht das Hotel auf, sondern wird von dem Besitzer Valentin auserwählt und darf dann an diesem wunderbaren Ort seine Ruhe finden. Diverse Charaktere mit besonderen Bedürfnissen leben hier selbstvergessen, von der Welt nicht weiter behelligt.
So kommt auch Hempel, der zögerliche Student ohne Traum, in dieses Hotel, das ihm Rettung vor seinen eigenen abstrusen Ideen und Plänen bringt. Er trifft dabei eher zufällig auf die Gäste Friederike, die unglückliche Mutter, und Linda, deren Höhenangst maßgeblichen Einfluss auf ihre Zufriedenheit hat. Dieses ungeplante Aufeinandertreffen hat ungeahnte Folgen auf das Weitere Zusammenleben im Hotel und die drei erleben ein Abenteuer, das alles andere als absehbar ist und das ihr Leben verändert.
Ein unterhaltsamer, einfühlsamer Roman, leichtfüßig und voller origineller Ideen – wer wäre nicht gerne einmal ein Gast in diesem wunderbaren Hotel, das die eigenen Bedürfnisse so perfekt befriedigt? Die Akzeptanz des Einzelnen mit all seinen Widersprüchen, das So-Sein als Status Quo ist ein wunderbarer Gedanke, den man viel öfter in der realen Welt zulassen sollte, in der er es vor allem um Selbstoptimierung, Erfolge und Weiterentwicklung geht.

Bewertung vom 31.12.2022
Dorn, Susanne;Schmeis, Britta;Ludwig, Michaela

"My Black Skin: Lebensreisen"


ausgezeichnet

Ein Schmuckstück, ein wunderschönes Buch mit Biographien, Einblicken, Geschichten, Wünschen, es erzählt von den erfolgreichen Lebensreisen der Helden unserer Zeit, ergänzt mit faszinierenden Portraits.
Dieses Buch zeigt die Vielfalt des Lebens auf. Voller Achtung vor dem Individuum, voller Liebe wird der Mensch zum Thema mit all seiner Qual und Mühe, mit seinen Brüchen, seinem Schicksal, aber vor allem auch mit seiner Schönheit und Zufriedenheit, Freiheit und seinem Lebensglück. Das Besondere an dem Buch ist die Auswahl der Personen – people of colour in Deutschland, die als Rollenmodel junge Menschen inspirieren und ihnen Mut machen können. Helden, die Konfrontationen, Hürden und Schwierigkeiten überwunden haben, LehrerInnen, ProfessorInnen, ErfinderInnen, KünstlerInnen, WissenschaftlerInnen – Menschen, die ihr Leben in die Hand genommen, sich den Schwierigkeiten gestellt haben, oft auch mit Diskriminierung und negativen Vorurteilen zu kämpfen haben oder hatten, die sich den Herausforderungen aber gestellt haben und erfolgreich ihren Weg gegangen sind.
Wunderbare Biographien, die sich z.T. wie ein Romanauszug lesen. So z.B. die Lebensgeschichte von Saliya Kahawatte, die erst als Autobiographie veröffentlicht und später als Verfilmung unter dem gleichnamigen Titel „Mein Blind Date mit dem Leben“ am 26. Januar 2017 in die deutschen Kinos kam. Oder die Geschichte vom Sternekoch Anthony Sarpong, der als Erstklässler aus Ghana ohne Kenntnisse der Sprache nach Deutschland kam und sich seinen Weg nach oben bahnte – über Stationen in Kasachstan, Spanien und Israel, um dann mit seiner eigenen Familie wieder nach Deutschland zurückzukommen, und mittlerweile ein gefragter Sternekoch mit eigenem Restaurant und vielen Angestellten ist.
Dieses Buch sollte gelesen werden, besonders auch jungen Menschen kann es Mut machen, Hoffnung geben, Vorbilder und eigene Möglichkeiten aufzeigen. Die „Protagonisten“ berichten von ihren Schwierigkeiten, die sie überwunden haben und das verbindende Thema ist die Bewältigung und Bejahung des Lebens trotz aller Widrigkeiten, die Schönheit des Lebens, die Suche nach Zufriedenheit und dem Lebensglück.