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Benutzername: 
leukam
Wohnort: 
Baden-Baden

Bewertungen

Insgesamt 75 Bewertungen
Bewertung vom 24.07.2023
Elternhaus
Mank, Ute

Elternhaus


ausgezeichnet

Emotionale Thematik
Die Eltern sind alt geworden; das eigene Haus mit dem großen Garten wird zusehends zu einer Belastung für sie. So sieht es jedenfalls Sanne, die älteste Tochter. Sie wohnt nur ein paar Straßen weiter und sie kümmert sich auch regelmäßig um die Eltern. Deshalb plant sie deren Umzug in eine altersgerechte kleine Wohnung. Doch ihre einsam getroffene Entscheidung, die zwar vernünftig sein mag, stößt auf wenig Verständnis bei ihren Schwestern. Von „ Entmündigung“ und „ Entscheidungen über den Kopf der Eltern hinweg“ ist die Rede. Und was soll mit dem Elternhaus geschehen? Dieses Haus, das der Vater eigenhändig aufgebaut hat und für das die Eltern sich krumm gearbeitet haben. Sanne möchte es verkaufen. Doch hängen nicht zu viele Erinnerungen daran? Ist es nicht Heimat und Rückzugsort für alle? Das sowieso schon angespannte Verhältnis der Schwestern wird durch diesen Konflikt auf eine harte Probe gestellt.
Ute Mank greift in ihrem zweiten Roman ein Thema auf, das viele betrifft. Was tun, wenn Eltern alt werden und ihren Alltag nicht mehr allein bewältigt bekommen? Darf man sie aus ihrem gewohnten Umfeld herausreißen, auch gegen deren Willen? Wo hört Fürsorge auf und wo fängt Bevormundung an ?
Doch es geht noch um weitaus mehr in diesem Roman, der von Geschwisterbeziehungen erzählt, von Rollenverteilungen innerhalb der Familie und von unterschiedlichen Lebensentwürfen.
Sanne lebt das Modell ihrer Eltern weiter -frühe Heirat, zwei Kinder, ein eigenes Haus mit Garten - nur alles etwas moderner und pflegeleichter. Doch nun sind die Kinder erwachsen; der Sohn studiert weiter weg, die Tochter plant ihren Auszug. Auch Ehemann Jürgen ist immer seltener zuhause. Noch ein Elternhaus, das zusehends leerer wird und seine Funktion als Heim für die Familie verliert.
Petra dagegen, die Mittlere, hat sich bewusst für ein anderes Lebensmodell entschieden. Als Einzige in der Familie hat sie studiert und führt ein Single - Leben in der Großstadt, weit weg von daheim. Bei ihren seltenen Besuchen bei den Eltern fühlt sie sich weniger als Familienmitglied denn als Gast. Aber gerade sie trifft Sannes Entscheidung, das Elternhaus zu verkaufen, mit voller Wucht.
Gitti, die Kleine, hatte mehr Freiheiten als ihre älteren Schwestern. Die Eltern haben ihr vieles nachgesehen und sie nimmt das Leben immer noch leicht. Dabei hat sie als alleinstehende Mutter auch ihre Probleme . Und sie versucht, zwischen den ungleichen Schwestern Sanne und Petra zu vermitteln. Obwohl sich die Beiden in ihrer Kindheit sehr nahestanden, haben sie sich im Laufe der Jahre immer weiter voneinander entfernt.
Die Autorin nimmt abwechselnd die Perspektive von Sanne und Petra ein. So kommt man als Leser vor allem diesen zwei Frauenfiguren am nächsten. Dabei hat sie die unterschiedlichen Charaktere sehr gut herausgearbeitet - hier die pragmatisch denkende und resolut anpackende Sanne, da die ständig zweifelnde und nachdenkliche Petra.
Beide stehen an einem Wendepunkt ihres Lebens. Petra hat in Jürgen einen Mann gefunden, der mehr will als ein unverbindliches Verhältnis. Und Sanne muss erleben, wie ihre eigene Familie auseinanderbricht. Beide beneiden die jeweils andere um die Vorteile von deren Lebenssituation, doch der Leser weiß von den Schattenseiten.
Der versöhnliche Schluss bietet zwar kein Happy- End , wirkt aber gerade dadurch glaubwürdig.
Ute Mank schreibt in einer klaren und schnörkellosen Sprache. Dabei überzeugt sie mit einem genauen Blick auf Details und klugen Beobachtungen. Sie urteilt nicht über ihre Figuren, sondern begleitet sie voller Empathie. Die Probleme, mit denen diese konfrontiert werden, kennen viele Leser aus eigener Erfahrung. Ebenso die Fragen, die sich stellen bei der Lektüre. Fragen, die jeder für sich selbst beantworten muss und die jeweils unterschiedlich ausfallen können.
Ute Mank ist mit „ Elternhaus“ ein sehr gut lesbarer Unterhaltungsroman gelungen, der darüber hinaus Stoff zum Nachdenken liefert.

Bewertung vom 01.07.2023
22 Bahnen
Wahl, Caroline

22 Bahnen


ausgezeichnet

Beeindruckendes Debut

Die in Mainz geborene und heute in Rostock lebende Autorin hat mit 28 Jahren ein erstaunliches Debut hingelegt.
Dass Caroline Wahl hier eine fiktive Geschichte erzählt und nicht ihre eigene, betont sie mit der vorangestellten Widmung : „ Für meine Mama, die immer da ist.“
Das Leben der Ich- Erzählerin Tilda ist streng durchstrukturiert; es hat so gar nichts von einem lockeren Studentenleben. Während ihre Schulkameraden und Freunde nach dem Abitur die kleine Heimatstadt verlassen haben, um in coolen Großstädten wie Berlin oder Amsterdam zu studieren oder irgendwelchen Jobs nachzugehen, ist Tilda geblieben. Denn sie kann ihre jüngere Schwester, die 10jährige Ida nicht allein lassen mit der alkoholkranken Mutter. Nie weiß Tilda, was sie abends daheim erwartet. Liegt die Mutter völlig apathisch und betrunken auf dem Sofa oder ist sie mal wieder wegen einer Kleinigkeit ausgerastet und hat Ida grün und blau geschlagen? Dann gibt es die nächsten Abende verbrannte Spiegeleier als Wiedergutmachung.
Nachdem Tildas Vater vor Jahren die Familie verlassen hat, begann der Absturz der Mutter. Um Ida hat sich von Anfang an die große Schwester gekümmert.
Das heißt nun, dass Tilda neben ihrem Mathematikstudium noch einen Job an der Supermarktkasse hat, um den Unterhalt für die Familie zu verdienen. Kraft gibt ihr der tägliche Besuch im Schwimmbad. Hier schwimmt Tilda ihre 22 Bahnen, bevor sie heimkehrt in das traurigste Haus in der Fröhlichstraße.
Da kommt eines Tages ihr Professor mit dem verlockenden Angebot für eine Promotionsstelle in Berlin. Das stellt die junge Frau vor eine schwere Entscheidung. Hier endlich die Aussicht auf ein selbstbestimmtes Leben, da die Verantwortung für die jüngere Schwester.
Für zusätzliche emotionale Verwirrung sorgt Viktor, der genau wie Tilda seine abendlichen Bahnen schwimmt. Auch er ist eine verletzte Seele, denn er hat eine familiäre Katastrophe hinter sich. Die beiden kommen sich zögerlich näher, auch weil Tilda früher mit Viktors jüngerem Bruder befreundet war.

Caroline Wahl zieht einem von Anfang an in Bann mit ihrer Geschichte. Das liegt zum einen an der Hauptfigur, die lebensecht und sympathisch wirkt. Es ist rührend, wie fürsorglich sich Tilda um ihre Schwester kümmert, dafür sorgt, dass das Mädchen pünktlich in die Schule kommt und was Anständiges zum Essen hat. Aber sie sorgt sich genauso um deren seelisches Wohlbefinden, tröstet und stärkt sie. Ida ist introvertiert, sie geht z.B. nur an Regentagen mit ins Schwimmbad, weil sie den Kontakt mit fremden Menschen scheut. Ihre Emotionen verarbeitet sie beim Malen von phantasievollen und ausdrucksstarken Bildern.
Ein immer wiederkehrendes Motiv im Roman ist ein Spiel, das Tilda an der Supermarktkasse mit sich selbst spielt: Sie versucht den Typ Mensch zu erraten, der hier einkauft und zwar nur anhand der Waren auf dem Band. Meistens liegt sie hier ganz richtig. Und wenn dann später einige Produkte der Gut&Günstig- Varianten durch den Scanner gezogen werden, weiß der Leser, dass Tilda nun den eigenen Einkauf tätigt.
Es mag irritieren, dass die Autorin die meisten Zahlen nicht ausschreibt, sondern als Ziffern stehen lässt. Doch das passt zur Protagonistin, die als Mathematikerin Struktur und Halt in Zahlen findet. Den braucht sie, denn das Zusammenleben mit einem alkoholkranken Menschen ist unberechenbar, wie Carolin Wahl eindrucksvoll darstellt.
Eine große Stärke des Romans liegt auch in den Dialogen, die knapp, aber lebendig, z.T. ironisch und sehr jugendlich daherkommen. Dabei bringen sie Tempo in den Text, denn oft werden sie wie bei einem Theaterstück nur mit Namen und Doppelpunkt eingeführt .
Am Bild der „ Abendbrottisch-Familie“ bringt die Autorin treffend den Unterschied zwischen Tildas Zuhause und dem einer „ normalen Familie“ auf den Punkt. Bei einer Freundin erlebt Tilda während ihrer Schulzeit, was ein harmonisches Familienleben ausmacht: gemeinsames Essen mit verschiedenen leckeren und gesunden Beilagen und anregenden Gesprächen.
Solche Bilder und Sätze, die bleiben, finden sich einige im Buch.
Große Kunst ist es, dass der Roman trotz der Schwere des Themas seine Leichtigkeit behält. Mit viel Emotionen, großem Interesse und voller Spannung habe ich Tilda während diesem entscheidenden Sommer begleitet.
Es ist eine typische Coming-of-Age-Geschichte, denn nicht nur Tilda, sondern auch Ida macht eine entscheidende Entwicklung durch. Doch es ist kein Roman, der nur jugendliche Leser anspricht, überhaupt nicht.
„ 22 Bahnen“ ist das feinfühlig gezeichnete Porträt einer starken jungen Frau und die anrührende Geschichte einer liebevollen Schwestern- Beziehung. Ein vielversprechendes Debut von einer Autorin, auf deren weitere Bücher ich mich freue.

Bewertung vom 29.05.2023
Blue Skies (deutschsprachige Ausgabe)
Boyle, T. C.

Blue Skies (deutschsprachige Ausgabe)


ausgezeichnet

Realistisches Szenario, satirisch überspitzt

Der 74jährige T.C.Boyle ist einer der ( vor allem in Deutschland ) erfolgreichsten und interessantesten US-amerikanischen Schriftsteller der Gegenwart. In seinen Büchern greift er gerne aktuelle Themen auf, so auch in seinem neuesten Roman „ Blue Skies“.
Der Titel und das Cover stehen aber nicht für unbeschwertes Sommerfeeling, sondern für einen beständigen wolkenlosen Himmel und somit für extreme Trockenheit und Dürre. T.C.Boyle thematisiert hier die Klimakatastrophe und ihre Auswirkungen auf die Menschen und ihren Alltag.
Das macht er ganz konventionell anhand einer Familiengeschichte. Im Zentrum stehen die Eltern Ottilie und Frank mit ihren beiden erwachsenen Kindern Cooper und Cat.
Die Tochter lebt mit ihrem Verlobten Todd, einem Werbebotschafter für Baccardi- Rum in Florida in einem geerbten Strandhaus. Cat, oberflächlich und gelangweilt, kauft sich aus einer Laune heraus eine Tigerpython und erhofft sich als „ Schlangenlady“ einen großen Erfolg als Influencerin.
Cooper dagegen hat als Insektenforscher die Zeichen der Zeit erkannt. Schon lange weiß er um das dramatische Insektensterben und dessen Folgen. „ Der Planet stirbt, siehst du das nicht?“ fragt er seine Mutter. Doch die versucht dagegen anzugehen, bewusster und nachhaltiger zu leben. Zuerst einmal stellt sie die Ernährung um, besorgt sich einen Grillenbrutapparat und serviert ihren Gästen Cookies aus Grillenmehl und frittierte Heuschrecken.
Aber es sind hilflose Versuche, etwas aufzuhalten, was schon längst in der Realität angekommen ist. Der Mensch hat schon viel zu lange gegen die Natur gelebt und nun schlägt sie zurück. Boyle lässt die Familie von einer Katastrophe in die nächste wanken.
Cats wenig artgerechte Haltung einer gefährlichen Würgeschlange in einem Terrarium in ihrem Haus hat Folgen. Willie, wie die Python zärtlich von Cat genannt wird, verschwindet eines Tages spurlos, um erst dann wieder aufzutauchen, um von der als Ersatz gekauften zweiten, etwas größeren Schlange aufgefressen zu werden. Das ist aber erst der Anfang, die eigentliche Tragödie für Cat und ihre Familie wird noch kommen.
Auch bei Ottilie läuft einiges schief. Ihre euphorisch begonnene Aufzucht von Grillen endet damit, dass eines Morgens alle Tiere im Brutapparat tot sind. Und der nächste Versuch mit einem Bienenstock endet genauso. Was kann man denn noch tun, fragt sich Ottilie verzweifelt und schwimmt erstmal ein paar Runden im Pool.
Während viele nützliche Insekten aussterben, vermehren sich Zecken rapide und werden zu einer lebensbedrohenden Gefahr. Das bekommt Cooper nach einem Zeckenbiss schmerzhaft zu spüren.
Doch nicht nur die Tiere spielen verrückt, sondern auch das Wetter. In Kalifornien, wo Cooper und seine Eltern leben, brennt eine unbarmherzige Sonne vom Himmel und treibt das Thermometer ständig nach oben. Seit Monaten fällt kein Tropfen Regen, der Boden ist dürr und unfruchtbar und der kleinste Funke lässt Häuser und Wälder brennen.
Bei Cat und Todd in Florida dagegen regnet es unablässig. Der Meeresspiegel steigt, die hölzernen Stützpfähle vom Strandhaus faulen im Wasser und Termiten nisten sich im feuchten Holz ein. Die meisten Nachbarn haben ihre Häuser bereits verlassen, nur Cat versucht auszuhalten, auch wenn das heißt, dass sie ihr Haus nur noch mit dem Boot verlassen kann.
T.C. Boyle kennt keine Gnade mit seinen Figuren. Er zeichnet sie als typische Zeitgenossen, die entweder unbeirrt an ihrem Lebensstil festhalten und die Fakten ignorieren wie Cat und Todd oder als hilflose Endzeitpropheten, die mit ihren Statistiken dagegenhalten wie Cooper und seine Wissenschaftskollegen.
Einzig Ottilie gehört die volle Sympathie des Lesers. Ihre Versuche die Katastrophe aufzuhalten wirken gleichzeitig rührend und hilflos. Der Alkoholkonsum aller Protagonisten wird im Verlaufe des Romans enorm ansteigen.
Aber der Autor mutet ihnen auch viel zu. Immer wenn man denkt, es reicht, folgt der nächste, noch härtere Schicksalsschlag.
T.C.Boyle beginnt seine Geschichte in der Gegenwart und lässt sie in einer nahen Zukunft enden. Er entwirft ein sehr realistisches Szenario und zeigt, wie ganz gewöhnliche Menschen damit umgehen. Lösungen kann er keine bieten, Schlüsse muss der Leser selber ziehen. Man erfährt hier auch nicht unbedingt Neues, doch dadurch, dass er die bekannten Fakten in eine Erzählung einbindet, erreicht er den Leser auf der emotionalen Ebene.
Manches ist satirisch überspitzt, das sorgt für Witz und Komik, trotz des ernsten Themas.
Viele der vierundzwanzig Kapitel enden mit einem Cliffhänger. Das macht den Roman zu einem unglaublich spannenden, aber auch erschreckenden Leseerlebnis. Der Autor spart nicht mit drastischen und verstörenden Szenen.
Nur am Ende gönnt er dem Leser einen kleinen Lichtblick.

Bewertung vom 22.05.2023
Besser allein als in schlechter Gesellschaft
Altaras, Adriana

Besser allein als in schlechter Gesellschaft


sehr gut

Lebensbejahend und tröstend
Adriana Altaras, 1960 in Zagreb geboren, ist bekannt aus Film und Fernsehen. Neben ihrer schauspielerischen Tätigkeit arbeitet sie sehr erfolgreich als Regisseurin. Und mittlerweile hat sie sich auch als Schriftstellerin einen Namen gemacht. Bisher sind vier Bücher von ihr erschienen, alle haben einen stark autobiographischen Bezug. So auch ihr neuester Roman „ Besser allein als in schlechter Gesellschaft“. Der Untertitel verrät, um wen es hierin geht „ Meine eigensinnige Tante“. Dabei handelt es sich um die nunmehr 99jährige Tante Jele, zu der Adriana ein besonders inniges Verhältnis hat. Kam sie doch als vierjähriges Kind in die Obhut von Tante Jele und deren Mann Giorgio, denn ihren Eltern drohte ein Straflager in Titos Jugoslawien. Das kinderlose Paar kümmerte sich um das Mädchen. Und später, als Adriana längst mit ihren Eltern in Deutschland wohnt, verbringt sie sämtliche Ferien bei der geliebten Tante. Und auch als Erwachsene lässt sie den Kontakt nie abbrechen.
Nun besucht Adriana regelmäßig die betagte Dame, kümmert sich um deren Angelegenheiten und heult sich aus. Denn ihr Mann Georg hat sie nach dreißigjähriger Ehe verlassen, wegen einer Jüngeren. Das soll ja häufiger vorkommen, aber wen es trifft, bricht es das Herz. Bei Jele findet Adriana Gehör und Trost.
Mittlerweile lebt Jele in einem Altersheim in Mantua. Lange hatte sie ihre Selbständigkeit verteidigt, doch ein Oberschenkelhalsbruch machte ein Alleinleben unmöglich .
Doch wir haben das Jahr 2020; das Corona- Virus unterbindet jeglichen persönlichen Kontakt. Es bleibt nur das Telefon und ein bisschen skypen, kein leichtes Unterfangen, denn die Tante ist beinahe taub und blind. Auch das geplante Fest zum 100. Geburtstag kann nicht stattfinden. Aber Jele lässt sich davon nicht unterkriegen, hat sie doch die Spanische Grippe, den Krieg und die Verfolgung durch die Nazis überlebt.
Jele, 1920 in Zagreb geboren, war ein großbürgerliches Leben gewohnt. Ihre Eltern hatten es mit einem Porzellan- und Glasgeschäft zu einem gewissen Wohlstand gebracht. Doch als 1941 die Deutschen das Königreich Jugoslawien erobern, gelten auch hier die Rassengesetze. Der Vater stirbt früh an einem Herzinfarkt, Jele kommt mit ihrer Mutter und ihrer Schwester in ein KZ auf der Insel Rab. Ein italienischer Soldat rettet Jele mit einem Boot und bringt sie nach Norditalien. Aus Dankbarkeit heiratet sie ihn, obwohl sie ihn nicht liebt. Und führt fortan ein bescheidenes Dasein auf dem Dorf unter der Herrschaft der Schwiegermutter. Als Witwe kann sie endlich frei über ihr Leben verfügen.
Trotz oder vielleicht gerade wegen der vielen existenziellen Bedrohungen genießt sie das Leben mit all seinen Annehmlichkeiten. Dazu gehören für sie flotte Autos, Hunde, Cashmere- Twinsets in allen Farben, teure Gesichtscremes und gutes Essen. Dabei ist sie überzeugt, dass sie ihr hohes Alter dem Genuss von Pasta verdankt und ihre Schwester, die in Deutschland lebte, wegen ihrem Kartoffelkonsum früher gestorben ist.
Das Buch ist ein Zwiegespräch der beiden Frauen, die eine sehr alt, die andere an der Schwelle zum Alter. Die Gespräche helfen ihnen mit der Einsamkeit fertig zu werden. Adriana leidet furchtbar darunter. Denn mittlerweile sind auch die beiden erwachsenen Söhne ausgezogen und wegen Corona kann sie nicht arbeiten. Jele sieht das pragmatischer. Ihr Credo lautet „ Besser allein als in schlechter Gesellschaft“.
Die Gespräche der beiden Frauen greifen Alltägliches auf, Probleme, die das Alter mit sich bringt, aber auch Erinnerungen werden geteilt. Jele geizt nicht mit ihren Lebensweisheiten, zur Aufmunterung liefert sie Anekdoten und jüdische Witze. Mehrere Male schlägt sie dem Tod noch ein Schnippchen und als sie mit 102 Jahren in Frieden mit sich und der Welt einschläft, ist ihre Nichte bei ihr. „ Alles ist gut. Ich verzeihe dir, G‘tt.“
Die Autorin lässt wechselweise Adriana und die Tante zu Wort kommen. Sprachlich unterscheiden sich die beiden Erzählstimmen kaum, das muss man leider als Kritikpunkt anbringen. Sämtliche Kapitel, sowohl die, in denen Adriana erzählt als auch die der Tante sind in der Ich- Perspektive geschrieben. Diese Entscheidung halte ich für nicht so ideal.
Ansonsten ist „ Besser allein als in schlechter Gesellschaft“ ein unterhaltsames Buch, das trotz der verhandelten Themen wie Alter, Krankheit und Einsamkeit tröstend und lebensbejahend ist . Die Autorin schildert dabei ein weiteres Kapitel jüdischen Lebens im 20. Jahrhundert. Und sie zeichnet das liebevolle Portrait einer unerschrockenen und eigensinnigen Frau.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 02.05.2023
Das Café ohne Namen
Seethaler, Robert

Das Café ohne Namen


sehr gut

Der typische Seethaler- Sound
Robert Seethaler kehrt mit „ Das Café ohne Namen“ in seine Geburtsstadt Wien zurück. Hier hat er schon seinen erfolgreichen Roman „ Der Trafikant“ angesiedelt und hier steht das titelgebende Café.
Im Viertel um den Karmelitermarkt, „ eines der ärmsten und schmutzigsten in Wien“ entdeckt Robert Simon im Spätsommer 1966 ein heruntergekommenes Lokal, das zur Pacht angeboten wird . Er will es wagen und nach sieben Jahren Gelegenheitsarbeit auf dem Markt was Eigenes aufbauen. Vom Fach ist er nicht, aber zupacken kann er und vor Herausforderungen ist er noch nie zurückgeschreckt.
Leicht wurde ihm in seinen bisher einunddreißig Jahren nichts gemacht. Sein Vater kommt aus dem Krieg nicht mehr nach Hause und die Mutter stirbt drei Monate nach der Nachricht vom Heldentod an einer Blutvergiftung. Er kommt zu den Barmherzigen Schwestern in ein Haus für Kriegswaisen. Mit fünfzehn verlässt er die Schule, versehen mit den notwendigen Grundkenntnissen. Das und seine freundliche und entschlossene Wesensart müssen ausreichen für sein Vorhaben.
Nach Wochen voller Plackerei ist es soweit. Simon kann sein Café am Markt eröffnen. Die Karte ist nicht groß: zum Trinken gibt es Kaffee und Limonade, Soda und Bier, sowie Wein, rot und weiß; zum Essen Schmalzbrot mit oder ohne Zwiebel, Gurken und Salzstangen. Und die Gäste lassen nicht lange auf sich warten. Im Verlaufe der Zeit gibt es ein treues Stammpublikum, Marktbetreiber und Schichtarbeiter, Fabrikmädchen und kleine Angestellte. Bald braucht Simon Hilfe. Da passt es gut, dass die nunmehr arbeitslose Näherin Mila vor dem Café ohnmächtig vor Hunger umfällt. Mit ihr hat Simon eine tüchtige und zuverlässige Mitarbeiterin gefunden. Auch nach ihrer Hochzeit mit einem der Stammgäste steht ihm Mila weiter bei.
Es sind Jahre voller Arbeit, viele Stunden jeden Tag, sechs Tage die Woche, immer auch in Sorge um das wirtschaftliche Überleben. Doch Simon liebt seine Arbeit und seine Gäste. „ Simon musste lächeln, wenn er an all die verlorenen Seelen dachte, die sich jeden Tag in seinem Café zusammenfanden.“
Diese Stammgäste portraitiert Robert Seethaler grandios. Er braucht nur wenige Sätze und Szenen, um die Figuren lebendig und unverwechselbar zu machen. Da gibt es z.B. Simons langjährigen Freund, den Fleischermeister Johannes Berg, der sich fürsorglich um seinen alten Vater kümmert und kaum mehr weiß, wie er seine immer größer werdende Familie unterhalten soll. Oder die üppige Käsehändlerin Heide Bartholome, die eine verrückte Liebe mit dem treulosen Maler Mischa verbindet. Auch Milas Ehe mit dem Ringer Renee vom Heumarkt hat seine Höhen und Tiefen.
Dazwischen belauscht man immer wieder zwei ältere Frauen an ihrem Stammplatz im Café. Sie wissen den neuesten Klatsch und Tratsch und geben ihre im Laufe des Lebens gewonnenen Weisheiten zum Besten. „ Schmerzen sind bloß kleine Bosheiten des Lebens. Richtig schlimm wird es erst, wenn du sie nicht mehr spürst.“ und auf den Ratschlag, weniger auf das Äußere zu achten, kommt die Reaktion „ Bei den meisten gibt das Innere auch nicht viel her.“
Am stärksten aber berührt die Hauptfigur Robert Simon. Er ist genügsam, freut sich an kleinen Dingen. Glück bei den Frauen ist ihm allerdings nicht vergönnt. Die Liebe zu der jungen Jascha aus Jugoslawien ist kurz und unklar. Beständig bleibt dagegen die Beziehung zu seiner Zimmerwirtin, einer Kriegerwitwe. Sie unterstützt und ermutigt ihn und als sie alt und verwirrt ist, besucht Simon sie wöchentlich im Heim.
Simon ist ein Pragmatiker, der Rückschläge klaglos hinnimmt. Als ihm nach zehn Jahren der Pachtvertrag gekündigt wird, feiert er noch ein großes Fest mit seinen Stammgästen und schließt das Café.
Es sind alltägliche, meist wenig spektakuläre Schicksale, die Robert Seethaler in seinem Roman ausbreitet, Portraits von den sog. „ kleinen Leuten“. Die Weltgeschichte und das Zeitgeschehen werden nur im Hintergrund angedeutet. Da heißt es von einem ehemaligen Nazi, er habe „ sein Hakenkreuz mit der Rohrzange zum Jesuskreuz umgebogen“. Einem anderen erscheint der Einsturz der Reichsbrücke 1976 als Zeichen für den endgültigen Untergang des alten Österreichs. Der Aufbau des kriegszerstörten Wien wird nur an einzelnen Details angedeutet.
Denn dem Autor geht es weniger um ein Gesellschaftsportrait, sondern um eine Haltung dem Leben gegenüber. Scheitern und weitermachen, seinen Platz im Leben finden, anderen mit Liebe und Güte gegenübertreten.
So ist „ Das Café ohne Namen“ trotz seiner melancholischen Grundstimmung ein positives Buch. Dies zu vermitteln gelingt Robert Seethaler mit seinem ganz eigenen Sound: eine ruhige Erzählstimme und eine schnörkellose und unsentimentale Sprache.
Auch wenn sein neuester Roman nicht an mein absolutes Lieblingsbuch von Robert Seethaler „ Ein ganzes Leben“ heranreicht, so habe ich ihn doch sehr gerne gelesen.

Bewertung vom 25.04.2023
Als Großmutter im Regen tanzte
Teige, Trude

Als Großmutter im Regen tanzte


gut

Norwegisch-deutsche Geschichte
Die norwegische Journalistin und Schriftstellerin Trude Teige hatte mit ihrem Roman „ Als Großmutter im Regen tanzte“ in ihrer Heimat einen Riesenerfolg. Das Buch stand lange Zeit auf den Bestsellerlisten und war für den dortigen Buchhandelspreis nominiert. Das verwundert nicht. Verarbeitet sie doch in einer spannenden und unterhaltsamen Familiengeschichte ein lang tabuisiertes Kapitel norwegischer Historie.
Während der Besatzung Norwegens durch die Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg haben etwa 30.000 bis 50.000 Frauen eine Beziehung zu deutschen Soldaten unterhalten. Nach dem Krieg wurden diese Frauen als sog. „Tyskerjentene“, als „ deutsche Mädchen“ gebrandmarkt. Sie wurden willkürlich verhaftet und eingesperrt, sie verloren ihre Arbeit und nach ihrer Heirat wurde ihnen die norwegische Staatsbürgerschaft aberkannt. Erst 2018 hat sich der norwegische Staat dafür entschuldigt.
Dieses brisante Thema verknüpft die Autorin mit einem lange verdrängten Kapitel deutscher Geschichte, dem Massenselbstmord in der vorpommerschen Kleinstadt Demmin im Frühling 1945. Schätzungsweise 1000 Menschen nahmen sich aus Angst vor den Russen und aus Verzweiflung über den verlorenen Krieg das Leben.

Juni hat massive Probleme mit ihrem gewalttätigen Ehemann. Zuflucht sucht sie auf der kleinen norwegischen Insel, auf der sie aufgewachsen ist. Hier steht das Haus ihrer Großeltern, das sie nach dem Tod ihrer Mutter Lilla geerbt hat. Beim Aufräumen stößt sie auf ein altes Photo, das ihre Großmutter Thekla in den Armen eines deutschen Soldaten zeigt. Dazu ein Brief ihrer Großmutter, datiert mit April 1947 und einem deutschen Poststempel.
Wer war dieser Soldat und weshalb war ihre Großmutter nach Kriegsende in Deutschland?
Auf der zweiten Erzählebene erfahren wir Theklas Geschichte. Die hat sich, zum Entsetzen ihrer ganzen Familie, in den deutschen Soldaten Otto verliebt. Nach der Befreiung Norwegens will sich das Paar in Ottos Heimat niederlassen. Bevor sie mit einem Frachtschiff nach Deutschland ausreisen können, müssen sie noch unter unwürdigen Verhältnissen in einem Ausreiselager verharren. Noch in Norwegen heiraten die Beiden. Im völlig zerstörten Hamburg angekommen, werden sie mit dem tatsächlichen Ausmaß der Zerstörung Deutschlands konfrontiert. Doch Otto will weiter, zum Gutshof seiner Eltern in Demmin. Aber auch dort ist nichts mehr so, wie er es in Erinnerung hat.

Trude Teige entwickelt ihre Geschichte auf zwei Zeitebenen. Parallel zum Erzählstrang in der Vergangenheit berichtet die Ich- Erzählerin Juni von sich und ihren Recherchen. Nach und nach erschließt sich ihr das ganze Geheimnis ihrer Großmutter, das mehr ist als die verbotene Liebe zwischen einer Norwegerin und einem Deutschen.
Juni begreift nun, warum das Verhältnis zwischen Thekla und ihrer Tochter Lilla so belastet war und auch Lillas Alkoholsucht und ihre psychische Verfassung erscheinen in einem neuen Licht. Sogar sich selbst und ihre Art, mit Schwierigkeiten umzugehen, kann Juni nun besser verstehen.
Der Autorin zeigt hier auf eindrückliche Weise, welche Auswirkungen die Verdrängung von Traumata auf die nächsten Generationen haben. Das Schweigen und Verschweigen, auch wenn man damit nur seine Nächsten und sich selbst schützen will, kann nicht die Lösung sein. Unbewusst entfalten die Geheimnisse ihre Wirkung und hinterlassen Narben in den Seelen der Nachkommen.
Trude Teige hat für diesen Roman umfangreich recherchiert, ist an Schauplätze gereist und hat mit Betroffenen geredet. Und sie hat sehr viel historischen Stoff verarbeitet. Das gelingt ihr meist eindrucksvoll, so z. B. wenn sie von Ottos und Theklas Erlebnissen rund um Demmin schreibt oder das kriegszerstörte Berlin aufleben lässt. Manchmal aber musste sie dafür belehrende Passagen bemühen, um bestimmte Sachverhalte anzusprechen. Und um alles unterzubringen, was ihr wichtig war, musste sie ihre Konstruktion schon arg bemühen.
Trotzdem hat mich die Geschichte der Großmutter stark berührt und mit viel Anteilnahme und Spannung habe ich ihren schweren Lebensweg verfolgt.
Blasser dagegen bleibt Lilla, Theklas Tochter. Und die Geschichte um Juni war leider etwas zu vorhersehbar und etwas klischeehaft.
Auch wenn mich die literarische Umsetzung etwas unbefriedigt zurückließ, habe ich den Roman doch gerne gelesen. Ich empfehle ihn allen, die Familiengeschichten mit historischem Hintergrund mögen.
Ich habe zuvor schon von der problembelasteten Beziehung zwischen norwegischen Frauen und deutschen Soldaten gewusst, auch vom Massensuizid in Demmin . Doch für manche Leser mag das neu gewesen sein. Diese Wissenslücke zu schließen ist ein Verdienst dieses fesselnden Unterhaltungsromans.

Bewertung vom 19.04.2023
Seemann vom Siebener
Frank, Arno

Seemann vom Siebener


ausgezeichnet

Das Freibad als Soziotop
Arno Frank hat mich schon mit seinem Erstling „ So, und jetzt kommst du“, einem autobiographisch grundierten Roman, restlos überzeugt. Dort schickte er eine Familie mit einem Hochstapler als Vater auf ihrer Flucht durch halb Europa.
In seinem neuen Buch dagegen beschränkt er sich in Ort und Zeit „ Seemann vom Siebener“ spielt an einem einzigen Tag in einem Freibad. Wie in einem Kammerspiel lässt er hier unterschiedliche Figuren aufeinandertreffen.
Es ist einer der letzten heißen Sommertage. Das treibt einige in Ottersweiler, einer Kleinstadt in der pfälzischen Provinz, ins heimische Freibad. Renate, kettenrauchend und kreuzworträtsellösend, sitzt an der Kasse. An ihr ziehen alle vorbei, Stammgäste wie Isobel Trautheimer und andere, die eher selten kommen, wie Josefine. Über allen wacht Kiontke; als Bademeister Herr über den Platz und zuständig dafür, dass alles sauber ist und funktioniert.
Arno Frank erzählt wechselweise aus verschiedenen Perspektiven. Dabei gewinnen die Figuren langsam an Profil, bekommen ihre eigene Geschichte.
Isobel, frühere Gymnasiallehrerin, kennt beinahe alle, die hierherkommen. Und sie kennt das Freibad von Anbeginn, hat doch ihr verstorbener Mann das Bad entworfen. Sie ist körperlich noch fit, schwimmt täglich ihre Runden, doch ihr Kopf lässt nach. Immer wieder hat sie Aussetzer, die sie zu verbergen sucht.
Lennart, weit gereister und berühmter Photograph, ist zur Beerdigung seines früheren Kumpels Max in seine Heimatstadt zurückgekehrt. Beruflich ausgebrannt steht er an einem Kipppunkt seines Lebens. Ein Besuch im Schwimmbad weckt Erinnerungen an früher. Und hier trifft er auf Josefine, seine Jugendliebe. Doch auch die fragt sich gerade, wie ihr Leben weitergehen soll, nach dem Unfalltod ihres Mannes.
Die Erzieherin Melanie kommt mit ihrer Kindergartengruppe, um heute mit denen das „ Seepferdchen“ abzulegen. Und dann ist da noch das namenlose Mädchen, das an diesem Tag unbedingt den „Seemann“ vom Siebener machen möchte. Und das, obwohl der Siebener - Turm seit jenem Unglück gesperrt ist.
Dieser Unfall liegt wie eine dunkle Wolke über dem ansonsten wolkenlosen Tag. Nur in Andeutungen erfährt der Leser immer mal wieder etwas darüber und erst am Ende wird man Genaueres wissen und mit viel Aufmerksamkeit auch hinter die erzählerische Pointe kommen.
Kiontke z.B. fühlt sich verantwortlich und macht sich Vorwürfe, obwohl ihn keine Schuld daran trifft. Und das Mädchen hat sich seit jenem Tag völlig von der Welt zurückgezogen. Sie ist auch die Einzige, bei der Arno Frank aus der Ich- Perspektive erzählt. Bei allen anderen wendet er die personale Erzählform an.
Beide Erzählperspektiven erlauben ihm aber, ganz dicht an seinen Figuren zu sein.
Doch neben dieser Tragödie geht es auch um kleinere und größere Dramen im Leben der handelnden Figuren. Das alles wird mit leichter Hand und viel Humor und einer gewissen Melancholie erzählt. Dabei beweist Arno Frank Empathie, ein Gefühl für Spannung und sprachliches Können. So gibt er z.B. jeder seiner Figuren einen eigenen unverwechselbaren Ton. Und beinahe jede hätte das Potential für einen eigenen Roman.
Am Ende bleibt zwar manches offen; es liegt nun an der Phantasie des Lesers, sich auszumalen, wie es weitergehen mag.
Arno Frank versteht es auch meisterhaft, die Atmosphäre eines Sommertages im Freibad heraufzubeschwören. Man hört das Gelächter und Schreien vom Beckenrand, das Plätschern der Duschen, riecht die Mischung aus Sonnenöl und Pommes - Geruch, schmeckt die vertrauten Aromen der alten Eissorten vom Kiosk. Das weckt sicherlich bei vielen Lesern nostalgische Gefühle.
Dabei ist das Buch auch eine Liebeserklärung an das gute, alte Freibad, das man heute beinahe nur noch in der Provinz antrifft. Ohne großen Schnickschnack, ohne irgendwelchen Wellness - oder Fun- Bereich. Doch sein Ende scheint auch in Ottersweiler in greifbare Nähe gerückt zu sein.
„ Seemann vom Siebener“ ist ein unterhaltsamer, aber keineswegs banaler Roman, dem ich viele Leser wünsche.
Der „Seemann“ ist übrigens ein Kopfsprung, bei dem die Arme hinter dem Rücken bleiben.

Bewertung vom 03.04.2023
Samuels Buch
Finzi, Samuel

Samuels Buch


sehr gut

Kindheit und Jugend in Bulgarien


Samuel Finzi, auf den großen deutschsprachigen Bühnen wie auch in Film und Fernsehen zu Hause, hat nun seinen ersten autobiographischen Roman vorgelegt.
Schon das Cover weckt Aufmerksamkeit: ein Photo des jungen Samuel beim Kopfstand inmitten einer Freundesclique. Allerdings steht das Bild Kopf, als trüge er die Welt.
Samuel, genannt Sancho, geboren 1966 in Plodiv, Bulgarien, wuchs in einer jüdischen Künstlerfamilie auf. Der Vater ist ein bekannter Theaterschauspieler, die Mutter eine renommierte Pianistin. Das künstlerische Milieu prägte von klein auf sein Leben. Schauspieler, Musiker und Theatermacher verkehrten im Haus. Theateraufführungen, Konzerte, Museumsbesuche und das Kino gehörten zum Alltag. Liebevoll und voller Dankbarkeit schreibt Samuel Finzi über seine Eltern und Großeltern.
Er erzählt von Ferien am Meer, von einem Parisaufenthalt bei der Verwandtschaft, von frühen Verliebtheiten und vom Schulalltag. Weil die Mutter ihn für unterfordert hält, meldet sie ihn in einer Experimentellen Schule an. Die steht unter dem besonderen Schutz der Kultusministerin, der Genossin Schiwkowa, Tochter von Todor Schiwkow, dem bulgarischen Staatsoberhaupt. Dass sie Jahre später unter mysteriösen Umständen umkommt - eventuell war es ein Auftragsmord - erfahren wir auch im Buch.
Überhaupt, und das ist für mich von großem Interesse, beschreibt Samuel Finzi an vielen Beispielen, was es heißt, in einem sozialistischen Staat aufzuwachsen. Schon früh ist bei ihm die Sehnsucht nach dem Westen, nach der Freiheit vorhanden. Die Erfahrungen bei seiner zweijährigen Wehrpflicht bestätigen ihn darin. Es wir ihm zusehends zu eng in diesem Land.
Ende der 1980er Jahre werden die Reisebedingungen gelockert, so dass Finzi seine in Bulgarien begonnene Schauspielausbildung im Westen weiterführen kann, erst in Paris, dann in Berlin.
Das Buch endet im Dezember 1989 , der dreiundzwanzigjährige Samuel Finzi landet in Berlin- Schönefeld.
Das Buch liest sich sehr unterhaltsam. Gespickt mit zahlreichen Anekdoten, voller Witz und Ironie schreibt Finzi über seine Kindheit und Jugend; uneitel, doch gerne auf eine Pointe hinzielend. Seine genauen Beobachtungen sorgen für ein anschauliches Bild vom real existierenden Sozialismus in Bulgarien. Das Künstlermilieu, in dem sich Finzi bewegt, ist ein angenehmes Kontrastprogramm dazu. Es ist freilich kein gefährliches Dissidentenleben, das Nonkonforme zeigt sich eher in kleinen Dingen und im Denken.
Mit leichter Hand begibt man sich mit diesem Roman auf eine Zeitreise in das Bulgarien der 1970er und 80er Jahre, lernt dabei einen sympathischen Künstler näher kennen und erfährt viel Wissenswertes über ein Land, das nicht so sehr in unserem Fokus liegt.
Vielleicht erfahren wir bald, wie es weiterging im Leben von Samuel Finzi.

Bewertung vom 01.04.2023
Josses Tal
Rehse, Angelika

Josses Tal


sehr gut

Kindheit im Dritten Reich

Angelika Rehse hat mit über 70 Jahren ihren Debutroman vorgelegt „ Josses Tal“. Die Eltern der Autorin stammen aus Schlesien und sie selbst wuchs zwischen Heimatvertriebenen auf. Von ihnen hörte sie Geschichten von der alten Heimat und dort in Schlesien hat sie auch ihren Roman angesiedelt. Eine intensive Recherche vor Ort, in Archiven und Bibliotheken ging dem Schreiben voraus.
Die Rahmenhandlung setzt ein im Jahr 2004. Helen ist ins norwegische Lillehammer gereist, um Näheres über den Tod ihrer Urgroßmutter zu erfahren. Ein Hinweis lieferte eine Postkarte vom September 1945, geschrieben von Josef Tomulka. Dieser Josef, genannt Josse, lebt seit langem als Einzelgänger in diesem abgeschiedenen Tal in Norwegen und aus dessen Perspektive wird uns sein Leben
geschildert.
„Also die Leinwand, auf der mein Leben gemalt ist, war von vornherein nicht weiß. Sie war vergilbt und rissig und wurde im Laufe der Zeit mit häuslichen Brauntönen bemalt.“
Josse kommt als uneheliches Kind zur Welt. Im Dorf wird er gehänselt und für seinen Großvater ist die Tatsache eine unverzeihliche Schande, die er den Jungen täglich spüren lässt. Auch von der Mutter und der Großmutter gibt es keine Zuwendung, keine liebevolle Geste. Im Jahr 1930 zieht der fünfjährige Josse mit seiner Mutter und den Großeltern in das kleine Dorf Dorotheenthal in Niederschlesien. Am neuen Wohnort lässt sich der Makel des unehelichen Kindes vielleicht leichter verheimlichen.
Und hier findet der Junge in Wilhelm Reckzügel, einem Medizinstudenten, einen Beschützer und Fürsprecher. Josse fühlt sich zum ersten Mal in seinem Leben geschätzt und geliebt. Auch Wilhelms Familie kümmert sich um den vernachlässigten Jungen und nach dem Tod seiner Mutter nehmen sie ihn bei sich auf.
Wilhelm ist schon früh überzeugter Nazi, marschiert in SA- Uniform durchs Dorf und versucht Josse parteikonform zu beeinflussen. Er nimmt den Jungen mit nach Berlin, wo dieser stark beeindruckt ist vom Spektakel der Bücherverbrennung. Und als Hitlerjunge mit seiner Kluft fühlt sich Josse endlich respektiert und dazugehörig. „ Ab heute würde ihn keiner mehr spöttisch ansehen,…Ab heute würde er einer von ihnen sein.“
Wilhelm, mittlerweile aufgestiegen in der NS- Hierarchie - kein einfacher SA- Mann mehr, sondern Hitlers Schutzstaffel, der SS, zugehörig - will aus seinem Dorf ein Vorzeigeort machen, frei von etwaigen Feinden des Reiches. Dabei soll ihm Josse helfen. Der Junge wird bereitwillig zum Spitzel, belauscht Nachbarn und Bekannte und meldet jede kritische Äußerung, jedes fehlende Hitlerbild, jedes auffallende Verhalten. Skrupel hat er anfangs keine. Wie gern macht er alles, was Wilhelm, sein großer Freund und Wohltäter, von ihm verlangt.
Doch bei seinen Spitzelaktionen bekommt er vieles zu hören und zu sehen , was ihm zu denken gibt. Und mit zunehmenden Alter sieht er auch Wilhelm kritischer, fühlt sich missbraucht als „ Handlanger“. Doch es wird nicht leicht, sich aus Wilhelms Machtbereich zu lösen.

Der Roman zeigt eindrucksvoll, wie leicht Menschen zu manipulieren sind. Gerade bei jungen, noch ungefestigten Menschen ist es ein Leichtes, ihr Vertrauen zu gewinnen und sie in bestimmte Richtungen zu führen und zu lenken. In diesem speziellen Fall ist es umso perfider, weil Josse ein Kind war, das aufgrund seiner lieblosen Umgebung umso dankbarer auf jede Freundlichkeit reagiert hat.
Doch die Autorin will das nicht als Rechtfertigung verstanden wissen. Josse erkennt, spät erst zwar, dass sein Tun falsch war und zieht die Konsequenzen. Noch im Alter trägt er schwer an der Schuld, die er auf sich geladen hat.

Der Roman liest sich leicht und bringt uns trotzdem sehr eindringlich die gesellschaftliche Entwicklung in Nazi- Deutschland nahe. Anders als in der Großstadt bekommen die Menschen in Dorotheental die aktuellen Geschehnisse nur von weitem mit. Doch die schleichenden Veränderungen sind auch im Dorf spürbar. Die Kinder machen begeistert bei der Hitler- Jugend mit. In der Schule gilt ein anderer Lehrplan und im Dorf bestimmt der Ortsgruppenleiter. Wer sich dagegen stellt, wird zum Außenseiter und gerät ins Visier der örtlichen Nazis.

Das Buch packt den Leser von Anfang an. Gebannt und voller Empathie verfolgt man das Schicksal dieses Jungen, erlebt seine Entwicklung vom Kind zum Jugendlichen. Mögen manche Wendungen auf den ersten Blick etwas zu konstruiert sein, werden sie doch glaubhaft und nachvollziehbar geschildert.
„ Josses Tal“ ist ein lesenswertes und wichtiges Buch, das ich gerne, auch jungen Lesern, empfehle.
Dem Roman ist ein Zitat von Hannah Arendt vorangestellt: „ Die traurige Wahrheit ist, dass das Schlimmste von den Menschen begangen wird, die sich niemals dazu entscheiden, gut oder böse zu sein.“

Bewertung vom 27.03.2023
Der weiße Fels
Hope, Anna

Der weiße Fels


sehr gut

Ein mythischer Ort
Der titelgebende weiße Fels ragt vor der Pazifikküste Mexikos aus dem Meer. Für die Wixarika, einer indigenen Volksgruppe Mexikos, ist es ein heiliger Ort. Hier liegt für sie der Ursprung des Lebens. „ An diesem Ort verliebte sich die Formlosigkeit zum ersten Mal in die Form. Und so, genau so wurde die Welt geboren, an jenem Ort und zu jener Zeit.“ so heißt es im Roman.
Dieser mythische Ort ist der Fixpunkt für vier Erzählungen, die die englische Autorin Anna Hope zu einem Roman verwebt hat. Dabei begibt sich der Leser auf eine Zeitreise, die beinahe 250 Jahre umfasst. Alle Geschichten basieren auf tatsächlichen Ereignissen.
In „ Die Schriftstellerin“ reist im Jahr 2020 eine namenlose Frau, die sehr viele Parallelen zur Autorin aufweist, gemeinsam mit ihrem Ehemann und der dreijährigen Tochter nach San Blas, diesem kleinen Fischerdorf am Pazifik. Hier möchten sie dem weißen Felsen ein Opfer bringen, als Dank für die langersehnte Mutterschaft. Die Fahrt hierher war anstrengend, vor allem für das Kind. Und für das Ehepaar wird es die letzte gemeinsame Reise sein. Danach werden sie sich trennen.
Im Jahr 1969 verbringt der „ Sänger“, den man eindeutig als Jim Morrison, den Frontman der „ Doors“ identifiziert, ein Wochenende am gleichen Ort. Hierher ist er geflüchtet vor den Anforderungen seiner Bandkollegen, vor aufdringlichen Fans und vor den amerikanischen Behörden, in deren Visier er geraten ist. Mit Hilfe von Alkohol und Drogen möchte er an diesem spirituellen Ort, den weltberühmten Star hinter sich lassen, wieder zu sich selbst finden.
Im Jahr 1907 werden hierher zwei Mädchen aus dem Stamm der Yoemem zur Zwangsarbeit verschleppt. In ihrer Heimat in Arizona muss ihr Volk Platz machen für Expansionsansprüche der Amerikaner. Und hier dürfen sie mit ihrer Sklavenarbeit den Fortschritt und den Reichtum Mexikos vorantreiben.
Im 18. Jahrhundert war dieser Ort strategischer Ausgangspunkt für die spanischen Kolonisatoren. Im Auftrag des spanischen Königs soll im Jahr 1775 ein Kapitänleutnant von San Blas aus die amerikanische Westküste erkunden und in Besitz nehmen.
Die Autorin arbeitet sich kapitelweise in die Vergangenheit zurück. Dann bekommt der Fels selbst auf einer Seite eine Stimme und danach geht es rückwärts bis in die Gegenwart. Die beiden Kapitel über die Schriftstellerin bilden somit die Klammer des Romans.
Jede der Erzählungen steht für sich. Was sie eint ist ihr jeweiliger Bezug zum weißen Felsen. Ist er für die eine Adressat eines Dankesopfers, bittet ihn Jahrhunderte zuvor ein junger Spanier um Vergebung. Erhofft sich das indigene Mädchen vom Felsen Schutz und Rettung, soll er dem Sänger Ruhe und Erlösung bringen. Für alle ist dieser Felsen mehr als eine Gesteinsformation.Er bekommt einen eigenen Charakter, zeigt sich mit menschlichen oder tierischen Zügen.
Doch nicht nur der Felsen ist ein durchgehendes Motiv. Es geht immer wieder um Ausbeutung, um Zerstörung und Aneignung.
Gleich zu Beginn fragt sich die Schriftstellerin, welches Recht sie hat, sich einer uralten Religion zu bedienen, um ihre ganz privaten Wünsche zu äußern. Und als sie an diesem heiligen Ort auf Geschichten stößt, die sie für ihre Arbeit als Autorin benutzen will, sieht sie sich selbst in einer langen Tradition. „ Was will sie hier, wenn nicht ebenfalls schürfen? Sich am Rohmaterial der Geschichte bedienen und aus den Schmerzen, der Mühsal und den unvorstellbaren Verlusten eine Geschichte formen, die sich verkaufen lässt. Sie ist genauso korrupt wie alle anderen. Genauso ausbeuterisch wie jene, die vor dreihundert, vierhundert oder fünfhundert Jahren auf der Suche nach Gold an diesen Ort kamen.“
Anna Hope hat mit „ Der weiße Fels“ einen klugen, reflektierten Roman geschrieben, der zeitlose Fragen stellt. In einer z.T. nüchternen, dann wieder poetischen Sprache entwickelt sie ihre Geschichten, entwirft Figuren, die in Erinnerung bleiben und schafft Bilder voller Eindrücklichkeit und Schönheit. Auch wenn mich nicht jedes Kapitel gleichermaßen erreichen konnte ( am wenigsten hat mich die Geschichte um den Sänger interessiert), so habe ich das Buch doch sehr gerne gelesen.
Der Zukunftsangst der Schriftstellerin, ihrer Zerrissenheit und Unsicherheit stellt sie die Kraft der Liebe gegenüber. Auch wenn sie ihrer Tochter keine Sicherheit und keine unbeschwerte Zukunft bieten kann, so kann sie von ihrem Kind lernen, das Leben im Augenblick zu leben.