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amara5

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Insgesamt 123 Bewertungen
Bewertung vom 15.11.2022
Frau mit Messer
Byeong-mo, Gu

Frau mit Messer


ausgezeichnet

Angeschlagene Frucht
Die südkoreanische Autorin Gu Byeong-mo hat mit „Frau mit Messer“ eine außergewöhnliche, soghafte und höchst spannende Geschichte zwischen tiefsinnig-philosophischem Gesellschaftsroman und rasanten Thriller erschaffen.

Eine alternde, unauffällige Frau lebt alleine mit ihrem Hund Deadweight in einer beengten Wohnung einer Großstadt – ihr Beruf: Auftragskillerin. Deckname: Hornclaw. Über eine Agentur erhält sie ihre brutalen Aufträge zur „Schädlingsbekämpfung“, möchte sich aber bald zur Ruhe setzen und ihre legendäre Karriere beenden – doch bei ihren letzten Schritten holen sie die Schatten der Vergangenheit ein und Hornclaw, die es gewohnt war, ihre Gefühle zu verstecken und kaltblütig zu töten, wird ihre aufkommende Zuneigung zu Dr. Kang und seiner Familie zum Verhängnis, das sie angreifbar macht. Auch merkt sie, dass ihr scharfer Verstand und tadellose körperliche Fitness langsam nachlassen.

Mit schwarzem Humor und tiefgründigem Feingefühl für die prekäre Rolle einer älteren Frau in Südkorea ist „Frau mit Messer“ ein messerscharfes Psychogramm einer Frau, die sich aus der Armut nach oben gekämpft hat und nun im Kapitalismus, der sie gnadenlos abhängt, „Schädlinge“ eliminiert. Der Plot ist äußerst packend, intelligent konstruiert und wartet am Ende mit einem fulminanten und detailliert gewaltvollen Showdown mit Hornclaws Gegenspieler Bullfight. Die prägnanten gesellschaftskritischen Aspekte der modernen koreanischen Gesellschaft werden gekonnt mit rasanten Thriller-Elementen und treffsicheren Dialogen sowie Hornclaws bissig-klugen Gedanken zum Älterwerden in Korea verwoben – auch die Rückblicke in die turbulente Vergangenheit mit Mentor Ryu sowie in die schwierige Kindheit der Killerin sind bewegend und ausgewogen akzentuiert.

„Frau mit Messer“ ist ein literarisches Highlight aus Südkorea – intelligent, gewitzt, gesellschaftskritisch und mit nervenaufreibender Spannung bis zum Schluss! Einzig und alleine der koreanische Originaltitel, der übersetzt etwa „angeschlagene Frucht“ bedeutet, wäre noch treffender gewesen – fängt er doch metaphorisch das gebrechliche Älterwerden samt Abgehängtsein, das Aufbrechen von Gefühlen und die Verdrängung der traditionellen Marktstände in Südkorea durch große Supermärkte besser ein.

Bewertung vom 26.10.2022
Meine bessere Schwester
Wait, Rebecca

Meine bessere Schwester


sehr gut

Komplexe Familien-Traumata
In „Meine bessere Schwester“ seziert die Autorin Rebecca Wait scharfsinnig und mit subtilen Humor die komplexen Dynamiken einer Familie, die unter toxischen Verstrickungen und generationsübergreifenden Traumata leidet. Dabei kommen facettenreich alle Familienmitglieder Stück für Stück zu Wort und ihre seelischen Verletzungen werden detailliert sowie mit Rückblicken untersucht.

Alice und Hanna sind Zwillingsschwestern, aber alles andere als unzertrennlich und sehr unterschiedlich – seit Jahren sprechen sie nicht mehr miteinander und treffen erstmals wieder bei der Beerdigung ihrer an Schizophrenie erkrankten Tante Katy aufeinander. Auch der Kontakt zu Mutter Celia und Bruder Michael ist für Hanna abgerissen und während Rebecca Wait feinfühlig die Lebenswege der Protagonisten nachzeichnet, wird diese Spaltung und mögliche Familienzusammenführung der berührend-humorvolle Plot der Geschichte ausmachen.

„Es tut mir leid, dass du dich so fühlst“ lautet der englische Originaltitel dieser flüssig und klug geschriebenen Tragikomödie und dieser macht deutlich, worauf es hinausläuft: Die Familie lernt, sich langsam zu öffnen und ihre Finger in die schmerzenden Wunden zu legen. Mutter Celia hat selbst an der psychischen Erkrankung ihrer Schwester und der Vernachlässigung durch ihre Eltern gelitten, gibt aber ihre alte Verletzungen in Form von emotionalen Erpressungen und Zwanghaftigkeit an ihre Kinder weiter – nicht jedes wird gleich geliebt und schnell verurteilt; der Ehemann und Vater verlässt die Familie. Und so entwickeln sich die Geschwister in diesem familiären Geflecht sehr unterschiedlich: Während Hanna selbstbewusst ist, ist für die schüchterne Alice das Leben eher von Hindernissen und Einsamkeit geprägt. Sie klammert auch noch später ungesund an der narzisstischen Mutter, will ihr alles Recht machen und hat Angst vor dem Scheitern – was ihr Leben zum Stillstand gebracht hat.

Die klar und scharf beobachtete Familienaufstellung spickt Rebecca Wait noch mit lustigen Alltagsbeobachtungen, was die ernsten Themen auflockert und ein authentisch-rundes Gesamtbild ergibt. Jeden ihrer Protagonisten zeichnet Wait dicht und mit viel Liebe zum Detail – der Leser fiebert empathisch mit Hanna, Alice und ihrem weiteren möglichen Lebensweg mit. Eine außergewöhnliche, pfiffige und lebensnahe Geschichte über dysfunktionale Familienstrukturen mit Tiefgang und Witz!

Bewertung vom 18.10.2022
Die rätselhaften Honjin-Morde / Kosuke Kindaichi ermittelt Bd.1 (eBook, ePUB)
Yokomizo, Seishi

Die rätselhaften Honjin-Morde / Kosuke Kindaichi ermittelt Bd.1 (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Nostalgischer Kriminalfall
Seishi Yokomizo war einer der berühmtesten Kriminalroman-Autoren Japans – mit „Die rätselhaften Honjin-Morde“ erscheint nun in der präzisen und gelungenen Übersetzung von Ursula Gräfe der erste Band der Kindaichi-Reihe endlich auf Deutsch.

Im Jahre 1937 heiratet der älteste Sohn Kenzo der angesehenen, wohlhabenden Ichiyanagi-Familie im japanischen Ort Okamura seine Verlobte Katsuko auf dem herrschaftlichen Anwesen. Doch nach der traditionellen Zeremonie und Feier dann der große Schrecken in der Nacht: Nach auffälligen Geräuschen sowie Koto-Melodien im abgeschlossenen Raum des frisch vermählten Paares finden Angehörige das Ehepaar mit Stichwunden ermordet darin auf. Wie kann das nur möglich sein? Im Schnee befinden sich keine Spuren, doch mittendrin steckt die Tatwaffe, ein blutverschmiertes Schwert. Und Tage zuvor hat sich schon ein ominöser Landstreicher mit nur drei Fingern und einer Maske im Dorf herumgeschlichen und sich nach dem Anwesen erkundigt. Doch auch die Angehörigen der Familie Ichiyanagi halten zwar ihr Honjin-Erbe hoch, verhalten sich aber sehr seltsam und sind von exzentrischen Charakteren gekennzeichnet. Ein pfiffiger und klassischer Kriminalfall mit einem spannenden Locked-Room-Mysterium nimmt seinen wendungsreichen Lauf.

Erzählt wird aus der humorvoll-detaillierten Perspektive eines Krimiautors, der den Fall nochmal als wahre Geschichte nacherzählt und dabei auch gerne den Leser direkt bei seinen Gedankengängen anspricht. Den verzwickten Fall auflösen soll zuerst Kommissar Isokawa, der aber vor einem Rätsel steht und bald scharfsinnig-kluge Unterstützung von dem unkonventionellen, jungen Privatdetektiv Kosuke Kindaichi erhält – dieser hat einen außergewöhnlichen Lebenslauf mit Drogenvergangenheit und fehlender Ausbildung, was seinem sehr schlauen Ermittler-Geist aber wenig schadet. Mit stürmischer Vogelnest-Frisur und einem sympathischen Stottern stochert er in jeder Kleinigkeit, kombiniert blitzschnell seine Geistesblitze und löst die vertrackten Honjin-Morde.

Bereits 1973 in Japan erschienen, sind dort dem ersten Band 76 weitere erfolgreiche Folgen rund um den verschroben-blitzgescheiten Privatdetektiv Kosuke Kindaichi erschienen. Eingebettet in viel nostalgischem Lokalkolorit, strengen japanischen Traditionen und szenischer Atmosphäre zu dieser Zeit, taucht der Leser tief in eine Zeitreise und lernt etwas über die japanische Kultur hinzu. Der trickreiche Krimi lädt zum Miträtseln ein und wartet mit einer zwar leicht unrealistisch-überkonstruierten, aber sehr klaren Auflösung. Ein Personenregister und Glossar am Ende des Buches helfen, sich bei den vielen Namen und japanischen Begriffen zurecht zu finden. Zudem hat der Rätsel-Krimi trotz seines älteren Erscheinungsjahres einen modern-frechen Ton und spielt auch mit der Reflexion über das Krimigenre an sich. Ein solider Klassiker mit raffinierter Handlung, gut gezeichneten Charakteren und japanischen Traditionen.

Bewertung vom 27.09.2022
Teen Couple Have Fun Outdoors
Jayan, Aravind

Teen Couple Have Fun Outdoors


sehr gut

Verhängnisvolle Aufnahmen

Der junge talentierte Autor Aravind Jayan erzählt in seinem humorvoll-scharfsinnigen Debüt „Teen Couple Have Fun Outdoors“ von einer turbulenten Familienkrise im südindischen Trivandrum, Kerala – dabei bestimmen vor allem Scham, Ehrgefühl und sturköpfige Moralvorstellungen das Handeln der vier Familienmitglieder aus der Mittelklasse.

Was sollen nur die Leute denken? Besonders in Indien herrschen noch immense Ansprüche auf einen guten Ruf und gesellschaftliches Ansehen im Umfeld – so ist es nicht verwunderlich, welche große Zerrissenheit zwischen Tradition und Moderne auftaucht, als ein Sex-Video des Sohnes online rasant die Runde auf diversen Internet-Portalen macht. Eltern Amma und Appa sind außer sich, als sie die prekären Aufnahmen von Sreenath mit seiner Freundin Anita im Freien sehen und werfen den 20-jährigen Sohn kurzerhand aus dem gemeinsamen Haus. Zu tief sitzen die große Scham und das verletzte Ehrgefühl, das auch das neue Statussymbol, der polierte weiße Honda Civic vor der Tür, nicht mehr retten kann. Dabei ist doch im Stadtteil Blue Hills alles so sauber und in ordentlichen Bahnen.

Sreenaths zwei Jahre älterer Bruder und der pfiffig-kluge Ich-Erzähler dieser eindringlichen Geschichte hat einen scharfbeobachtenden Blick auf den Konflikt sowie den neuen, schnelllebigen Technologien samt Internet und versucht geschickt zwischen Sree und Eltern zu vermitteln, wo es nur geht. Seine authentisch-frische Stimme trägt den beschwingt erzählten Roman trotz sehr ernstem Thema und sprüht vor intellektuellem Witz und bittersüßem Charme. Er zieht Vergleiche zu Kafka und Tolstoi, interessiert sich leidenschaftlich für die Kultur und schreibt journalistische Artikel – nebenbei erfährt der interessierte Leser noch jede Menge über das moderne, aufgeschlossene Indien im Konflikt mit alteingewachsenen Traditionen samt Klassensystem und die Tücken des Klatschsystems im Internet samt Social Media. Und am Ende lässt sich der Ich-Erzähler ein wenig von dem rebellischen Charakter des Bruders anstecken.

Die geistvoll erzählte Geschichte über einen indischen Generationen-, Moral- und Statuskonflikt besticht durch die unaufgeregte, detaillierte Schilderung der Geschehnisse innerhalb des jungen Paares und der Familien und ihren teils urkomischen Versuchen, das gesellschaftliche Ansehen und die öffentliche Meinung über ihr Leben wieder herzustellen. Dabei könnte man dem Plot unterstellen, dass eigentlich wenig Aufregendes passiert und doch entfaltet „Teen Couple Have Fun Outdoors“ mit dieser indischen Kleinstadt-Tragikomödie eine packende Sogwirkung mit vielen faszinierenden Einblicken und es bleibt spannend, welche literarischen Werke noch von Aravind Jayan folgen werden!

Bewertung vom 25.09.2022
Ich verliebe mich so leicht
Le Tellier, Hervé

Ich verliebe mich so leicht


sehr gut

Verrückte Liebesobsession
Die schmale Novelle „Ich verliebe mich so leicht“ vom französischen Bestseller-Autor Hervé Le Tellier besticht durch seine lakonische und lebenskluge Erzählfreude voller literarischen und filmischen Bezügen – über einen älteren Mann, der in verrückter Liebesobsession seiner 20 Jahre jüngeren Geliebten in ein abgelegenes, schottisches Dorf folgt.

Der namenlose und von der Liebe verdrehte und etwas aufdringliche Protagonist wird von Le Tellier als Held umschrieben und ist nicht gerade vom Glück verfolgt – seine Anreise beginnt schon mit einem verspäteten Flug und auch seine Avancen laufen ins Leere, das Treffen mit der Angebeteten in den Highlands endet in einem frustrierten Liebesaus. Das Ganze ist eigentlich schnell erzählt, doch Le Tellier lässt in 12 humorvoll-scharfsinnigen Kapiteln die kleine Geschichte durch seine leichtfüßige und doch sehr treffsichere Sprache glänzen, die diesmal zwar etwas altmodisch angehaucht ist, aber jeder Satz sowie jede Andeutung sitzen perfekt.

Feinfühliger Humor trifft hierbei auf eine auktoriale Erzählperspektive, die durch faszinierenden Variantenreichtum und pfiffigen Kapitelsynopsen viel Lesefreude bereitet. Und auch zwischen den Zeilen verstreut Le Tellier zwischen den ironischen Reflektionen des Helden und den detaillierten Beobachtungen in der schottischen Natur allerhand schlaue Querverweise, die dazu einladen, das schmale Buch immer wieder zur Hand zu nehmen. Das einzige Manko: Es ist viel zu schnell zu Ende!

Bewertung vom 01.09.2022
Sanfte Einführung ins Chaos
Orriols, Marta

Sanfte Einführung ins Chaos


sehr gut

Drehbuch des Lebens
In ihrem neuen Roman „Sanfte Einführung ins Chaos“ zeigt die erfolgreiche Autorin Marta Orriols eindringlich und szenisch auf, welche Gefühlskapriolen ein junges Pärchen ereilt, die über einen Schwangerschaftsabbruch nachdenken.

Seit zwei Jahren sind die Anfang-30er Marta und Dani ein modernes Paar in Barcelona – sie arbeiten in kreativen, aber sehr unsicheren Jobs als Drehbuchautor und Fotografin. Während Dani im Arbeitsleben täglich Comedy-Serien schreibt, hat er mit dem Drehbuch seines eigenen Lebens seine Schwierigkeiten: Die Möglichkeit, Vater zu werden versetzt ihn in seine familiäre Vergangenheit, die für ihn noch verarbeitet werden muss. Marta ist sich sicher, dass sie das ungeborene Kind nicht möchte, hat Tendenzen nach Berlin zu ziehen und fühlt sich noch zu jung – das Leben hat noch so viele Möglichkeiten parat und das ernste, festgelegte Erwachsenwerden kann warten. Die Entscheidungsfindung jagt einen Riss in die Verbundenheit und Beziehung – beide müssen sich über einiges klar werden, zu sich wiederfinden, um sich dann wieder zu verbinden.

Filmreif, atmosphärisch und mit einer klug-poetischen Sprache mit pointierten Szenen und Sätzen verankert Orriols nun den auktorial erzählten Plot auf die sechs Tage vor dem Termin zum Schwangerschaftsabbruch. Aus wechselnden Perspektiven – wobei Dani den größeren Teil erhält – blickt sie tief und feinfühlig in die ambivalenten und erschütternden Gefühls- und Gedankenwellen der beiden jungen Menschen. Mit einem Gespür für intime Details, Gesten und bildhafte Szenerien wechseln Vergangenheit mit der schwierigen Zumutung, eine gute Entscheidung im Heute zu finden. Dabei zeichnet sie ihre sympathischen Charaktere samt Innenleben sehr plastisch und greifbar – ihre Ängste, Sorgen und Zweifel.

Auch wenn dem Roman hier und da etwas mehr Tiefgang gut getan hätte – Orriols hat eine präzise beobachtete und lebenskluge Geschichte mitten aus dem Leben und seine unzähligen Möglichkeiten geschaffen.

Bewertung vom 14.08.2022
Susanna
Capus, Alex

Susanna


gut

Ein wagemutiger Aufbruch

Der Bestseller-Autor Alex Capus mischt auch in seinem neuen Roman gekonnt historische Fakten mit Fiktion und erzählt atmosphärisch dicht von der Porträt-Malerin Susanna Faesch, spätere Caroline Weldon, im Aufbruch.

In mehreren szenischen und bildgewaltigen Episoden fächert der Autor auf knapp 300 Seiten das turbulente Leben der Protagonistin Susanna auf – angefangen von ihrer Kindheit Anfang der 1840er-Jahre im wohlhabenden aristokratischen Elternhaus in Kleinbasel bis hin zur emanzipierten Frau, die dem Sioux-Häuptling Sitting Bull zu den Aufständen ins Dakota-Gebiet folgt. Mit acht Jahren wandert sie zusammen mit der Mutter nach New York aus, wo sie sich später zur erfolgreichen Malerin entwickelte. Mit viel Gespür fürs Detail und einer flüssig-humorvollen Schreibweise versetzt Capus den Leser präzise in die zeitlichen Rahmenbedingungen mit entsprechenden Ereignissen und in die familiären Umstände von Susanna – besonders Vater Lucas und sein Freund Karl Valentiny nehmen eine bedeutende Rolle ein, doch auch die gescheiterte Ehe von Susanna und die Geburt des Sohnes Christie haben ihre angemessene Präsenz. Christie mit seiner Leidenschaft für die Geschichte und Lebensweise der Indigenen wird Susanna für ihre spätere Reise inspirieren. Die bunt gezeichneten Nebencharaktere fließen samt ihren Schauplätzen wie der Revolution in Europa, der Elektrifizierung in New York oder den mystischen Geistertänzen in den Dakotas mitein.

Alex Capus ist ein wortgewandter, unterhaltsamer und soghafter Geschichtenerzähler – doch trotz Spannung und einer gut komponierten Handlung fehlt es Susanna und ihren Nebenfiguren etwas an psychologischer Tiefenschärfe. Die unkonventionellen Lebensstationen samt packender Atmosphäre sind wunderbar herausgearbeitet, unklar bleiben Susannas private und politische Motive für diesen emanzipierten Aufbruch in die Freiheit im 19. Jahrhundert. So ist „Susanna“ zwar eine lesenswerte biografische Geschichte zwischen Dokumentation und literarischer Fiktion, aber es bleibt das Gefühl, dass dieser Stoff voller verwebten Lebensbiografien und einer außergewöhnlichen Frau noch mehr hergegeben hätte. Aber Capus inspiriert mit seiner gut recherchierten und lebendigen Susanna-Geschichte zum Nachdenken über eigene Lebensträume, die viel Mut und Unerschrockenheit zum Verwirklichen benötigen.

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Bewertung vom 29.07.2022
Die Arena
Djavadi, Négar

Die Arena


sehr gut

Tornado über Paris
Nach ihrem großen Erfolg von „Desorientale“ veröffentlicht Négar Djavadi nun ihren zweiten Roman – „Die Arena“ entwirft ein rasantes, gesellschaftskritisches und danteskes Spiegelbild des multikulturellen Paris im 21. Jahrhundert, in dem sich vielfältige Milieus aggressiv gegenüberstehen und ein kleiner Funke eine große Spirale an Gewalt auslösen kann. Somit fungiert der Osten von Paris mit den Vierteln Belleville/Jaurès/Buttes-Chaumont als realitätsnahe und schonungslose Arena, in denen eine Vielzahl unterschiedlicher und widersprüchlicher Charaktere geworfen werden – alle sind sie auf ihre Weise frustriert und suchen ihren Weg in einer Zeit, in der die öffentliche mediale Unterhaltung mehr zählt als das wahre Selbstsein und das authentische Miteinander kommunizieren.

Négar Djavadi hat ein rhythmisches, rohes und vielstimmiges Sittengemälde entworfen, in dem sie als präzise auktoriale Erzählerin ihre Charakter feinfühlig-detailliert kennt und entwirft – Jugendliche aus den verschiedenen Cités, Polizisten, Migranten, Politiker, Prediger, Aktivisten und Blogger sowie und allen voran der nonchalante und dauergestresste Benjamin Grossmann, Direktor für Film bei BeCurrent, dem fiktiven Pedant zur Streaming-Plattform Netflix. Als er sein immens wichtiges Handy verliert und einem vermeintlichen Dieb hinterherläuft, beginnt er eine Kette von Ereignissen in einen furiosen Gang zu setzen, bei denen alle Beteiligte kräftig durcheinander gewirbelt werden. Denn der junge Issa wird wenig später tot aufgefunden und Polizistin Asya wird ihm in einem Moment der Verlorenheit einen Fußtritt geben, der gefilmt wird und sofort viral geht. Im Zeitalter der Unterhaltung werden Ereignisse sekundenschnell aufgegriffen, um dann in den sozialen Medien eventuell mit einem veränderten und fiktionalisierten Narrativ veröffentlicht zu werden – besonders in Wahlkampfzeiten schlagen manche Bilder wie Polizeigewalt oder Revierkämpfe hohe Wellen, bis ein medial erzeugter Shitstorm in einem realen, gewalttätigen Clash der sozialen Schichten endet. Dieses Thema greift die Autorin neben anderen urban-menschlichen Zusammenstößen präzise und mit verschiedenen erzählerischen Finessen wie Chatprotokollen auf.

Die Charaktere wechseln schnell und treten polyphon auf – trotzdem erhält jede/r eine sehr moderne und nuancenreiche Beschreibung. Djavadi schreibt sehr szenisch und mit vielen filmischen Referenzen sowie in einem äußerst voranpreschenden, dringlichen Stil, der in seinem Rhythmus nicht nur die angespannte, mediale Erregung einfängt, sondern auch zum pulsierenden Finale in der musikalischen Vortragsform furioso hinarbeitet. Insgesamt hat das treibende, eindrückliche Tempo mit der düsteren Vorahnung auf ein dramatisches Ende seine dramaturgischen und erzählerischen Tücken – die Aufmerksamkeit des Lesers ist über die knapp 500 Seiten lang mit vielen Details sehr gefordert und trotzdem erscheinen manche Charaktere nicht genug ausbalanciert in der Tiefe.

Doch Djavadi ist eine sehr kluge Erzählerin und anspruchsvolle Beobachterin ihrer Stadt – ihr literarisches Fazit über die verschiedenen Milieus in Paris ist hoch aktuell, brisant und legt den Finger in die Wunde von gesellschaftlichen Versäumnissen und politischen Zerrüttungen. Nie verliert Djavadi in ihrem Tornado an emotionalen und knallharten Geschichten und Ereignissen in der Großstadt-Arena den Überblick beim unterhaltsam-visuellen Erzählen und Verknüpfen – und liefert eine universelle Sozialstudie, die stellvertretend für den gesellschaftlichen Wandel weltweit steht.

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Bewertung vom 19.07.2022
Die Schuhe meines Vaters
Schäfer, Andreas

Die Schuhe meines Vaters


ausgezeichnet

Der Ungreifbare
Nach dem erfolgreichen Roman „Das Gartenzimmer“ begibt sich Andreas Schäfer nun mit „Die Schuhe meines Vaters“ auf die ergreifende literarische Erinnerungskonstruktion und Annäherung an seinen im Jahr 2018 verstorbenen Vater. Nachdem Schäfer zwei Jahre nach dem Tod bemerkt, dass ihm das Gesicht des ungreifbaren Vaters verlorengeht und seine Erinnerungen an ihn immer weniger werden, setzt er ihm ein faszinierendes, schriftstellerisches Denkmal, in dem der Autor selbst mit auf eine bewegende und scharf beobachtete Zeitreise in seine Kindheit und Jugend geht und auch über transgenerationale Traumata nachdenkt.

In drei kunstvollen Teilen setzt Schäfer nicht nur ein unsentimentales, poetisches und philosophisches Bild des Erinnerungsvaters und das meist komplizierte emotionale Miteinander zusammen, sondern ordnet und gliedert sehr klug auch die zeitlichen, historischen Rahmenbedingungen außenherum – Kriegstraumata im Zweiten Weltkrieg, ein brennendes Elternhaus im zerbombten Berlin, ein verstoßener Sohn, eine Ehe mit einer Griechin, die in die Brüche geht und ein eigenbrötlerisches Leben in einem Hochhaus in Frankfurt/Main mit vielen Reisen in die Welt und auf zahlreiche griechische Inseln.

Andreas Schäfer beginnt seine assoziativen und weise zusammengesetzten Erinnerungsaufzeichnungen mit einer ethischen und sehr berührenden Frage: Wann sollen die Maschinen, die den gehirntoden, im künstlichen Koma liegenden Vater nach einem fehlgeschlagenen Biopsie-Eingriff am Leben erhalten, abgeschaltet werden? Mutter und Sohn ringen gemeinsam nach einer Antwort im Krankenhaus, während Erzähler Schäfer die Schuhe des Vaters zurück in die Wohnung bringt und anhand von Reiseaufzeichnungen, Erinnerungen, persönlichen Gegenständen und sehr klugen Reflexionen das unstetige, vereinnahmende und stets gekränkte Wesen des Vaters zu rekonstruieren versucht und dabei auch seine eigenen ambivalenten Gefühle wie verborgene Zuneigung und tiefe Scham miteinbezieht. Während die Familie zusammen beschließt, den Vater gehen zu lassen, erzählt Schäfer vom deutsch-griechischen Familienalltag in Frankfurt am Main, von Zerwürfnissen und Annäherungen, von Verletzungen und Freuden, vom Krieg und einer möglichen Versöhnung mit dem innerlich nervösen und zerrissenen Vater.

„Die Schuhe meines Vaters“ ist ein sehr lebenserfahrenes, psychologisch messerscharf fragendes und zutiefst einfühlsames Buch, das vom Abschiednehmen, von Trauer, aber auch vom Einordnen des eigenen Lebens erzählt – und dabei anhand von scheinbar kleinen Details größere existenzielle Dinge einkreist und erhellt. Der behutsame und bewegende dritte Teil des Buches, in dem Schäfer auf der griechischen Insel Naxos den Berg Zas besteigt und dem Geist des Vaters begegnet, trifft ins Herz und spricht von einem hoffnungsvollen und versöhnlichem Loslassen. Gelungen zusammengesetzte und sehr lesenswerte Erinnerungsstücke und Reflexionen, die tief zum Sinnieren anregen.

Bewertung vom 24.06.2022
Fischers Frau
Kalisa, Karin

Fischers Frau


sehr gut

Fäden in der Welt

Die Bestsellerautorin Karin Kalisa spinnt in ihrem neuen märchenhaften Roman „Fischers Frau“ bunte Garn- und Erzählfäden in der ganzen Welt, um sie knotenweise und fantastisch wieder zusammenzuführen. Dabei geht es im Kern um eine fast unbekannte Begebenheit in den späten 1920er-Jahren an der Ostsee: Ein Fischfangverbot über drei Jahre zwang Fischer und ihre Frauen weg vom Boot und an den Webstuhl, um kunstvolle Fischerteppiche mit Motiven der See zu knüpfen.

Ein ganz außergewöhnliches Prachtstück in seltenen und schimmernden Grüntönen bekommt Kuratorin und Faserexpertin Mia Sund von ihrem Kollegen in Greifswald vorgelegt – er wird die zurückgezogene Frau so faszinieren, dass sie ihr altes, ödes Leben zurücklässt und einen Aufbruch in etwas Neues wagt. In einer Teppichwerkstatt in Zagreb versucht sie zusammen mit dem Inhaber den Geheimnissen des Persers auf die Spur zu kommen und gräbt sich gedanklich immer tiefer in das Leben der mystischen Schöpferin und Märchenerzählerin Nina Silke Strad.

Karin Kalisa verknüpft das Leben der Frauen Mia und Nina auf kreative und poetische Weise und webt gekonnt immer wieder Bezüge zum Märchenerzählen mitein. Empathisch, feinsinnig und verspielt im Ausdruck changiert die versierte und fabulierfreudige Autorin zwischen Fiktion und historischen Ereignissen, Wahrheit und Fälschung, Vergangenheit und Gegenwart sowie zwischen „es war und es war nicht“, wenn Mia die mysteriösen und magischen Chiffren des Teppichs zu entknoten versucht und dabei tief in ihre eigene Vergangenheit taucht. Mancher märchenhafter Erzählstrang mag dabei etwas zu versponnen sein, doch Kalisas verträumt-detaillierter Blick auf die bewegenden Lebenslinien zweier faszinierender Frauen inspiriert zum Reflektieren und Philosophieren.