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amara5

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Insgesamt 118 Bewertungen
Bewertung vom 01.09.2022
Sanfte Einführung ins Chaos
Orriols, Marta

Sanfte Einführung ins Chaos


sehr gut

Drehbuch des Lebens
In ihrem neuen Roman „Sanfte Einführung ins Chaos“ zeigt die erfolgreiche Autorin Marta Orriols eindringlich und szenisch auf, welche Gefühlskapriolen ein junges Pärchen ereilt, die über einen Schwangerschaftsabbruch nachdenken.

Seit zwei Jahren sind die Anfang-30er Marta und Dani ein modernes Paar in Barcelona – sie arbeiten in kreativen, aber sehr unsicheren Jobs als Drehbuchautor und Fotografin. Während Dani im Arbeitsleben täglich Comedy-Serien schreibt, hat er mit dem Drehbuch seines eigenen Lebens seine Schwierigkeiten: Die Möglichkeit, Vater zu werden versetzt ihn in seine familiäre Vergangenheit, die für ihn noch verarbeitet werden muss. Marta ist sich sicher, dass sie das ungeborene Kind nicht möchte, hat Tendenzen nach Berlin zu ziehen und fühlt sich noch zu jung – das Leben hat noch so viele Möglichkeiten parat und das ernste, festgelegte Erwachsenwerden kann warten. Die Entscheidungsfindung jagt einen Riss in die Verbundenheit und Beziehung – beide müssen sich über einiges klar werden, zu sich wiederfinden, um sich dann wieder zu verbinden.

Filmreif, atmosphärisch und mit einer klug-poetischen Sprache mit pointierten Szenen und Sätzen verankert Orriols nun den auktorial erzählten Plot auf die sechs Tage vor dem Termin zum Schwangerschaftsabbruch. Aus wechselnden Perspektiven – wobei Dani den größeren Teil erhält – blickt sie tief und feinfühlig in die ambivalenten und erschütternden Gefühls- und Gedankenwellen der beiden jungen Menschen. Mit einem Gespür für intime Details, Gesten und bildhafte Szenerien wechseln Vergangenheit mit der schwierigen Zumutung, eine gute Entscheidung im Heute zu finden. Dabei zeichnet sie ihre sympathischen Charaktere samt Innenleben sehr plastisch und greifbar – ihre Ängste, Sorgen und Zweifel.

Auch wenn dem Roman hier und da etwas mehr Tiefgang gut getan hätte – Orriols hat eine präzise beobachtete und lebenskluge Geschichte mitten aus dem Leben und seine unzähligen Möglichkeiten geschaffen.

Bewertung vom 14.08.2022
Susanna
Capus, Alex

Susanna


gut

Ein wagemutiger Aufbruch

Der Bestseller-Autor Alex Capus mischt auch in seinem neuen Roman gekonnt historische Fakten mit Fiktion und erzählt atmosphärisch dicht von der Porträt-Malerin Susanna Faesch, spätere Caroline Weldon, im Aufbruch.

In mehreren szenischen und bildgewaltigen Episoden fächert der Autor auf knapp 300 Seiten das turbulente Leben der Protagonistin Susanna auf – angefangen von ihrer Kindheit Anfang der 1840er-Jahre im wohlhabenden aristokratischen Elternhaus in Kleinbasel bis hin zur emanzipierten Frau, die dem Sioux-Häuptling Sitting Bull zu den Aufständen ins Dakota-Gebiet folgt. Mit acht Jahren wandert sie zusammen mit der Mutter nach New York aus, wo sie sich später zur erfolgreichen Malerin entwickelte. Mit viel Gespür fürs Detail und einer flüssig-humorvollen Schreibweise versetzt Capus den Leser präzise in die zeitlichen Rahmenbedingungen mit entsprechenden Ereignissen und in die familiären Umstände von Susanna – besonders Vater Lucas und sein Freund Karl Valentiny nehmen eine bedeutende Rolle ein, doch auch die gescheiterte Ehe von Susanna und die Geburt des Sohnes Christie haben ihre angemessene Präsenz. Christie mit seiner Leidenschaft für die Geschichte und Lebensweise der Indigenen wird Susanna für ihre spätere Reise inspirieren. Die bunt gezeichneten Nebencharaktere fließen samt ihren Schauplätzen wie der Revolution in Europa, der Elektrifizierung in New York oder den mystischen Geistertänzen in den Dakotas mitein.

Alex Capus ist ein wortgewandter, unterhaltsamer und soghafter Geschichtenerzähler – doch trotz Spannung und einer gut komponierten Handlung fehlt es Susanna und ihren Nebenfiguren etwas an psychologischer Tiefenschärfe. Die unkonventionellen Lebensstationen samt packender Atmosphäre sind wunderbar herausgearbeitet, unklar bleiben Susannas private und politische Motive für diesen emanzipierten Aufbruch in die Freiheit im 19. Jahrhundert. So ist „Susanna“ zwar eine lesenswerte biografische Geschichte zwischen Dokumentation und literarischer Fiktion, aber es bleibt das Gefühl, dass dieser Stoff voller verwebten Lebensbiografien und einer außergewöhnlichen Frau noch mehr hergegeben hätte. Aber Capus inspiriert mit seiner gut recherchierten und lebendigen Susanna-Geschichte zum Nachdenken über eigene Lebensträume, die viel Mut und Unerschrockenheit zum Verwirklichen benötigen.

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Bewertung vom 29.07.2022
Die Arena
Djavadi, Négar

Die Arena


sehr gut

Tornado über Paris
Nach ihrem großen Erfolg von „Desorientale“ veröffentlicht Négar Djavadi nun ihren zweiten Roman – „Die Arena“ entwirft ein rasantes, gesellschaftskritisches und danteskes Spiegelbild des multikulturellen Paris im 21. Jahrhundert, in dem sich vielfältige Milieus aggressiv gegenüberstehen und ein kleiner Funke eine große Spirale an Gewalt auslösen kann. Somit fungiert der Osten von Paris mit den Vierteln Belleville/Jaurès/Buttes-Chaumont als realitätsnahe und schonungslose Arena, in denen eine Vielzahl unterschiedlicher und widersprüchlicher Charaktere geworfen werden – alle sind sie auf ihre Weise frustriert und suchen ihren Weg in einer Zeit, in der die öffentliche mediale Unterhaltung mehr zählt als das wahre Selbstsein und das authentische Miteinander kommunizieren.

Négar Djavadi hat ein rhythmisches, rohes und vielstimmiges Sittengemälde entworfen, in dem sie als präzise auktoriale Erzählerin ihre Charakter feinfühlig-detailliert kennt und entwirft – Jugendliche aus den verschiedenen Cités, Polizisten, Migranten, Politiker, Prediger, Aktivisten und Blogger sowie und allen voran der nonchalante und dauergestresste Benjamin Grossmann, Direktor für Film bei BeCurrent, dem fiktiven Pedant zur Streaming-Plattform Netflix. Als er sein immens wichtiges Handy verliert und einem vermeintlichen Dieb hinterherläuft, beginnt er eine Kette von Ereignissen in einen furiosen Gang zu setzen, bei denen alle Beteiligte kräftig durcheinander gewirbelt werden. Denn der junge Issa wird wenig später tot aufgefunden und Polizistin Asya wird ihm in einem Moment der Verlorenheit einen Fußtritt geben, der gefilmt wird und sofort viral geht. Im Zeitalter der Unterhaltung werden Ereignisse sekundenschnell aufgegriffen, um dann in den sozialen Medien eventuell mit einem veränderten und fiktionalisierten Narrativ veröffentlicht zu werden – besonders in Wahlkampfzeiten schlagen manche Bilder wie Polizeigewalt oder Revierkämpfe hohe Wellen, bis ein medial erzeugter Shitstorm in einem realen, gewalttätigen Clash der sozialen Schichten endet. Dieses Thema greift die Autorin neben anderen urban-menschlichen Zusammenstößen präzise und mit verschiedenen erzählerischen Finessen wie Chatprotokollen auf.

Die Charaktere wechseln schnell und treten polyphon auf – trotzdem erhält jede/r eine sehr moderne und nuancenreiche Beschreibung. Djavadi schreibt sehr szenisch und mit vielen filmischen Referenzen sowie in einem äußerst voranpreschenden, dringlichen Stil, der in seinem Rhythmus nicht nur die angespannte, mediale Erregung einfängt, sondern auch zum pulsierenden Finale in der musikalischen Vortragsform furioso hinarbeitet. Insgesamt hat das treibende, eindrückliche Tempo mit der düsteren Vorahnung auf ein dramatisches Ende seine dramaturgischen und erzählerischen Tücken – die Aufmerksamkeit des Lesers ist über die knapp 500 Seiten lang mit vielen Details sehr gefordert und trotzdem erscheinen manche Charaktere nicht genug ausbalanciert in der Tiefe.

Doch Djavadi ist eine sehr kluge Erzählerin und anspruchsvolle Beobachterin ihrer Stadt – ihr literarisches Fazit über die verschiedenen Milieus in Paris ist hoch aktuell, brisant und legt den Finger in die Wunde von gesellschaftlichen Versäumnissen und politischen Zerrüttungen. Nie verliert Djavadi in ihrem Tornado an emotionalen und knallharten Geschichten und Ereignissen in der Großstadt-Arena den Überblick beim unterhaltsam-visuellen Erzählen und Verknüpfen – und liefert eine universelle Sozialstudie, die stellvertretend für den gesellschaftlichen Wandel weltweit steht.

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Bewertung vom 19.07.2022
Die Schuhe meines Vaters
Schäfer, Andreas

Die Schuhe meines Vaters


ausgezeichnet

Der Ungreifbare
Nach dem erfolgreichen Roman „Das Gartenzimmer“ begibt sich Andreas Schäfer nun mit „Die Schuhe meines Vaters“ auf die ergreifende literarische Erinnerungskonstruktion und Annäherung an seinen im Jahr 2018 verstorbenen Vater. Nachdem Schäfer zwei Jahre nach dem Tod bemerkt, dass ihm das Gesicht des ungreifbaren Vaters verlorengeht und seine Erinnerungen an ihn immer weniger werden, setzt er ihm ein faszinierendes, schriftstellerisches Denkmal, in dem der Autor selbst mit auf eine bewegende und scharf beobachtete Zeitreise in seine Kindheit und Jugend geht und auch über transgenerationale Traumata nachdenkt.

In drei kunstvollen Teilen setzt Schäfer nicht nur ein unsentimentales, poetisches und philosophisches Bild des Erinnerungsvaters und das meist komplizierte emotionale Miteinander zusammen, sondern ordnet und gliedert sehr klug auch die zeitlichen, historischen Rahmenbedingungen außenherum – Kriegstraumata im Zweiten Weltkrieg, ein brennendes Elternhaus im zerbombten Berlin, ein verstoßener Sohn, eine Ehe mit einer Griechin, die in die Brüche geht und ein eigenbrötlerisches Leben in einem Hochhaus in Frankfurt/Main mit vielen Reisen in die Welt und auf zahlreiche griechische Inseln.

Andreas Schäfer beginnt seine assoziativen und weise zusammengesetzten Erinnerungsaufzeichnungen mit einer ethischen und sehr berührenden Frage: Wann sollen die Maschinen, die den gehirntoden, im künstlichen Koma liegenden Vater nach einem fehlgeschlagenen Biopsie-Eingriff am Leben erhalten, abgeschaltet werden? Mutter und Sohn ringen gemeinsam nach einer Antwort im Krankenhaus, während Erzähler Schäfer die Schuhe des Vaters zurück in die Wohnung bringt und anhand von Reiseaufzeichnungen, Erinnerungen, persönlichen Gegenständen und sehr klugen Reflexionen das unstetige, vereinnahmende und stets gekränkte Wesen des Vaters zu rekonstruieren versucht und dabei auch seine eigenen ambivalenten Gefühle wie verborgene Zuneigung und tiefe Scham miteinbezieht. Während die Familie zusammen beschließt, den Vater gehen zu lassen, erzählt Schäfer vom deutsch-griechischen Familienalltag in Frankfurt am Main, von Zerwürfnissen und Annäherungen, von Verletzungen und Freuden, vom Krieg und einer möglichen Versöhnung mit dem innerlich nervösen und zerrissenen Vater.

„Die Schuhe meines Vaters“ ist ein sehr lebenserfahrenes, psychologisch messerscharf fragendes und zutiefst einfühlsames Buch, das vom Abschiednehmen, von Trauer, aber auch vom Einordnen des eigenen Lebens erzählt – und dabei anhand von scheinbar kleinen Details größere existenzielle Dinge einkreist und erhellt. Der behutsame und bewegende dritte Teil des Buches, in dem Schäfer auf der griechischen Insel Naxos den Berg Zas besteigt und dem Geist des Vaters begegnet, trifft ins Herz und spricht von einem hoffnungsvollen und versöhnlichem Loslassen. Gelungen zusammengesetzte und sehr lesenswerte Erinnerungsstücke und Reflexionen, die tief zum Sinnieren anregen.

Bewertung vom 24.06.2022
Fischers Frau
Kalisa, Karin

Fischers Frau


sehr gut

Fäden in der Welt

Die Bestsellerautorin Karin Kalisa spinnt in ihrem neuen märchenhaften Roman „Fischers Frau“ bunte Garn- und Erzählfäden in der ganzen Welt, um sie knotenweise und fantastisch wieder zusammenzuführen. Dabei geht es im Kern um eine fast unbekannte Begebenheit in den späten 1920er-Jahren an der Ostsee: Ein Fischfangverbot über drei Jahre zwang Fischer und ihre Frauen weg vom Boot und an den Webstuhl, um kunstvolle Fischerteppiche mit Motiven der See zu knüpfen.

Ein ganz außergewöhnliches Prachtstück in seltenen und schimmernden Grüntönen bekommt Kuratorin und Faserexpertin Mia Sund von ihrem Kollegen in Greifswald vorgelegt – er wird die zurückgezogene Frau so faszinieren, dass sie ihr altes, ödes Leben zurücklässt und einen Aufbruch in etwas Neues wagt. In einer Teppichwerkstatt in Zagreb versucht sie zusammen mit dem Inhaber den Geheimnissen des Persers auf die Spur zu kommen und gräbt sich gedanklich immer tiefer in das Leben der mystischen Schöpferin und Märchenerzählerin Nina Silke Strad.

Karin Kalisa verknüpft das Leben der Frauen Mia und Nina auf kreative und poetische Weise und webt gekonnt immer wieder Bezüge zum Märchenerzählen mitein. Empathisch, feinsinnig und verspielt im Ausdruck changiert die versierte und fabulierfreudige Autorin zwischen Fiktion und historischen Ereignissen, Wahrheit und Fälschung, Vergangenheit und Gegenwart sowie zwischen „es war und es war nicht“, wenn Mia die mysteriösen und magischen Chiffren des Teppichs zu entknoten versucht und dabei tief in ihre eigene Vergangenheit taucht. Mancher märchenhafter Erzählstrang mag dabei etwas zu versponnen sein, doch Kalisas verträumt-detaillierter Blick auf die bewegenden Lebenslinien zweier faszinierender Frauen inspiriert zum Reflektieren und Philosophieren.

Bewertung vom 03.06.2022
Amelia
Burns, Anna

Amelia


sehr gut

Die Überlebende
Das erschütternde und bereits vor 20 Jahren veröffentlichte Debüt der mit Preisen ausgezeichneten, nordirischen Autorin Anna Burns über eine Belfaster Kindheit während der brutalen Troubles erscheint nun auf Deutsch. Das düstere Heranwachsen des Mädchens Amelia Boyd Lovett unter den finsteren, bürgerkriegsähnlichen Zuständen des jahrzehntelangen Nordirlandkonflikts im gebeutelten Land trifft mit all seinen lebenslangen Konsequenzen tief ins Mark.

Amelia wächst mit ihrer Familie im Nord-Belfaster Stadtteil Ardoyne auf, der später den traurigen Rekord für tödlich Verletzte erlangen sollte – sie ist fünf Jahre alt, als im Jahr 1969 die Unruhen beginnen. Doch auch zuhause in der Familie geht es gewaltvoll zu und Burns folgt Amelia episodenhaft bis zum Jahr 1994 über das schwierige Jugendalter hinaus, wenn sie mit psychischen Erkrankungen zu kämpfen hat. Selbst als Amelia Belfast den Rücken kehrt, kehren die Dämonen der Vergangenheit auch in London in den Träumen zurück.

Aus verschiedenen Perspektiven und sprunghaft in der Zeitschiene, zwischen Grausamkeit, Ironie und skurrilem Humor zeichnet die Autorin feinfühlig und drastisch ein von Gewalt geprägtes Leben – erschreckende, humorvolle und tiefgründige Szenen wechseln sich ab, wenn die Schulfreunde zwischen Leichen Gummigeschosse an Soldaten verkaufen und abartige Gewaltspiele fabrizieren, während sie auf ein bisschen Normalität bei ihrem trostlosen Heranwachsen zwischen Bürgerkrieg, Schulalltag und Kinderstreichen hoffen. Und überall im familiären Umfeld gibt es auf einmal Menschen, die bei Schießereien oder bei Autobomben-Anschlägen sterben – oft flüchten sich die Heranwachsenden in Drogen und Alkohol, werden selbst gewalttätig und drogensüchtig. Irgendwann schließen sich die Meisten der IRA oder einer anderen gewaltvollen Gruppierung an.

Anna Burns Schreibstil ist messerscharf, unerbittlich, unsentimental und wechselt präzise zwischen absurden und schockierenden Momenten, zwischen Alltäglichem und Unerträglichem sowie zwischen Zartheit und tiefem Schmerz – Burns selbst wuchs Anfang der 1960er-Jahre in Belfast auf und weiß, wovon sie schreibt. „Amelia“ liefert ein kluges, mutiges und teils schwer zu greifendes, fragmentarisches Porträt einer Kindheit und Jugend im Krieg und über das tiefe, generationsübergreifende Trauma eines ganze Landes – erschütternd aktuell, nicht leicht zu lesen (die Härte der Themen sowie der experimentierfreudige Erzählstil) und doch faszinierend-grotesk umgesetzt. Nicht die historischen Details des Nordirlandkonflikts stehen im Vordergrund, sondern die persönlichen und schonungslosen Schicksale dahinter.

Bewertung vom 19.05.2022
Verheizte Herzen
Crossan, Sarah

Verheizte Herzen


sehr gut

Im explosiven Bienenstock
Die erfolgreiche und mit Preisen ausgezeichnete Jugendbuchautorin Sarah Crossan legt mit „Verheizte Herzen“ ihren ersten Roman für Erwachsene vor – originell, dringlich und kraftvoll beschreibt sie darin die subversiv-dunkle Art einer vergangenen Affäre in düster-poetischer Versform.

Die unglücklich verheiratete Anwältin und zweifache Mutter Ana hatte drei Jahre lang eine intensive Affäre mit dem Familienvater Connor – mit all den Höhen und Tiefen, dem Nervenkitzel und dem Schmerz der Geheimhaltung. Bis Ana den Anruf von Conors Frau Rebecca erhält, dass Connor gestorben ist und sie Hilfe bei dem in ihrer Kanzlei hinterlegten Testament benötigt. Die Gedanken in Anas Kopf beginnen sich zu drehen und es entsteht ein rasant-moderner innerer Dialog, in dem sie ihren verstorbenen Liebhaber direkt anspricht und wild-unterhaltsam in den verschiedenen Zeiten und Phasen der Affäre springt. In der Gegenwart versucht sich Ana stalkerhaft mit der Witwe anzufreunden und scrollt zwanghaft durch die hinterbliebenen Social Media-Einträge von Connor.

Crossan beginnt ihre kreativ-dramatische Erzählung mit einem spannenden Einstieg und der schnelle Ton im Erzählstil bleibt bis zum überraschenden Schluss bestehen und wird zum Ende hin immer düsterer, wenn Ana tief in ihrem Schmerz stochert und dem Unheil näherrückt. Der Einblick in Anas angespannt-explosiven und doch zerbrechlichen Gemütszustand ist feinfühlig-klar dargestellt, ohne rührselig zu werden. Im Gegenteil: Crossan wirft ein empathisches Licht auf das Zerstörerische während und nach dieser Affäre, lotet die Gegensätze offen aus und spielt mit Bezügen zur klassischen Literatur über Ehebrüche – an die Charaktere außerhalb ihrer Beziehung gelangt der Leser hingegen eher weniger. Der Hauptaugenmerk liegt auf der Wucht der Untreue und des Zusammenseins mit all seiner tiefen, teils destruktiven Kraft.

Crossans dynamische Sprache punktet dabei mit psychologischer Dichtheit und einer melancholischen Poesie, eingebettet in einen klug konzipierten und tragischen Plot mit kleineren Schwächen. Ein roh-intensiver und fesselnder Roman über Verlust, versteckte Trauer, das Aufrechterhalten der Fassade, wenn es innerlich brodelt und die Frage, was am Ende bleibt.

Bewertung vom 10.05.2022
Ein französischer Sommer
Reece, Francesca

Ein französischer Sommer


gut

Begehrenswerte Doppelgängerin

Die junge Autorin Francesca Reece entführt in ihrem mysteriös-atmosphärischen und prickelnden Debüt auf rund 450 Seiten in die Sonne und Straßen Südfrankreichs sowie in dunkle Vergangenheiten, Geheimnisse und Projektionen. Das Studium in der Tasche, jobbt die junge attraktive Engländerin Leah in Paris und genießt ihr Bohème-Leben sowie ihre Sexualität in vollen Zügen – eine Announce eines bekannten Autors und ein darauffolgender Ferienjob in Südfrankreich wird ihrem Leben eine neue Wendung geben. Als Assistentin für den narzisstischen, egozentrischen und ins Alter gekommenen ehemaligen Kultschriftsteller Michael Young soll sie delikate Tagebücher aus der Jugend transkribieren – Young möchte anhand der Aufzeichnungen nochmal einen Erfolgsroman veröffentlichen. Sie verbringt den Sommer zusammen mit Youngs intellektueller Familie in deren Villa an der Côte d’Azur – und taucht dabei tief ein in die Kapriolen sowie sexuellen Abenteuer des Autors, die an unterschiedlichen Orten wie in den ausschweifenden 60er-Jahren in London sowie ins griechische Athen unter der Militärjunta stattfinden. Je mehr sie sich mit der Vergangenheit von Young beschäftigt, desto mystisch-dubioser wird eine Sache: Sie sieht der großen und unter mysteriösen Umständen verschwundenen Jugendliebe des Autors verblüffend ähnlich. Aus den zwei auch stilistisch stark unterschiedlichen Erzähl-Perspektiven von Leah und Young verwebt Reece dabei gekonnt und doch etwas verworren Vergangenes mit der Gegenwart, in der Leah den Swimming-Pool, das nonchalante Treiben in den französischen Städten und verschiedene Liebeleien genießt. In diese Szenen mischen sich szenisch dicht die anderen Handlungsorte wie London und Athen und die Zeitebenen verschmelzen miteinander – vor allem Young scheint diese Zeitmelange nicht mehr unterscheiden zu können, während Leah sich in einer Art Selbstfindungsgeschichte in diversen Sehnsüchten samt drogeninduzierten Eskapaden in der Familie verliert und nicht nur Projektion und Objekt von Youngs Empfindlichkeiten sein möchte. In einer ironisch-scharfsinnigen Atmosphäre zwischen Sally Rooney und François Ozon baut Reece eine subtile und voyeuristische (passender Originaltitel) Spannung auf – mit intimen Einträgen des Tagebuchs eines zynischen Autors mit Schreibblockade, der Leah als Muse benutzt und sich verweigert, das Jetzt und Heute sowie sein vorschreitendes Alter und Schuld aus der Vergangenheit zu akzeptieren. Und über dem ganzen Bourgeoisie-Dasein schwebt das Damoklesschwert von Astrids Verschwinden und einer unausgesprochenen Schuld. Sprachlich größtenteils stark, soghaft und bildgewaltig, hat das sinnlich-freche Debüt leider auch seine Schwächen – neben dem eher unrealistischen Doppelgängertum laufen zu viele Nebenschauplätze und -darsteller sowie der dicht aufgebaute Haupthandlungsstrang am Ende etwas ins Leere. Wer bereit ist, das zu akzeptieren, wird trotzdem seine leichtfüßige Lesefreude an diesem geistreich-selbstironischen und stimmungsvollen Sommerroman haben, der mit viel französischem Flair und Lebensgefühl an mediterrane Orte und in die Tiefen von Zeit, Klassenunterschiede und sehnsuchtsvollen Projektionen reist.

Bewertung vom 05.05.2022
Automaton
Glanz, Berit

Automaton


sehr gut

Fenster zum Leben
Nach ihrem Erfolgsdebüt „Pixeltänzer“ leuchtet die Literaturwissenschaftlerin und Autorin Berit Glanz nun auch in ihrem neuen unterhaltsamen Roman „Automaton“ faszinierend die nahtlosen Verbindungen zwischen der analogen und der digitalen Welt aus – und betrachtet feinfühlig die Menschen, ihre Leben und Probleme darin. Dabei lässt sich Glanz konzentriert Zeit beim Erzählen und dem subtilen Aufbauen zweier Erzählstränge aus zwei Frauenleben auf zwei unterschiedlichen Kontinenten, die sich dank der digitalen Vernetzung langsam und hoffnungsvoll verbinden.

Protagonistin Tiff (schöne Anspielung auf das gleichnamige Bildformat) ist alleinerziehende Mutter eines Sohnes und leidet an starken Angststörungen, die sie an ihre Wohnung fesseln – sie ist Content-Managerin und Clickworkerin, hat für eine große Social Media Firma moderiert und anstößigen Inhalt sowie gewaltvolle Bilder gefiltert, bis sie diese nicht mehr losgelassen haben und sich in ihrem Kopf eingebrannt haben. Gefangen in Armut und prekären Arbeitsverhältnissen arbeitet sie von zuhause aus als Automaton: Über Foren zieht sie sich monotone Jobs, sogenannte Autobs, ans Land, in denen sie Inhalte wie Bilder, Texte oder Videos ansehen und verschlagworten muss. Eine Arbeit, die laut ExtraEye angeblich von KI durchgeführt wird, doch leisten sie in Wahrheit schlecht bezahlte, menschliche Clickworker. Auch hier besteht die Gefahr, dass sie hilflos verstörenden Content ansehen muss, doch die meisten Aufträge erweisen sich zwar als stupide und repetitiv, aber harmlos. In einem Auftrag der Firma ExtraEye überwacht sie Überwachungskamera-Aufzeichnungen einer amerikanischen Lagerhalle – auf mehreren Aufnahmen ist ein bärtiger, obdachloser Mann zu sehen, der seinem Hund liebevoll etwas vorliest und vor den Toren übernachtet. Dann verschwindet der Mann, doch der Hund bleibt verstört und verängstigt zurück, bis auch er nicht mehr zu sehen ist.

Tiff entscheidet diesmal, nicht hilflos zuzusehen, wie die Menschen in den Videos aus ihrem Leben verschwinden und sie nicht weiß, wie ihre Geschichte endet – anders als eine KI hat sie menschliche Emotionen. Entgegen ihrer Existenz- und anderen Ängsten stellt sie sich ihrer Hilflosigkeit und erhält solidarische, digitale Hilfe ihrer Chat-Freunde aus den Automaton-Foren. Gemeinsam gehen sie virtuell auf Spurensuche nach Mr. Beard und seinem Hund – sie wird sie an die amerikanische Westküste zu Stella führen, die den zweiten Erählstrang des Romans ausmacht: Sie arbeitet auch in prekären Arbeitssituationen, aber in der analogen Welt auf einem Marihuana-Feld in Kalifornien und hilft nebenbei in der Suppenküche aus. Auch sie hat mit Traumata aus der Vergangenheit, Einsamkeit und Enttäuschung zu kämpfen, doch der Fall von Tiff aus Deutschland wird auch ihr neue Hoffnung schenken.

Mit einer subtilen Spannung, einem ruhig-eindringlichen Schreibstil, der sich mit mehreren Chatprotokollen mischt, und einer klaren Sprache zeigt Berit Glanz deutlich und empathisch auf, wie sich prekäre Arbeitssituationen in der analogen und digitalen Welt ähneln und unterscheiden. Die Kapitelüberschriften in Tiffs Welt gleichen einer lateinischen Nomenklatur der Tier- und Pflanzenwelt und haben eine puzzleartige Bedeutung in den jeweiligen Kapiteln, bis am Ende der schöne covergebende Hauhechel-Bläuling das Ende berührend abrundet. Die Überschriften in Stellas Leben spielen mit dem Gegensatz der physischen Arbeit in der Natur, größtenteils mit Holz in der Anspielung auf die aussterbende Holzfällerarbeit des Großvaters.

Tiffs Ängste, aber auch ihr Fenster zum Hof (Hitchcock lässt grüßen), ihr Blick durch das Browserfenster hindurch ins analoge Leben eröffnet ihr selbst Heilungs- und Handlungsmöglichkeiten im eigenen Leben. Glanz spielt in ihrem klug arrangierten und vielschichtigen Roman gekonnt mit den neuen Möglichkeiten im digitalen Raum und entwickelt eine zutiefst menschliche Geschichte über Zusammenhalt, Hoffnung und Solidarität in einer W

Bewertung vom 04.05.2022
Der letzte Schrei
Sagiv, Yonatan

Der letzte Schrei


sehr gut

Schrille Sternchen
Der urkomische, bunte und schräg-provokante Debütroman des israelischen Schriftstellers und Wissenschaftlers von hebräischer Literatur Yonatan Sagiv sprengt alle Kategorien, Gender und Genres – in „Der letzte Schrei“ ermittelt der/die neuerkorene Privatdetektiv*in Oded 'Wühlmäuschen' Chefer in der schrillen High Society von Tel Aviv, wenn er/sie sich nicht gerade in vielfältigen, sexuellen Abenteuern verliert. Ein aufstrebendes Teenie-Popsternchen braucht seine Überwachung und ein anderer Fall scheint damit verknüpft zu sein – die scheinbar perfekte Aufgabe für jemanden, der kurz vor dem Abstieg war und nach den Sternen greifen möchte.

Aus der humorvoll-derben Ich-Perspektive des extravaganten und impulsiven Ermittlers erfährt der Leser fabulierfreudig und detailliert viel aus der LGBTQI+-Szene, geschmückt mit szenischem Lokalkolorit aus Tel Aviv und der israelischen Pop-Kultur. Rasant, frivol und chaotisch schlittert Oded dabei in die dunklen Geheimnisse der schrillen Oberschicht und in geheimnisvolle Verbindungen, die er nicht alle für sich behalten kann. Nebenbei erfährt der Leser bildgewaltig einiges aus dem turbulenten, queeren Privatleben des außergewöhnlichen Ermittlers.

Ein moderner, frecher und sprachlich sehr experimentierfreudiger Kriminalroman mit scharfzüngigen Dialogen, der schräg und bissig-humorvoll mit facettenreichen Vorurteilen spielt und skurril-unterhaltsam die rege queere Szene Israels mit Krimi-Elementen verwebt.