Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
Webervogel

Bewertungen

Insgesamt 68 Bewertungen
Bewertung vom 28.06.2021
Wie hat Ihnen das Anthropozän bis jetzt gefallen?
Green, John

Wie hat Ihnen das Anthropozän bis jetzt gefallen?


sehr gut

Kurioser Mix, wunderbar erzählt

Dieser Titel hat mich gleich angesprochen – im wahrsten Sinne des Wortes. Und das auch noch sehr höflich: „Wie hat Ihnen das Anthropozän bisher gefallen?“ Tja, gute Frage. Laut Wikipedia (das wiederum einen Artikel aus der NZZ zitiert) ist das Anthropozän „[das Zeitalter,] in dem der Mensch zu einem der wichtigsten Einflussfaktoren auf die biologischen, geologischen und atmosphärischen Prozesse auf der Erde geworden ist“. Es gibt verschiedene Ansätze, die den Beginn des Anthropozäns unterschiedlich datieren. Fest steht, dass es das einzige Zeitalter ist, das wir kennen. Aber was macht es eigentlich aus?

John Green nähert sich dieser Frage in kurzen Kapiteln, in denen er über Dinge, Momente und Erfahrungen schreibt, die für ihn mit dem Anthropozän verbunden sind – z.B. Klimaanlagen, Diet Dr Pepper und Jerzy Dudeks sportliche Leistung am 25. Mai 2005. Ich habe Dr Pepper noch nie getrunken und Jerzy Dudek sagte mir nichts. Aber das ist völlig egal, gerade letztere Geschichte habe ich gleich zweimal gelesen, weil sie mir so gut gefallen hat (und vermutlich auch, weil gerade EM ist und es thematisch so schön passt). Viele der Kapitel beziehen sich auf die USA, da Green ein amerikanischer Autor ist – mehrere Überschriften sagten mir gar nichts. Doch das stört beim Lesen in keiner Weise, denn von diesem Autor lässt man sich einfach gerne lesend an die Hand nehmen und zu den verschiedensten Themen dieses bunten Mixes führen.

Allerdings erzählt John Green nicht nur – er bewertet auch, nach der bewährten 5-Sterne-Skala, die wir alle aus dem Internet kennen. Sogar sein eigenes Buch ist nicht vor ihm sicher; er lässt sich kritisch über Copyrightseite, Titelseite und die Buchwerbung am Schluss aus. Ansonsten bewertet er von Kanadagänsen (zwei Sterne) über unsere Fähigkeit zu staunen (dreieinhalb Sterne) bis hin zum Halleyschen Kometen (viereinhalb Sterne) jedes Thema, das er unter die Lupe nimmt – aber erst, nachdem er es sorgsam von mehreren Seiten beleuchtet hat. Green schreibt über seine persönliche Beziehung dazu, seine Gedanken, seine Erlebnisse und reichert das Ganze mit Fakten und (zum Teil wunderbar unnützem) Wissen an. Das liest sich mal faszinierend, mal skurril, mal anrührend, macht großen Spaß und bringt gleichzeitig zum Nachdenken. Die Art, in der John Green über Emotionen schreibt, hat mich dabei an Matt Haig erinnert und mir sehr gefallen.

Apropos: Wie hat mir das Anthropozän denn nun bis jetzt gefallen? Die Antwort auf diese Frage in eine 5-Sterne-Skala zu pressen, erscheint mir unmöglich. Aber John Greens Buch, dem gebe ich viereinhalb Sterne.

Bewertung vom 06.06.2021
Dein ist das Reich
Döbler, Katharina

Dein ist das Reich


sehr gut

Auf Südsee-Mission

„Dein ist das Reich“ – was für ein mächtiger Titel. Er scheint gleich auf Mehreres anzuspielen: auf das Gottvertrauen der Protagonisten, aber auch auf das Reich Gottes, das sie den Papua auf Neuguinea nahebringen wollen. Die Idee, in ein fremdes Land einzudringen und den Einheimischen die eigene Kultur aufzuzwingen, könnte ebenfalls mitschwingen. Denn um all das geht es in diesem Buch, in dem die Autorin Katharina Döbler ihre eigene Familiengeschichte verarbeitet.

1913 verlassen Döblers spätere Großväter Heiner Mohr und Johann Hensolt ihre fränkische Heimat und begeben sich auf eine lange Schiffsreise – noch nicht ahnend, dass sie dadurch dem Ersten Weltkrieg entgehen werden. Die jungen Männer sind von dem lutherischen Missionswerk in Neuendettelsau entsandt und auf dem Weg nach Kaiser-Wilhelms-Land, wie die deutsche Südsee-Kolonie heißt. Johann wird dort als Missionar arbeiten und Heiner als Pflanzer für die Bewirtschaftung einer Palmenplantage verantwortlich sein. Beide sind erst Anfang zwanzig.
Nach dem Ersten Weltkrieg wird die Kolonie australisches Mandatsgebiet, doch die deutschen Missionsabgesandten dürfen bleiben und sogar ihre Bräute aus Deutschland nachholen. Marie und Linette sind grundverschieden und lernen sich auch erst viele Jahre später kennen, da die Familien in unterschiedlichen Teilen Neuguineas leben. Doch ihre Kinder, von denen sich zwei – Döblers Eltern – nach dem Zweiten Weltkrieg verloben werden, eint die Sehnsucht nach dem inzwischen verlorenen Paradies.

Man kann sich heute kaum vorstellen, wie es ist, die Heimat zu verlassen, um in einem Land zu leben, das man nur von ein paar Reiseberichten und Schwarzweißfotografien kennt. Und dann geht es noch nicht mal „nur“ um das Leben in der Fremde, sondern sie soll auch noch nach deutschen Vorstellungen bewirtschaftet und gestaltet werden, die indigenen Völker erzogen und missioniert. Die vier Franken glauben an ihren Auftrag, gehen mit der Herausforderung jedoch so unterschiedlich um wie mit dem später aufkeimenden Nationalsozialismus.

Döblers Roman tastet sich behutsam an die fiktionalisierten Schicksale ihrer Großeltern heran. Immer wieder werden alte Fotos und ihre Erinnerungen an Gespräche mit Familienangehörigen beschrieben. Doch am Lebendigsten lesen sich die Geschehnisse in Neuguinea. Was Kolonialismus bedeutet, wie Mission funktioniert – oder eben auch nicht: Döbler macht diese Themen nahbar. „Dein ist das Reich“ ist keine leichte oder bequeme Kost, der koloniale Rassismus und die Verkennung der politischen Entwicklung schmerzen ab und zu richtiggehend. Die unterschiedlichen Haltungen von Linette, Johann, Marie und Heiner regen außerdem zum Nachdenken an: Welche Irrungen sind im historischen Kontext nachvollziehbar – und welche nicht? Was macht Macht mit Menschen? Eine spannende Ergänzung wäre die Sicht der Papua auf die beschriebenen Missionsabgesandten, doch diese hätte den Roman sicher gesprengt. „Dein ist das Reich“ zerrt ein Stück eher unbekannter deutscher Kolonialgeschichte ans Licht, gewährt einen vielschichtigen Zugang dazu und trägt dazu bei, es vor dem Vergessen zu bewahren.

Bewertung vom 16.05.2021
Laudatio auf eine kaukasische Kuh (eBook, ePUB)
Jodl, Angelika

Laudatio auf eine kaukasische Kuh (eBook, ePUB)


gut

Zwischen Männern und Kulturen

„Laudatio auf eine kaukasische Kuh“ – das klingt nach einem Hohelied auf die Viehhaltung. Die Kuh spielt allerdings nur eine kleine Nebenrolle in diesem Roman. Hauptfigur ist die angehende Ärztin Olga Evgenidou, die in Bonn kurz vor dem letzten Staatsexamen steht und mit ihrem Medizinerfreund Felix van Saan glücklich zu sein scheint. Einziger Wermutstropfen: Irgendwann muss sie ihm ihre in München lebende Familie vorstellen und blickt diesem Culture Clash mit Grauen entgegen. Denn auch wenn sie schon viele Jahre in Deutschland leben, sind Olgas Eltern und Großmutter noch sehr in der griechisch-georgischen Kultur verwurzelt. Außerdem versucht ihre Mutter, Olga zu verheiraten, seit diese 15 Jahre alt ist. Natürlich weiß die Familie nichts von Felix – und natürlich hat sie sehr konkrete, eigene Vorstellungen vom zukünftigen Schwiegersohn …

Der Spagat zwischen ihrem unabhängigen Leben und ihrer Familie verlangt Olga einiges ab und liest sich dabei oft amüsant. Doch plötzlich steht sie nicht nur zwischen zwei Kulturen, sondern auch zwei Männern. Und ab da konnte ich ihre Gefühlslagen nicht mehr so recht nachvollziehen; Felix‘ Rivale Jack Jennerwein ist nämlich zunächst vor allem eins: aufdringlich. Die Annäherungsversuche des rastlosen Lebenskünstlers gehen schon in Richtung Stalking.

Auch mit einigen familiären Beziehungen tat ich mich schwer; Olgas Mutter ist zum Beispiel eine manipulative Drama-Queen, der die Gefühle der eigenen Tochter herzlich egal sind. Die nahbareren Charaktere bleiben eher blass. Und so konnte ich auf der zwischenmenschlichen Ebene nicht so richtig mitfühlen und mitfiebern; vermutlich fand ich die Entwicklungen deswegen auch etwas langatmig erzählt. Am Ende überschlagen sich die Ereignisse dann; die schnelle Abhandlung der letzten Kapitel wurde der Geschichte und den Protagonisten in meinen Augen allerdings auch nicht gerecht.
Etwas aufgefangen hat das der Georgien-Teil, denn im Laufe der Geschichte verschlägt es den Großteil der Protagonisten in das Herkunftsland von Olgas Eltern. Im Gegensatz zur Autorin war ich noch nie dort, aber die „Laudatio auf eine kaukasische Kuh“ macht große Lust, das zu ändern: Georgien wird als facettenreiches und gastfreundliches Land bunt und liebevoll geschildert. Der Roman vermittelt einen lebhaften ersten Eindruck von Sitten und Gebräuchen, Essen und Wein – letzterer wird mehrmals so anschaulich beschrieben, dass ich mir zur Lektüre gerne selbst ein Gläschen eingeschenkt hätte. Und so ist mein Interesse an der kaukasischen Kuh bzw. Georgien an sich doch etwas größer geblieben als das an Olgas Beziehungsleben.

Bewertung vom 16.05.2021
Die Mitternachtsbibliothek
Haig, Matt

Die Mitternachtsbibliothek


ausgezeichnet

What if ...

Vermutlich fragt sich jede und jeder mal, was gewesen wäre, wenn man irgendeine Abzweigung im Leben anders genommen hätte. Wäre man glücklicher und erfolgreicher geworden – oder wäre alles furchtbar schiefgelaufen? Der britische Autor Matt Haig spielt diesen Gedanken in seinem neuesten Buch durch, was mich so gefesselt hat, dass ich es innerhalb eines Wochenendes ausgelesen habe. Ein faszinierender Roman!

„Die Mitternachtsbibliothek“ beginnt damit, dass Nora Seeds Leben in Trümmern zu liegen scheint. Sie hat’s vermasselt – und nicht erst seit gestern. Schon als Teenager hat sie trotz vielversprechender Erfolge den Profisport aufgegeben. Die Band ihres Bruders hatte bereits einen Plattenvertrag in Aussicht, doch dann ist sie als Sängerin abgesprungen. Ihrem Ex-Verlobten hat sie das Herz gebrochen, zudem wird sie arbeitslos und dann stirbt auch noch ihre Katze. Nora Seed will nicht mehr leben – und lässt diesem Wunsch Taten folgen.

Allerdings landet sie nicht im ersehnten, sanften Vergessen, sondern in einer Art Pausenraum zwischen Leben und Tod – der titelgebenden Mitternachtsbibliothek. Dort bekommt Nora die Chance, die Dinge rückwirkend zu ändern. Sie kann längst getroffene Entscheidungen umkehren und in das daraus resultierende Leben schlüpfen. Was nicht bedeutet, dass sie in die Vergangenheit reist – Nora bleibt ihr 35-jähriges Ich und muss sich in jeweils dem Leben zurechtfinden, das sich aus einer anders getroffenen Entscheidung ergeben hat. Gelingt ihr das nicht bzw. entspricht es nicht ihren Vorstellungen, gelangt sie zurück in die Mitternachtsbibliothek und das Spiel beginnt von Neuem.

„Die Mitternachtsbibliothek“ liest sich kurzweilig, ist aber weit mehr als gute Unterhaltung. Ganz nebenbei beschäftigt sich der Roman mit existentiellen Fragen: Was definiert eigentlich ein „gelungenes“ Leben? Wie viel Einfluss darauf haben wir? Und was ist Glück?
Mit Nora hat Matt Haig außerdem eine Protagonistin geschaffen, in die man sich bestens einfühlen kann. Dem Autor gelingt es, Emotionen in ihrer ganzen Tiefe auszuloten. Haig hat eigene Erfahrungen mit Depressionen und Angstzuständen gemacht und auch darüber bereits geschrieben. Er schafft es, auch Außenstehenden den Hauch einer Ahnung von den Abgründen zu vermitteln, in die ein depressiver Mensch blickt. Seine Schilderungen wirken stimmig und einfühlsam; der Roman pendelt spielend zwischen Schwere und Leichtigkeit und feiert gleichzeitig das Leben in all seinen Facetten. Mir hat er unheimlich gut gefallen.

Bewertung vom 24.04.2021
Hauskonzert
Levit, Igor;Zinnecker, Florian

Hauskonzert


ausgezeichnet

Pointiertes Porträt

„Hauskonzert“ ist, wie auf den letzten Seiten auch noch einmal thematisiert wird, nicht das typische „Pianistenbuch“ (wobei es zugegebenermaßen das erste Pianistenbuch ist, das ich überhaupt gelesen habe). Und es handelt auch längst nicht nur vom Klavierspielen. Themen sind eine Erfolgsgeschichte mit vielen Rückschlägen, die Rezeption von Kunst, aber auch der Umgang von Menschen miteinander. Das Ganze ist klar und schnörkellos geschrieben und macht gleichzeitig die Faszination von klassischer Musik und die Leidenschaft dafür spürbar.

Autor Florian Zinnecker ist stellvertretender Ressortleiter der Wochenzeitung „Die Zeit“ und auch das merkt man „Hauskonzert“ an: Es liest sich wie ein langes, fesselndes und immer wieder auch pointiertes Porträt, das ich gar nicht mehr zur Seite legen wollte.
Dabei hatte ich mich mit Igor Levit bislang nur wenig beschäftigt und höre klassische Musik äußerst selten. Dass dieses Buch mich von Anfang an gepackt hat, lag sicher auch am ungewöhnlichen Blick hinter die Kulissen des Konzertbetriebs. Aber vor allem an der Skizzierung von Levits Person: Sie wirkt komplett authentisch, denn da wird ein Künstler mit Ecken und Kanten und Schwächen sehr menschlich beschrieben – und das im Kontext eines Jahres, das gerade für Künstler sehr schwierig war. Auch das macht den Reiz dieses Buches aus: Geplant wurde es im Dezember 2019, der Konzerttourneeplan für 2020 stand, und dass er ab Mitte März pandemiebedingt komplett umgeworfen werden würde, war noch nicht abzusehen. Levits Perspektive auf diese Zäsur – als Pianist, der sich Rang und Namen bereits erspielt hat – ist spannend zu lesen.

Und dann beschäftigen sich Igor Levit und Florian Zinnecker noch mit Themen, die so gar nichts mit Kunst zu tun haben, mit denen ersterer aber immer wieder konfrontiert wird: Antisemitismus, Rassismus, Hetze. Der Hass im Netz flammt auf, seit Levit sich zu gesellschaftspolitischen und ökologischen Themen öffentlich äußert. Was ihn dabei antreibt und wie er damit umgeht, wird in „Hauskonzert“ ebenfalls angesprochen. Und so gibt es hier Einblicke und Denkanstöße, die dieses „Pianistenbuch“ tatsächlich einzigartig machen.

Bewertung vom 22.03.2021
Kim Jiyoung, geboren 1982
Cho, Nam-joo

Kim Jiyoung, geboren 1982


ausgezeichnet

Ausweglos

Die Südkoreanerin Kim Jiyoung ist verheiratet und Mutter einer kleinen Tochter, als sie 2015 plötzlich schizophrene Schübe erleidet. Sie schlüpft gegenüber ihrem Mann in die Rolle ihrer Mutter, ihres Kindes oder einer Freundin und artikuliert deren Bedürfnisse, als wären es ihre. Danach kann sie sich an nichts erinnern. Im Folgenden arbeitet ein Psychiater Jiyoungs Lebensgeschichte auf, die in diesem Buch erzählt wird.

Der Ton des Romans ist dann auch sachlich berichtend und hat mich gerade dadurch berührt. Hier wird nicht erklärt oder bewertet, sondern ein durchschnittliches Frauenleben beschrieben. Für Jiyoungs Familie beginnt es bereits mit einer Enttäuschung, hatte diese doch auf einen Sohn gehofft. Werden Jiyoung und ihre ältere Schwester dennoch von ihren Eltern geliebt? Nichts spricht dagegen. Aber sie sind eben „nur“ Mädchen. Mädchen, die in einer erschreckend patriarchalischen Gesellschaft von Beginn an systematisch diskriminiert werden. Und die dennoch viel mehr Möglichkeiten und Freiheiten haben als ihre Mütter und Großmütter und dadurch in einem seltsamen Spannungsfeld aufwachsen.

Ungewöhnlich wird die Geschichte dadurch, dass Jiyoung eben nicht die rebellierende Heldin ist, über die normalerweise Romane geschrieben werden. Schon auf dem Cover ist sie gesichtsloser Durchschnitt. Jiyoung akzeptiert die Sonderstellung des kleinen Bruders. Sie geht nicht auf die Barrikaden, weil Mädchen keine Klassensprecherinnen werden können. Sie wird nicht wütend, wenn man ihr Schuldgefühle einredet, weil Jungen sie belästigen. Kurz gesagt ist sie so, wie die Gesellschaft sie haben möchte: folgsam, angepasst, diszipliniert und strebsam. Jiyoung ist von klein auf bewusst, dass sie besser sein muss als ihre männlichen Altersgenossen. Doch sie erfährt auch immer wieder, dass selbst das nicht reicht, um annähernd gleiche Chancen zu bekommen: in der Schule, im Studium, im Job.

Autorin Cho Nam-Joo unterfüttert ihren Roman ab und an mit Fußnoten, in denen sie genannte Zahlen belegt, z.B. zu Abtreibungen oder zum Gender-Pay-Gap. Die lakonische Erzählung bekommt dadurch noch mehr Gewicht. Die männlichen Nebenfiguren bleiben blass in diesem Roman, Protagonistin Jiyoung ist es jedoch auch – auf eine erschütternde Weise. Sie ist nicht die sanfte Lenkerin ihres Mannes, wie ihre Mutter. Sie begehrt nicht auf, wie ihre Schwester. Sie erfüllt die Erwartungen, wie sie es von Kindesbeinen an gelernt hat. Und führt den Lesenden vor Augen, was sie davon hat: nicht das Leben, das sie wollte.
Die Situation in Südkorea ist speziell, Jiyoungs Geschichte jedoch trotzdem universell – einzelne Aspekte ihres Lebens werden überall nachvollzogen werden können. Und so entwickelt dieser emotionslos und kompakt erzählte Roman einen ganz eigenen, traurigen Nachhall und rüttelt gerade dadurch auf.

Bewertung vom 09.03.2021
Hard Land
Wells, Benedict

Hard Land


ausgezeichnet

Der Sommer seines Lebens

Eine von Benedict Wells Figuren sammelt gelungene erste Sätze und ich bin mir ziemlich sicher, dass ihr auch der Beginn von „Hard Land“ gefallen hätte: „In diesem Sommer verliebte ich mich, und meine Mutter starb.“ Was für ein Einstieg! Ich-Erzähler Sam berichtet davon, wie sich sein ganzes Leben innerhalb weniger Wochen verändert. Ein Leben, in dem sich der fast 16-jährige Außenseiter nicht allzu wohl fühlt: Seine Heimatstadt Grady ist ziemlich verschlafen, sein einziger Freund weggezogen, sein Vater arbeitslos und seine Mutter hat einen Hirntumor. Doch als er in den Sommerferien einen Job im örtlichen Kino annimmt, lernt er Cameron, Hightower und Kirstie kennen, die Grady im Herbst verlassen und aufs College gehen werden. Erst belächeln sie Sam, aber schließlich wird aus der Dreier- eine Viererclique. Und so wird dieser Sommer aufregend, wundervoll und komisch, aber auch todtraurig. Und am Ende ist Sam ein anderer.

Benedict Wells ist 1984 in München geboren, sein Roman spielt nur ein Jahr später in Missouri. „Hard Land“ liest sich allerdings so atmosphärisch dicht, dass nicht nur der Autor die staubigen Straßen des Mittleren Westens bestens zu kennen scheint, sondern man sie selbst vor sich sieht. Neben Gradys Kinoprogramm, das ein Wiedersehen mit „Zurück in die Zukunft“ und anderen Klassikern möglich macht, wird auch die Musik der 80er immer wieder erwähnt: sie läuft im Fernsehen, auf Partys und im Bruce-Mobil, in dem ausschließlich Springsteen-Songs gespielt werden dürfen. Am Ende des Romans hat Wells den Soundtrack zum Buch sogar aufgelistet; wobei ich schon beim Lesen Ohrwürmer von „I’m on fire“ und „Dancing with myself“ bekam.

Die Geschichte wirkt bis ins kleinste Detail stimmig, aber vor allem berührt sie. „Hard Land“ ist ein sensibel erzählter Coming-of-Age-Roman, der weder vor den großen noch kleinen Emotionen zurückschreckt, ohne je ins Rührselige abzudriften. Einfühlsam und vor allem großartig geschrieben, widmet er sich einem ganz besonderen Sommer und enthält dabei ein paar Wahrheiten, die nostalgisch und nachdenklich machen. Absolute Empfehlung.

Bewertung vom 26.02.2021
Die vier Gezeiten (eBook, ePUB)
Prettin, Anne

Die vier Gezeiten (eBook, ePUB)


gut

Schicksalsüberladen

Dieser Roman handelt von vielen Frauen: Von einer, die in den 1930er Jahren auf Juist aufwächst und miterlebt, wie sich der Nationalsozialismus auf der Nordseeinsel ausbreitet. Von einer, die dort in den 1960er Jahren vier Töchter an der Seite eines Mannes aufzieht, den sie nicht liebt. Von einer, die Ende der 1970er aus Verzweiflung im Watt verschwindet. Und von einer Neuseeländerin, die 2008 auf der Suche nach ihrer leiblichen Mutter nach Juist kommt.
Aber das ist noch nicht alles: Neben weiteren Frauenfiguren gibt es noch einen narzisstischen Familienpatriarchen, Altnazis und Umweltschützer; es ereignen sich gleich mehrere ungeplante Schwangerschaften und die deutsch-deutsche Geschichte spielt auch noch eine Rolle. Ganz schön viel für 480 Seiten! „Die vier Gezeiten“ sind leider so überladen mit Dramen, dass der Roman längst nicht jedem Handlungsstrang gerecht werden kann. Durch eine Fokussierung auf weniger Figuren hätte die Geschichte vermutlich gewonnen. Irritierend fand ich auch die Häufung der Schicksalsschläge innerhalb einer Familie, die aber kaum darüber spricht. Und das ist dann auch mein zweiter Kritikpunkt: Ich fand es nicht stimmig, wie wenig sich die einzelnen, größtenteils miteinander verwandten Protagonisten untereinander austauschen. Sicher kommt es vor, dass Gespräche zwischen Familienmitgliedern an der Oberfläche bleiben, aber hier nimmt es sehr seltsame Züge an; naheliegende Reaktionen bleiben oft aus. Das Verhalten gleich mehrerer Figuren wirkt dadurch etwas bizarr. Autorin Anne Prettin fügt ihre vielen Handlungsstränge zwar am Ende des Romans zusammen, aber auch im Nachhinein wird so längst nicht jede Reaktion auch nur halbwegs schlüssig erklärt.

Komplett überzeugend sind dagegen die Juist-Beschreibungen. Die Inselatmosphäre schwingt überall mit: Sonne, Strand und Sanddorn, Hammersee und Domäne Bill, Flughafen und Inselbahn – alles kommt vor und man fühlt fast, wie einem die Nordseeluft um die Nase streicht. Und so sind „Die vier Gezeiten“ schon ein gedanklicher Ausflug ans Meer, aber eben ein sehr überladener. Prettin hätte ihren vielen Protagonisten ruhig etwas weniger zumuten dürfen.

Bewertung vom 04.02.2021
Das Einmaleins des Glücks
Collette, Katherine

Das Einmaleins des Glücks


sehr gut

Gefühlslegasthenikerin im Gewissenskonflikt

Die 37-jährige Mathematikerin Germaine ist anders als die anderen. Von Zahlen versteht sie viel, von Menschen wenig. Zwischentöne sind ihr fremd, Fettnäpfchen nicht – wobei sie meist noch nicht einmal bemerkt, wenn sie wieder einmal in eins gestolpert ist. Durch Vermittlung ihrer Cousine erhält sie eine Stelle bei der Stadtverwaltung und wird ausgerechnet am Beratungstelefon für Senioren eingesetzt, was ihr überhaupt nicht zusagt. Zum Glück hat die Bürgermeisterin Höheres mit der leidenschaftlichen Sudoku-Spielerin vor und schiebt ihr Spezialaufträge zu. Nach und nach stellt sich allerdings heraus, dass diese ganz und gar nicht im Interesse der Senioren sind. Und plötzlich steckt die sonst sehr auf ihren eigenen Vorteil bedachte Germaine in einem Gewissenskonflikt.

Wer Graeme Simsions „Rosie-Projekt“, „Rosie-Effekt“ und „Rosie-Resultat“ mochte, wird vermutlich auch Germaine ins Herz schließen, auch wenn das gar nicht so einfach ist. Die Gefühlslegasthenikerin hat nämlich nicht nur Probleme, ihre Mitmenschen zu verstehen, sie sind ihr auch relativ egal. Germaine fühlt sich verkannt, ist ehrgeizig und sehnt sich nach jemandem, der ihr Potential zu schätzen weiß. Nach und nach wird klar, dass sie in ihrem Leben einige große Enttäuschungen erlebt und sich daher einen ziemlich dicken Schutzpanzer zugelegt hat.

Germaines zwischenmenschliche Begriffsstutzigkeit ist ab und an ganz erheiternd, allerdings nutzt sich dieser Effekt mit der Zeit ab. Etwas bedauert habe ich, dass alle anderen Charaktere doch recht blass bleiben, obwohl sie durchaus Potential hätten. Autorin Katherine Collette hat offensichtlich ein Herz und Händchen für leicht skurrile, verschrobene Figuren, konzentriert sich aber komplett auf Germaine. Etwas mehr Abwechslung hätte die Geschichte bereichern können.

Trotzdem ist „Das Einmaleins des Glücks“ gut lesbar, hat mich immer mal wieder zum Schmunzeln gebracht und am Ende zufrieden zurückgelassen. Eine nette Zwischendurch-Lektüre.

Bewertung vom 30.01.2021
Sprich mit mir
Boyle, T. C.

Sprich mit mir


ausgezeichnet

Zwischen Tier und Mensch

Sprich mit mir In dieser außergewöhnlichen Geschichte geht es um verschwimmende Grenzen und darum, was möglich ist, was moralisch ist, was das Beste ist – aber auch um Liebe und Vertrauen aus einer gänzlich ungewöhnlichen Perspektive. Auch Kommunikation ist ein großes Thema, wie der Titel „Sprich mit mir“ schon erahnen lässt. Hauptfigur Sam kann zwar nicht sprechen, sich aber in Zeichensprache verständlich machen sowie zuhören. An und für sich mag das noch nicht so ungewöhnlich sein – doch Sam ist ein Schimpansenkind. Ein 10.000 Dollar-Menschenaffe, der im Rahmen eines Spracherwerb-Forschungsprojekts von Professor Guy Schermerhorn menschlich erzogen wird. Und so wächst Sam in einem kalifornischen Ranchhaus auf, lernt sich mit Menschen zu verständigen, isst Cheeseburger und schläft in einem Bett. Sogar ins Fernsehen schafft er es, als Guy mit ihm in einer Rateshow auftritt. Dadurch erfährt die introvertierte Studentin Aimee von dem Forschungsprojekt und wird kurz darauf von Guy als Hilfskraft eingestellt. Sie und Sam haben sofort eine Verbindung zueinander und schon bald ist die Beziehung zu ihrem Schützling die wichtigste in Aimees Leben. Für Guys Mentor, Dr. Moncrief ist der Schimpanse jedoch nur eines von vielen teuren Versuchstieren – und sein Eigentum. Und als er beschließt, die Forschung einzustellen und Sam in seinen Schimpansenstall nach Iowa zu holen, stellt das nicht nur dessen Leben auf den Kopf.

Zwei unterschiedliche Perspektiven wechseln sich in diesem Roman kapitelweise ab: Eine menschliche (meist Aimees) und Sams tierische. Die Kapitel aus Sams Sicht sind wesentlich kürzer und handeln von seinen Empfindungen und Bedürfnissen. Die Gedanken des menschlich aufgezogenen Affens erscheinen sowohl tierisch als auch ziemlich gut nachvollziehbar. Ob Mensch oder Schimpanse: T. C. Boyle hat facettenreiche Charaktere erschaffen, die aus sehr unterschiedlichen Motivationen handeln und dabei durch und durch authentisch wirken. Manche Episoden greift „Sprich mit mir“ zwei- oder sogar dreimal auf; aus Sams sowie aus Aimees und/oder Guys Perspektive. Langeweile kommt dabei nicht auf, denn die unterschiedlichen Bewertungen von Situationen lesen sich spannend. Und nicht nur Aimee und Guy sinnieren ab und an, was Forschung kann und Forschung darf – auch als Leserin habe ich mir diese Frage immer wieder gestellt. Denn Sam ist zwar kein Mensch, doch auch mit seinen Artgenossen hat er nicht mehr viel gemein. Ist das gut für ihn? Bis zum Schluss habe ich mit ihm und Aimee mitgefiebert und konnte den Roman kaum mehr aus der Hand legen.