Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
Webervogel

Bewertungen

Insgesamt 64 Bewertungen
Bewertung vom 24.04.2021
Hauskonzert
Levit, Igor;Zinnecker, Florian

Hauskonzert


ausgezeichnet

Pointiertes Porträt

„Hauskonzert“ ist, wie auf den letzten Seiten auch noch einmal thematisiert wird, nicht das typische „Pianistenbuch“ (wobei es zugegebenermaßen das erste Pianistenbuch ist, das ich überhaupt gelesen habe). Und es handelt auch längst nicht nur vom Klavierspielen. Themen sind eine Erfolgsgeschichte mit vielen Rückschlägen, die Rezeption von Kunst, aber auch der Umgang von Menschen miteinander. Das Ganze ist klar und schnörkellos geschrieben und macht gleichzeitig die Faszination von klassischer Musik und die Leidenschaft dafür spürbar.

Autor Florian Zinnecker ist stellvertretender Ressortleiter der Wochenzeitung „Die Zeit“ und auch das merkt man „Hauskonzert“ an: Es liest sich wie ein langes, fesselndes und immer wieder auch pointiertes Porträt, das ich gar nicht mehr zur Seite legen wollte.
Dabei hatte ich mich mit Igor Levit bislang nur wenig beschäftigt und höre klassische Musik äußerst selten. Dass dieses Buch mich von Anfang an gepackt hat, lag sicher auch am ungewöhnlichen Blick hinter die Kulissen des Konzertbetriebs. Aber vor allem an der Skizzierung von Levits Person: Sie wirkt komplett authentisch, denn da wird ein Künstler mit Ecken und Kanten und Schwächen sehr menschlich beschrieben – und das im Kontext eines Jahres, das gerade für Künstler sehr schwierig war. Auch das macht den Reiz dieses Buches aus: Geplant wurde es im Dezember 2019, der Konzerttourneeplan für 2020 stand, und dass er ab Mitte März pandemiebedingt komplett umgeworfen werden würde, war noch nicht abzusehen. Levits Perspektive auf diese Zäsur – als Pianist, der sich Rang und Namen bereits erspielt hat – ist spannend zu lesen.

Und dann beschäftigen sich Igor Levit und Florian Zinnecker noch mit Themen, die so gar nichts mit Kunst zu tun haben, mit denen ersterer aber immer wieder konfrontiert wird: Antisemitismus, Rassismus, Hetze. Der Hass im Netz flammt auf, seit Levit sich zu gesellschaftspolitischen und ökologischen Themen öffentlich äußert. Was ihn dabei antreibt und wie er damit umgeht, wird in „Hauskonzert“ ebenfalls angesprochen. Und so gibt es hier Einblicke und Denkanstöße, die dieses „Pianistenbuch“ tatsächlich einzigartig machen.

Bewertung vom 22.03.2021
Kim Jiyoung, geboren 1982
Cho, Nam-joo

Kim Jiyoung, geboren 1982


ausgezeichnet

Ausweglos

Die Südkoreanerin Kim Jiyoung ist verheiratet und Mutter einer kleinen Tochter, als sie 2015 plötzlich schizophrene Schübe erleidet. Sie schlüpft gegenüber ihrem Mann in die Rolle ihrer Mutter, ihres Kindes oder einer Freundin und artikuliert deren Bedürfnisse, als wären es ihre. Danach kann sie sich an nichts erinnern. Im Folgenden arbeitet ein Psychiater Jiyoungs Lebensgeschichte auf, die in diesem Buch erzählt wird.

Der Ton des Romans ist dann auch sachlich berichtend und hat mich gerade dadurch berührt. Hier wird nicht erklärt oder bewertet, sondern ein durchschnittliches Frauenleben beschrieben. Für Jiyoungs Familie beginnt es bereits mit einer Enttäuschung, hatte diese doch auf einen Sohn gehofft. Werden Jiyoung und ihre ältere Schwester dennoch von ihren Eltern geliebt? Nichts spricht dagegen. Aber sie sind eben „nur“ Mädchen. Mädchen, die in einer erschreckend patriarchalischen Gesellschaft von Beginn an systematisch diskriminiert werden. Und die dennoch viel mehr Möglichkeiten und Freiheiten haben als ihre Mütter und Großmütter und dadurch in einem seltsamen Spannungsfeld aufwachsen.

Ungewöhnlich wird die Geschichte dadurch, dass Jiyoung eben nicht die rebellierende Heldin ist, über die normalerweise Romane geschrieben werden. Schon auf dem Cover ist sie gesichtsloser Durchschnitt. Jiyoung akzeptiert die Sonderstellung des kleinen Bruders. Sie geht nicht auf die Barrikaden, weil Mädchen keine Klassensprecherinnen werden können. Sie wird nicht wütend, wenn man ihr Schuldgefühle einredet, weil Jungen sie belästigen. Kurz gesagt ist sie so, wie die Gesellschaft sie haben möchte: folgsam, angepasst, diszipliniert und strebsam. Jiyoung ist von klein auf bewusst, dass sie besser sein muss als ihre männlichen Altersgenossen. Doch sie erfährt auch immer wieder, dass selbst das nicht reicht, um annähernd gleiche Chancen zu bekommen: in der Schule, im Studium, im Job.

Autorin Cho Nam-Joo unterfüttert ihren Roman ab und an mit Fußnoten, in denen sie genannte Zahlen belegt, z.B. zu Abtreibungen oder zum Gender-Pay-Gap. Die lakonische Erzählung bekommt dadurch noch mehr Gewicht. Die männlichen Nebenfiguren bleiben blass in diesem Roman, Protagonistin Jiyoung ist es jedoch auch – auf eine erschütternde Weise. Sie ist nicht die sanfte Lenkerin ihres Mannes, wie ihre Mutter. Sie begehrt nicht auf, wie ihre Schwester. Sie erfüllt die Erwartungen, wie sie es von Kindesbeinen an gelernt hat. Und führt den Lesenden vor Augen, was sie davon hat: nicht das Leben, das sie wollte.
Die Situation in Südkorea ist speziell, Jiyoungs Geschichte jedoch trotzdem universell – einzelne Aspekte ihres Lebens werden überall nachvollzogen werden können. Und so entwickelt dieser emotionslos und kompakt erzählte Roman einen ganz eigenen, traurigen Nachhall und rüttelt gerade dadurch auf.

Bewertung vom 09.03.2021
Hard Land
Wells, Benedict

Hard Land


ausgezeichnet

Der Sommer seines Lebens

Eine von Benedict Wells Figuren sammelt gelungene erste Sätze und ich bin mir ziemlich sicher, dass ihr auch der Beginn von „Hard Land“ gefallen hätte: „In diesem Sommer verliebte ich mich, und meine Mutter starb.“ Was für ein Einstieg! Ich-Erzähler Sam berichtet davon, wie sich sein ganzes Leben innerhalb weniger Wochen verändert. Ein Leben, in dem sich der fast 16-jährige Außenseiter nicht allzu wohl fühlt: Seine Heimatstadt Grady ist ziemlich verschlafen, sein einziger Freund weggezogen, sein Vater arbeitslos und seine Mutter hat einen Hirntumor. Doch als er in den Sommerferien einen Job im örtlichen Kino annimmt, lernt er Cameron, Hightower und Kirstie kennen, die Grady im Herbst verlassen und aufs College gehen werden. Erst belächeln sie Sam, aber schließlich wird aus der Dreier- eine Viererclique. Und so wird dieser Sommer aufregend, wundervoll und komisch, aber auch todtraurig. Und am Ende ist Sam ein anderer.

Benedict Wells ist 1984 in München geboren, sein Roman spielt nur ein Jahr später in Missouri. „Hard Land“ liest sich allerdings so atmosphärisch dicht, dass nicht nur der Autor die staubigen Straßen des Mittleren Westens bestens zu kennen scheint, sondern man sie selbst vor sich sieht. Neben Gradys Kinoprogramm, das ein Wiedersehen mit „Zurück in die Zukunft“ und anderen Klassikern möglich macht, wird auch die Musik der 80er immer wieder erwähnt: sie läuft im Fernsehen, auf Partys und im Bruce-Mobil, in dem ausschließlich Springsteen-Songs gespielt werden dürfen. Am Ende des Romans hat Wells den Soundtrack zum Buch sogar aufgelistet; wobei ich schon beim Lesen Ohrwürmer von „I’m on fire“ und „Dancing with myself“ bekam.

Die Geschichte wirkt bis ins kleinste Detail stimmig, aber vor allem berührt sie. „Hard Land“ ist ein sensibel erzählter Coming-of-Age-Roman, der weder vor den großen noch kleinen Emotionen zurückschreckt, ohne je ins Rührselige abzudriften. Einfühlsam und vor allem großartig geschrieben, widmet er sich einem ganz besonderen Sommer und enthält dabei ein paar Wahrheiten, die nostalgisch und nachdenklich machen. Absolute Empfehlung.

Bewertung vom 26.02.2021
Die vier Gezeiten (eBook, ePUB)
Prettin, Anne

Die vier Gezeiten (eBook, ePUB)


gut

Schicksalsüberladen

Dieser Roman handelt von vielen Frauen: Von einer, die in den 1930er Jahren auf Juist aufwächst und miterlebt, wie sich der Nationalsozialismus auf der Nordseeinsel ausbreitet. Von einer, die dort in den 1960er Jahren vier Töchter an der Seite eines Mannes aufzieht, den sie nicht liebt. Von einer, die Ende der 1970er aus Verzweiflung im Watt verschwindet. Und von einer Neuseeländerin, die 2008 auf der Suche nach ihrer leiblichen Mutter nach Juist kommt.
Aber das ist noch nicht alles: Neben weiteren Frauenfiguren gibt es noch einen narzisstischen Familienpatriarchen, Altnazis und Umweltschützer; es ereignen sich gleich mehrere ungeplante Schwangerschaften und die deutsch-deutsche Geschichte spielt auch noch eine Rolle. Ganz schön viel für 480 Seiten! „Die vier Gezeiten“ sind leider so überladen mit Dramen, dass der Roman längst nicht jedem Handlungsstrang gerecht werden kann. Durch eine Fokussierung auf weniger Figuren hätte die Geschichte vermutlich gewonnen. Irritierend fand ich auch die Häufung der Schicksalsschläge innerhalb einer Familie, die aber kaum darüber spricht. Und das ist dann auch mein zweiter Kritikpunkt: Ich fand es nicht stimmig, wie wenig sich die einzelnen, größtenteils miteinander verwandten Protagonisten untereinander austauschen. Sicher kommt es vor, dass Gespräche zwischen Familienmitgliedern an der Oberfläche bleiben, aber hier nimmt es sehr seltsame Züge an; naheliegende Reaktionen bleiben oft aus. Das Verhalten gleich mehrerer Figuren wirkt dadurch etwas bizarr. Autorin Anne Prettin fügt ihre vielen Handlungsstränge zwar am Ende des Romans zusammen, aber auch im Nachhinein wird so längst nicht jede Reaktion auch nur halbwegs schlüssig erklärt.

Komplett überzeugend sind dagegen die Juist-Beschreibungen. Die Inselatmosphäre schwingt überall mit: Sonne, Strand und Sanddorn, Hammersee und Domäne Bill, Flughafen und Inselbahn – alles kommt vor und man fühlt fast, wie einem die Nordseeluft um die Nase streicht. Und so sind „Die vier Gezeiten“ schon ein gedanklicher Ausflug ans Meer, aber eben ein sehr überladener. Prettin hätte ihren vielen Protagonisten ruhig etwas weniger zumuten dürfen.

Bewertung vom 04.02.2021
Das Einmaleins des Glücks
Collette, Katherine

Das Einmaleins des Glücks


sehr gut

Gefühlslegasthenikerin im Gewissenskonflikt

Die 37-jährige Mathematikerin Germaine ist anders als die anderen. Von Zahlen versteht sie viel, von Menschen wenig. Zwischentöne sind ihr fremd, Fettnäpfchen nicht – wobei sie meist noch nicht einmal bemerkt, wenn sie wieder einmal in eins gestolpert ist. Durch Vermittlung ihrer Cousine erhält sie eine Stelle bei der Stadtverwaltung und wird ausgerechnet am Beratungstelefon für Senioren eingesetzt, was ihr überhaupt nicht zusagt. Zum Glück hat die Bürgermeisterin Höheres mit der leidenschaftlichen Sudoku-Spielerin vor und schiebt ihr Spezialaufträge zu. Nach und nach stellt sich allerdings heraus, dass diese ganz und gar nicht im Interesse der Senioren sind. Und plötzlich steckt die sonst sehr auf ihren eigenen Vorteil bedachte Germaine in einem Gewissenskonflikt.

Wer Graeme Simsions „Rosie-Projekt“, „Rosie-Effekt“ und „Rosie-Resultat“ mochte, wird vermutlich auch Germaine ins Herz schließen, auch wenn das gar nicht so einfach ist. Die Gefühlslegasthenikerin hat nämlich nicht nur Probleme, ihre Mitmenschen zu verstehen, sie sind ihr auch relativ egal. Germaine fühlt sich verkannt, ist ehrgeizig und sehnt sich nach jemandem, der ihr Potential zu schätzen weiß. Nach und nach wird klar, dass sie in ihrem Leben einige große Enttäuschungen erlebt und sich daher einen ziemlich dicken Schutzpanzer zugelegt hat.

Germaines zwischenmenschliche Begriffsstutzigkeit ist ab und an ganz erheiternd, allerdings nutzt sich dieser Effekt mit der Zeit ab. Etwas bedauert habe ich, dass alle anderen Charaktere doch recht blass bleiben, obwohl sie durchaus Potential hätten. Autorin Katherine Collette hat offensichtlich ein Herz und Händchen für leicht skurrile, verschrobene Figuren, konzentriert sich aber komplett auf Germaine. Etwas mehr Abwechslung hätte die Geschichte bereichern können.

Trotzdem ist „Das Einmaleins des Glücks“ gut lesbar, hat mich immer mal wieder zum Schmunzeln gebracht und am Ende zufrieden zurückgelassen. Eine nette Zwischendurch-Lektüre.

Bewertung vom 30.01.2021
Sprich mit mir
Boyle, T. C.

Sprich mit mir


ausgezeichnet

Zwischen Tier und Mensch

Sprich mit mir In dieser außergewöhnlichen Geschichte geht es um verschwimmende Grenzen und darum, was möglich ist, was moralisch ist, was das Beste ist – aber auch um Liebe und Vertrauen aus einer gänzlich ungewöhnlichen Perspektive. Auch Kommunikation ist ein großes Thema, wie der Titel „Sprich mit mir“ schon erahnen lässt. Hauptfigur Sam kann zwar nicht sprechen, sich aber in Zeichensprache verständlich machen sowie zuhören. An und für sich mag das noch nicht so ungewöhnlich sein – doch Sam ist ein Schimpansenkind. Ein 10.000 Dollar-Menschenaffe, der im Rahmen eines Spracherwerb-Forschungsprojekts von Professor Guy Schermerhorn menschlich erzogen wird. Und so wächst Sam in einem kalifornischen Ranchhaus auf, lernt sich mit Menschen zu verständigen, isst Cheeseburger und schläft in einem Bett. Sogar ins Fernsehen schafft er es, als Guy mit ihm in einer Rateshow auftritt. Dadurch erfährt die introvertierte Studentin Aimee von dem Forschungsprojekt und wird kurz darauf von Guy als Hilfskraft eingestellt. Sie und Sam haben sofort eine Verbindung zueinander und schon bald ist die Beziehung zu ihrem Schützling die wichtigste in Aimees Leben. Für Guys Mentor, Dr. Moncrief ist der Schimpanse jedoch nur eines von vielen teuren Versuchstieren – und sein Eigentum. Und als er beschließt, die Forschung einzustellen und Sam in seinen Schimpansenstall nach Iowa zu holen, stellt das nicht nur dessen Leben auf den Kopf.

Zwei unterschiedliche Perspektiven wechseln sich in diesem Roman kapitelweise ab: Eine menschliche (meist Aimees) und Sams tierische. Die Kapitel aus Sams Sicht sind wesentlich kürzer und handeln von seinen Empfindungen und Bedürfnissen. Die Gedanken des menschlich aufgezogenen Affens erscheinen sowohl tierisch als auch ziemlich gut nachvollziehbar. Ob Mensch oder Schimpanse: T. C. Boyle hat facettenreiche Charaktere erschaffen, die aus sehr unterschiedlichen Motivationen handeln und dabei durch und durch authentisch wirken. Manche Episoden greift „Sprich mit mir“ zwei- oder sogar dreimal auf; aus Sams sowie aus Aimees und/oder Guys Perspektive. Langeweile kommt dabei nicht auf, denn die unterschiedlichen Bewertungen von Situationen lesen sich spannend. Und nicht nur Aimee und Guy sinnieren ab und an, was Forschung kann und Forschung darf – auch als Leserin habe ich mir diese Frage immer wieder gestellt. Denn Sam ist zwar kein Mensch, doch auch mit seinen Artgenossen hat er nicht mehr viel gemein. Ist das gut für ihn? Bis zum Schluss habe ich mit ihm und Aimee mitgefiebert und konnte den Roman kaum mehr aus der Hand legen.

Bewertung vom 17.01.2021
Miss Bensons Reise
Joyce, Rachel

Miss Bensons Reise


ausgezeichnet

Originell, warmherzig und spannend

„Miss Bensons Reise“ nimmt 1950 im grauen Nachkriegs-London ihren Anfang. Und irgendwie grau wirkt auch Margery Benson: Sie ist eine 46-jährige, alleinstehende Hauswirtschaftslehrerin, die ein ziemlich freudloses Leben führt. Doch wie aus heiterem Himmel holt sie eine alte Leidenschaft wieder ein; ein früheres Hobby, vermutlich ihr einziges: Margery interessiert sich für Käfer. Und träumt seit ihrem elften Lebensjahr davon, eine goldene, nur auf Neukaledonien lebende Spezies für die Sammlung des Natural History Museum in London zu fangen. Es gibt allerdings mehrere Hürden zu überwinden: Auf Neukaledonien wird Französisch gesprochen, es liegt über 16.000 km von London entfernt (Luftlinie) und besagter goldener Käfer wurde bislang noch gar nicht entdeckt.
Trotz dieser Hindernisse und wider alle Vernunft beschließt Margery, das Abenteuer zu wagen – aber nicht alleine. Sie sucht nach einer Assistentin und muss zu ihrem Leidwesen kurzfristig auf Enid Pretty zurückgreifen, deren angeblich fließendes Französisch sich bei genauerer Betrachtung auf „Bong Schuaa“ beschränkt. Lebenskünstlerin Enid hat keinerlei Interesse an Käfern, ist mindestens 20 Jahre jünger als Margery, redet wie ein Wasserfall und besitzt einen roten Handkoffer, den sie wie ihren Augapfel hütet. Kurz: Die beiden Frauen sind alles andere als ein Match.

Vielleicht gerade deswegen ist dieser Roman über eine unerwartete Freundschaft einer der schönsten und ungewöhnlichsten, die ich in den letzten Monaten gelesen haben. Autorin Rachel Joyce hat zwei grundverschiedene, spleenige Protagonistinnen geschaffen, die einem schnell ans Herz wachsen und sich zu ihrer eigenen Überraschung doch ganz gut ergänzen. Ihr Abenteuer entwickelt sich natürlich längst nicht so wohlgeordnet, wie Margery es geplant hat – Enid Pretty bedeutet Chaos. Nicht nur wegen ihr ist „Miss Bensons Reise“ voller unerwarteter Wendungen, Komik, Dramatik und Spannung. Joyce ist außerdem ein wunderbar warmherziger Roman gelungen, der ohne jeden Kitsch auskommt. Dass es trotzdem keine reine Feelgood-Geschichte ist, macht ihn noch besser. Mit Marge und Enid nach Neukaledonien zu reisen, kann ich nur empfehlen!

Bewertung vom 21.12.2020
Die Djurkovic und ihr Metzger
Raab, Thomas

Die Djurkovic und ihr Metzger


gut

Heilloses Durcheinander

Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass dieses Buch von Kundenbindung in einem Fleischereifachgeschäft handelt, aber nein: Es ist ein Krimi und der titelgebende Metzger heißt mit Nachnamen so. Eigentlich ist er Möbelrestaurator und ermittelnde Hauptfigur einer Buchreihe. Bei der Lektüre dieses Bandes ist davon jedoch nichts zu merken, denn hier gehört er eindeutig zu den Opfern.

Willibald Adrian Metzger will in Thomas Raabs „Die Djurkovic und ihr Metzger“ seine langjährige Lebensgefährtin Danjela Djurkovic heiraten, mit der es allerdings gerade nicht so rund läuft. Dass sie ihn für die Wochen vor der Hochzeit in seine Werkstatt ausquartiert, könnte noch ihrer Aufregung geschuldet sein, dass sie ihn dann jedoch vor dem Altar stehenlässt, versetzt dem Metzger einen schweren Schlag – nicht den einzigen, den er in diesem Krimi einstecken muss.

Doch nicht nur der titelgebende Metzger leidet – auch den Lesenden mutet Autor Raab einiges zu, z.B. fehlende Zusammenhänge, die sich erst im Laufe des letzten Buchdrittels einigermaßen herstellen lassen. Dann ist mir die Gewichtung der einzelnen Themen ein großes Rätsel geblieben; hier und da wird auch mal spontan die Biografie einer Nebenfigur runtererzählt, obwohl sie für die Geschichte keinerlei Relevanz hat. Zwei großen Eskalationen wirken komplett überzogen, mehrere Nebenschauplätze erscheinen wenig ausgereift – alles in allem besteht die Handlung aus einem heillosen Durcheinander. Skurrile Krimis können sehr viel Spaß machen. Auch hier gibt es zwei, drei Figuren, die so originell sind, dass mich die Kapitel mit ihnen auch ohne großen Durchblick interessierten und amüsierten, allen voran Danjela Djurkovic. Am Ende gelingt es Raab außerdem, doch noch viele Handlungsfetzen halbwegs zusammenzufügen, so dass der Schluss des Krimis einigermaßen rund wirkt. Doch logisch durchdenken sollte man die Geschehnisse wohl auch nach der Lektüre besser nicht. Alles in allem ist „Die Djurkovic und ihr Metzger“ ein recht konfuser Krimi, dem weniger Figuren und Randgeschichten definitiv gutgetan hätten.

Bewertung vom 21.12.2020
Ungezähmt
Doyle, Glennon

Ungezähmt


sehr gut

Inspirierende und sympathische Selbstvermarktung

„Ungezähmt“, das neueste Buch der amerikanischen Bestsellerautorin, Bloggerin und Rednerin Glennon Doyle, hat mehrere prominente Fans wie z.B. Adele, Reese Witherspoon und Emma Watson. Auch mich haben gleich die ersten Seiten fasziniert. Doyle beschreibt einen Zoobesuch, auf dem sie eine Gepardenvorführung erlebt. Das Tier hat sein ganzes Leben in Gefangenschaft verbracht, hält einen Hund für seinen besten Freund und jagt auf Kommando einem schmutzigen Stofftier nach. Doch obwohl ihm ein komplett artfremdes Leben antrainiert wurde, sieht die Autorin das Wildtier noch durchschimmern. Und vergleicht dessen Situation mit ihrer und der anderen Frauen, die darauf gedrillt wurden, zu funktionieren und die gesellschaftlichen Erwartungen zu erfüllen.

Doyle hat mit 40 Jahren alle Erwartungen enttäuscht: Nachdem sie ihre Bilderbuchfamilie mit Mann und drei Kindern offensichtlich als Bloggerin, bei Vorträgen und in ihren ersten beiden Büchern vermarktet hat, hat sie sich in eine Frau verliebt, sich scheiden lassen und neu geheiratet. Wie sie ihre Entscheidungen getroffen hat und trifft, wie sie Beziehungen pflegt und ihre Kinder zu unabhängigen Menschen erzieht – davon handelt „Ungezähmt“. Das Buch gliedert sich in drei Teile, die sehr plakativ mit „Im Käfig“, „Schlüssel“ und „Frei“ betitelt sind. Fast jedes Kapitel schildert eine Situation aus ihrem Leben oder eine Unterhaltung mit ihren Kindern, manchmal greift sie auch auf Fragen ihrer Leserinnen und Fans zurück. Vielleicht war es das, was mir „typisch amerikanisch“ vorkam: Dass die Autorin ihr Privatleben und ihre Gefühle (sowie die ihrer Kinder) dermaßen detailliert darlegt, hat mich etwas befremdet. Zwar äußert sie sich nur in höchsten Tönen und mit sehr viel Liebe und Respekt über ihre Familie, aber dennoch zerrt sie sie natürlich zumindest schreibend in die Öffentlichkeit. Doyle schont sich dabei nicht; mit sich selbst geht sie am Härtesten ins Gericht. Dadurch wirkt sie höchst authentisch und sympathisch. An ihren Thesen zu Konditionierung und Gesellschaft ist sicher auch einiges dran. Trotzdem schien mir das Buch hier und da einen Tick zu privat – immer wieder hatte ich das Gefühl, dass Situationen geschildert wurden, die mich einfach nichts angingen. Vielleicht hätte ich „Ungezähmt“ außerdem etwas kürzer gefasst – gegen Ende hatte ich den Eindruck, dass der Autorin langsam die zum Thema passenden Anekdoten ausgingen. Aber insgesamt ist ihr autobiographisches Sachbuch trotzdem inspirierend, bestens lesbar und bietet viele interessante Denkanstöße.

Bewertung vom 29.10.2020
Die große Pause
Bielendorfer, Bastian

Die große Pause


gut

Themenbedingt etwas lahm

Comedian Bastian Bielendorfer hat mit „Die große Pause“ ein mit kleinen Kritzeleien originell gestaltetes „Corona-Tagebuch“ veröffentlicht. Es beginnt im März, Bielendorfer tritt noch in Dieter Nuhrs Kabarettsendung auf, sagt sein wenige Tage später stattfindendes Gastspiel in der Hauptstadt dann allerdings aufgrund der unüberschaubaren Lage bereits ab. Die nächsten Wochen verbringt der Wahlkölner mit Frau, Schwiegermutter und Mops vor allem in den eigenen vier Wänden und schildert in seinem Buch Anekdoten aus dieser Zeit. Bielendorfer wirkt dabei sympathisch und warmherzig, die Episoden sind unterhaltsam. Allerdings auch etwas langweilig. Aber wen wundert das? Aufregend und abwechslungsreich war dieses Frühjahr für viele nicht. Und so schreibt Bielendorfer von Home Office, Video-Telefonaten, Einkäufen (mit leichten Hamster-Tendenzen) und Spaziergängen, gewürzt mit ein paar Geschichten aus dem familiären Nähkästchen und kleinen zwischenmenschlichen Reibereien. Nur das Treffen mit einer Unbekannten im Park, die dann noch auf die Lage in den Pflegeheimen zu sprechen kommt, wirkte auf mich überkonstruiert.

Spannung kommt leider keine auf. Angesichts der beschriebenen Situation kann man Bielendorfer das kaum zum Vorwurf machen, aber ein Pageturner ist „Die große Pause“ wirklich nicht. Dass der Künstler seine Bühnen-Zwangspause zum Schreiben genutzt hat, ist verständlich. Dass er ein Händchen für amüsante Beobachtungen hat, unbestritten. Zudem ist es sicher schwierig, ein Buch zu einem Thema zu schreiben, das noch nicht ausgestanden ist – noch dazu ein Tagebuch, das Einblicke in einen eingeschränkten Alltag zeigen, aber sicher auch nicht alles Persönliche enthüllen soll. Und so liest sich „Die große Pause“ alles in allem etwas lahm. Ich hätte mir zumindest noch ein paar Reflektionen zur pandemiegebeutelten Veranstaltungsbranche gewünscht, ein paar Ideen für die Zukunft, irgendein Thema mit Biss, bei dem Bielendorfer sich klar positioniert.
Und so vergebe ich nur drei Sterne für „Die große Pause“ plus – gedanklich – viele Sympathiepunkte an den Autor, den man nach seinem sehr persönlichen Epilog am liebsten in den Arm nehmen würde.