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Benutzername: 
MrsCatastropy
Wohnort: 
Köln

Bewertungen

Insgesamt 46 Bewertungen
Bewertung vom 14.02.2021
Der Wald der verlorenen Schatten
Eo, Danbi

Der Wald der verlorenen Schatten


ausgezeichnet

Ein verträumtes Märchen mit ernsten Untertönen

"Der Wald der verlorenen Schatten" bezaubert und ist ein Buch, das sich mit seinen knapp 250 Seiten wunderbar an einem trüben, kalten Wochenende lesen lässt.

Die Endzwanzigerin Hyoju, die in Seoul lebt und arbeitet, verliert innerhalb weniger Wochen ihren Partner, der sich von ihr trennt, und ihren Job, wodurch sie ihre Rechnungen nicht mehr bezahlen kann. Gerade, als sie, die als Waise aufgewachsen ist, denkt, es könnte nicht mehr schlimmer kommen, erhält sie die Nachricht, dass ihre ihr unbekannte Großmutter gestorben ist. Daher reist sie in deren Bergdorf. Dort sind die Bewohner*innen, wie Hyoju auffällt, sehr abergläubisch. Sie solle niemals unbedacht den Wald betreten, sonst käme sie nie mehr zurück. An einem Tag jedoch landet sie versehentlich im Wald. Dort trennt sich ihr Schatten von ihr, weshalb sie eigentlich für immer im Wald gefangen wäre - außer, so kann sie mit einem alten Gingkobaum (dem Herrscher des Waldes) verhandeln, wenn sie innerhalb von vier Nächten ihren Schatten wieder einfängt. Dabei möchte ihr der mysteriöse Muyeong helfen, dem sie im Wald begegnet ist.

Während der Suche nach ihrem Schatten wird Hyoju nicht nur aufmerksamer für ihre Umgebung, die Gespräche mit einer alten Freundin ihrer Großmutter im Dorf führen auch dazu, dass sie mehr und mehr beginnt, ihre Einstellung zum Leben und ihren Hang zum Selbstmitleid zu hinterfragen. Auch ihr Verständnis von Liebe wandelt sich, je länger sie nachts mit Mueyong durch den Wald wandert.

Eingebettet in die fantastische Erzählung eines magischen Waldes beginnt eine Veränderung, wenn man so will eine verspätete Coming-of-age-Erzählung. Der Wald und die Suche nach dem Schatten lassen sich auch als Sinnbild für Hyojus Suche nach sich selbst begreifen. Dabei verliert der Roman seine Leichtigkeit nicht, ist mir persönlich an manchen Stellen aber teilweise ein bisschen zu kitschig. Ich habe den kurzen Ausbruch aus dem Winter hinein in einen verzauberten und nicht ganz ungefährlichen Wald sehr genossen. Ein empfehlenswertes Buch nicht nur für Märchenfans, sondern alle, die Bücher mit Magie und Tiefgang mögen.

Bewertung vom 08.02.2021
Die Experten
Kröger, Merle

Die Experten


ausgezeichnet

Eine zeitgeschichtliche Aufarbeitung, die ihresgleichen sucht.

Mit "die Experten" hat Merle Kröger ein unglaublich detailliertes, packendes Werk vorgelegt. Die junge Rita Hellberg, Tochter eines deutschen Experten, d.h. eines Ingenieurs, der sich an der ägyptischen Aufrüstung gegen Israel beteiligt, folgt ihrer Familie nach Ägypten. Dort findet sie sich in einem weltpolitischen Konflikt wieder, der die Gegenwart des Nahostkonflikts und des kalten Kriegs mit der nazideutschen Vergangenheit verbindet. Rita wird Sekretärin eines Kollegen ihres Vaters und stößt so weit in die Verbindungen deutscher Ingenieure und Wissenschaftler, häufig mit NS-Vergangenheit, mit dem ägyptischen Militär vor. Als die Spannungen zwischen Israel und Ägypten zunehmen, Geheimdienste ermitteln, geostrategische Entscheidungen getroffen werden und die Gefahrenlage zunimmt, muss sich Rita entscheiden, welche Rolle sie einnehmen will.

Kröger verwebt das Leben einer in dieser Konstellation fiktiven deutschen Familie in Ägypten mit Zeitdokumenten eines bewegten Jahrzehnts. Die Vorlage dafür lieferte ihr die Künstlerin Stefanie Schulte Strathaus, die vor einigen Jahren auf die Unterlagen ihres Großvaters, eines in den 1960ern in Ägypten tätigen Experten, stieß. "Die Experten" wird zwar als Thriller eingeordnet, ist aber weit mehr als das: Es ist die Aufarbeitung einer Facette der deutschen Nachkriegsgeschichte, durch die die Bundesrepublik noch vor der diplomatischen Anerkennung Israels eng in den Nahostkonflikt verwoben war und die aufzeigt, wie viele deutsche Täter der Entnazifizierung entkommen konnten, nicht zuletzt, weil ihr Wissen im Kalten Krieg den verschiedenen Seiten geostrategisch nützte.

Dabei schafft die Autorin durch ihre Sprache - kurze, prägnante Sätze, zeitliche und gedankliche, abrupte Sprünge, die Gegenüberstellung persönlicher Lebensereignisse der Familie Hellberg mit historischen Situationen und die Einordnung der realen historischen Figuren in ihre Vergangenheit eine Atmosphäre, die gleichzeitig informativ und mitreißend ist - und nicht zuletzt hochpolitisch. Die Besonderheit des Buchs zeigt sich nicht nur darin, dass Kröger "untypische" Textarten einfließen lässt (Briefe zwischen Nachrichtendiensten und ihren Spitzeln, Berichte von Gerichtsprozessen, historische Zeitungsartikel), sondern auch im Aufbau des Buchs als Fotoalbum. Auf kurze Bildbeschreibungen von Fotos der Familie Hellberg folgen die einzelnen Kapitel.

Nicht nur die Aufmachung des Buchs und der zeithistorische Kontext ist komplex, auch die Charaktere sind es. Da ist Kai, Ritas Bruder, der die NS-Vergangenheit seines Vaters ablehnt und sich der Studentenbewegung anschließt, die Mutter Ingrid, die vermutlich an Depressionen leidet, in jedem Fall psychisch angeschlagen ist, und ihr Heil in der Religion und der christlichen Gemeinde in Kairo sucht, Ritas kleine Schwester Pünktchen, die eine der Ordensschwestern zu ihrem Vorbild auserkoren hat, der Vater Friedrich, der nicht nur Ingenieur ist, sondern auch an Astrologie und Esoterik glaubt, Horoskope schreibt und sich dem Aufbau einer ägyptischen Rüstungsindustrie verschrieben hat.

Dieses Buch liefert einen Einblick in einen Teil der deutschen Geschichte, der mir bis dato nur wenig bekannt war. Spannende Spionageelemente wechseln sich mit historischen Ereignissen und dem Erwachsenwerden der Protagonistin in dieser Gemengelage ab. Ein sehr lesenswertes Buch, das ich gern weiterempfehle.

Bewertung vom 06.02.2021
Die goldene Ananas
Kornblum, Dennis

Die goldene Ananas


ausgezeichnet

Zu jeder Zigarette eine halbe Tasse Kaffee und sechs Stunden Gitarrenübung am Tag...

... so sieht die Routine von Elias aus, dazu bestimmte Bands, die er hört, Entspannungszeiten in denen er seinen Tag Revue passieren lässt - aber bitte keine Abweichungen von der Routine. Elias ist Mitte 20 und zieht nach dem Leben in einem Wohnheim für psychisch Kranke erstmals in eine eigene Wohnung. Im Wohnheim hat er gelebt, da er die Diagnose Asperger-Syndrom hat - eine "leichte" Form von Autismus, die ihn im Alltagsleben stark einschränkt. Denn neue Dinge verunsichern ihn sehr, zwischenmenschliche Beziehungen überfordern ihn häufig, menschliche Interaktionen verwirren ihn.

Nun lebt er aber in einer Wohnung und kann es nicht vermeiden, mit neuen Einflüssen konfrontiert zu werden. Da sind die anderen Bewohner*innen des Hauses, zu denen er nach und nach Kontakt knüpft. Mit einem von ihnen, Willi, geht er fortan fast wöchentlich in ein kleines französisches Bistro und begegnet dort zu allem Überfluss auch noch einer jungen Frau, die sein Interesse weckt.

Auf knapp 600 Seiten, die sich sehr flüssig und angenehm lesen lassen, begleiten die Leser*innen Elias durch seinen Alltag, der sich immer mehr verändert. Die Kontakte zu den anderen Bewohner*innen brechen seine feste Struktur auf und zwingen ihn, sich umzustellen. Der Titel referenziert darauf, dass Elias seit 9 Jahren stundenlang Gitarrespielen übt und technisch mittlerweile ausnehmend gut ist, aber aufgrund seiner Diagnose nur für sich selbst in seinem Zimmer spielt, für die "goldene Ananas", den Preis, der ihm überhaupt nichts bringt. Im Kontakt mit den anderen Charakteren lernt Elias und verändert sich. Besonders mochte ich die kleine Mara, auf die er aufpasst, obwohl er Kinder eigentlich gar nicht mag, aber auch die anderen Charaktere sind interessant. Lediglich eine Person empfand ich als etwas klischeehaft negativ gezeichnet, hier kommentieren aber die anderen Hausbewohner selbst, dass es Gründe gibt, warum sie so egozentrisch ist. In manch anderem Buch hätte ich die teilweise Oberflächlichkeit, mit der Frauen beschrieben werden, eventuell stärker kritisiert. Hier passt es aber, weil der Charakter darüber erstens selbst sehr reflektiert und es andererseits auch zeigt, wie seine Unsicherheit dazu führt, dass er stark die Unterstützung oder Einschätzung seiner Peer Group benötigt und es ihn eben auch beeinflusst, wenn diese Peer Group aus Männern besteht, die teilweise ziemlich pauschalisieren. Umso mehr mochte ich dann aber wieder die Momente, in denen auch die Pauschalisierungen wieder kritisiert wurden.

Insgesamt hat mich das Buch sehr beeindruckt und die Charaktere fehlen mir nach Abschluss der Geschichte. Es liefert einen sehr spannenden und meiner Empfindung nach authentischen Einblick in das Leben mit dem Asperger-Syndrom, ohne dabei zu verallgemeinern. Ich habe viel gelernt, gelacht und mitgefiebert, ob Elias es schafft, den Alltag zu meistern. Und dabei finde ich es gelungen, dass keine Veränderung geschildert wird, die viele Menschen ohne diese Diagnose ebenfalls als außerordentlich groß empfinden würden, sondern dass der Fokus gerade auf relativ "kleinen" Umstellungen liegt - einem Umzug, dem Knüpfen von Kontakten etc. Denn gerade hier wird deutlich, dass das, was als relativ normaler Alltag empfunden werden kann, eben nicht für alle so normal und bezwingbar erscheint.

Bewertung vom 06.02.2021
Das achte Kind
Grabovac, Alem

Das achte Kind


ausgezeichnet

Die beeindruckende Autobiografie eines Aufwachsens zwischen Deutschland und Kroatien

In "das achte Kind" schildert Alem Grabovac, Jahrgang 1974, ungeschönt und präzise das Aufwachsen als Kind einer kroatischen Mutter, die als Gastarbeiterin nach Deutschland kam. Der leibliche Vater Emir ist kriminell und versäuft das Geld, das Smilja erarbeitet- das erfährt Alem freilich erst, als seine Mutter sich von seinem Vater, den er seit seiner Kindheit nicht mehr gesehen hat, scheiden lassen will und erfährt, dass dieser tot ist. Alem hatte sie erzählt, der Vater sei als Bauarbeiter bei einem Arbeitsunfall gestorben. Da Smilja ihr Baby unter diesen Umständen tagsüber nicht beim Vater lassen will, gibt sie Alem in eine gutbürgerliche deutsche Pflegefamilie, in der er fortan aufwächst. Der Pflegevater ist ein Nazi durch und durch, impft schon dem jungen Alem ein, dass Juden bösartig sind und der Holocaust so nie stattgefunden hat, und erst im Jugendalter hat Alem genug Wissen gesammelt, um sich davon zu lösen. Trotzdem ist für ihn diese Pflegefamilie sein Zuhause, denn die Mutter, Smilja, die er mittlerweile nur noch monatlich besucht, hat einen neuen Partner, einen Trinker, der Alem bei dessen Besuchen regelmäßig verprügelt.

So wächst Alem auf, einerseits wohlbehütet als fußballspielendes Pflegekind einer gutverdienenden Großfamilie im beschaulichen Haus mit Garten, andererseits weiter verbunden mit seiner Mutter in Frankfurt, die unter dem neuen Mann zwar leidet, ihn aber auch nicht verlassen kann oder will, und mit der er die Ferien in Kroatien verbringt, in dem ärmlichen Dorf, das seine Mutter auf der Suche nach einem besseren Leben in Deutschland verlassen hat. In seiner Jugend erlebt Alem bei seinen Besuchen in Kroatien, wie der Nationalismus um sich greift - es ist der Beginn des Bürgerkriegs.

Beschrieben wird also eine Kindheit und Jugend, die alles andere als sorgenfrei ist. Trotzdem ist das Buch aber nicht deprimierend. Mit scharfem Blick und klarer Sprache wird geschildert, unterteilt ist das Buch in drei Teile: Das Buch Smilja, das Buch Alem und das Buch Emir. Dabei wird die Geschichte als ein Rückblick des erwachsenen Alem präsentiert, der nach dem Geständnis seiner Mutter über den leiblichen Vater dessen Grab in Kroatien ausfindig machen will.
Die Sprache spielt mit Details, die Großeltern in Kroatien werden ebenso greifbar wie die beschaulichen Urlaube mit der Pflegefamilie in Kroatien und der Kontrast zwischen beiden Welten wird sehr deutlich. Auch, wenn sich diese Lebensrealität sehr deutlich von meiner unterscheidet, konnte ich mich in die Schilderungen hineinversetzen, fühlte Alems Ärger auf seinen Stiefvater, vollzog seinen Abnabelungsprozess vom rassistischen Pflegevater mit.

Definitv ein Buch, das nachdenklich stimmt und dabei eine Lebensrealität schildert, die - leider - in der deutschen Literatur noch zu selten Gehör findet, obwohl sie vermutlich keine Seltenheit ist. Denn das Schicksal der sogenannten Gastarbeiter*innen und ihrer Kinder, die Widerstände der deutschen Bevölkerung, die Unterbringung dieser Menschen in schlechten Wohngegenden und ihre Ausbeutung haben Schicksale geprägt und Familien beeinflusst. Alem Grabovac, der es trotz dieser Umstände geschafft hat, Journalist und Autor zu werden, ist eine Seltenheit in der deutschen Literaturlandschaft. Ich würde mir wünschen, noch mehr von ihm zu lesen, und kann dieses Buch sehr empfehlen - auch, wenn (oder gerade weil) es keine leichte Kost ist.

Bewertung vom 12.01.2021
Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid
Schröder, Alena

Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid


sehr gut

Senta verliebt sich in den 1920ern in einen Kriegshelden, wird schwanger, heiratet ihn, findet aber in der Ehe keine Erfüllung und zieht nach Berlin.
Evelyn wird von ihrer Tante aufgezogen, die zur glühenden Hitlerverehrerin wird. In der Nachkriegszeit wird Evelyn Ärztin, heiratet und bekommt ein Kind, findet aber in der Mutterschaft nur bedingt Erfüllung.
Silvia ist eher ein "Papakind", wächst wohlbehütet und ohne finanzielle Sorgen auf, engagiert sich in den 1970ern politisch, sucht ihr Heil in esoterischen, hippiesken Schamanenzeremonien und zieht allein ihre Tochter auf.
Die Promotionsstudentin Hannah öffnet in der heutigen Zeit einen Brief an ihre Großmutter Evelyn, der einige Steine ins Rollen bringt.
Sie muss versuchen, von ihrer Großmutter mehr über deren Mutter zu erfahren, denn durch deren Ehe mit einem jüdischen Kunsthändlersohn ist Hannah möglicherweise die Erbin verschollener Raubkunst. Jede der vier Frauen geht auf ihre Art mit den Herausforderungen ihrer Zeit um, wodurch auch vieles zwischen den Generationen unausgesprochen bleibt.

Alena Schröder webt mit diesem Roman eine vier Generationen umfassende Geschichte, in der es um historische Verantwortung, um Wiedergutmachung und den Einfluss der Geschichte auf die Gegenwart geht. Dabei widmet sie sich mit der Entwendung jüdischen Eigentums einem wichtigen Kapitel der deutschen Geschichte und der Shoah. Es gelingt ihr, daraus keine kitischige eindimensionale oder verklärte Geschichte zu schreiben. Stattdessen entwirft sie mit Hannah eine Figur, die die totgeschwiegenen Teile ihrer Familiengeschichte zu ergründen versucht und dabei auch mehr über ihre Großmutter und deren Leben zwischen zwei Welten, der der leiblichen, intellektuellen Mutter und der der hitlertreuen Tante, lernt. Über die Beschäftigung mit ihrer Familiengeschichte, die Hannah anfangs eher weniger interessiert, lernt sie auch sich selbst besser kennen und kann für sich ausloten, was sie beruflich und persönlich wirklich möchte.

Durch die bildhafte Sprache und die facettenreichen Charaktere entsteht eine Geschichte, die man schnell und gerne liest. Das Thema NS-Raubkunst wird nicht nur oberflächlich verhandelt. Die Autorin bringt fundierte historische Fakten ein, die die Geschichte nicht nur besser greifbar machen, sondern den Leser*innen verdeutlichen, wie viel in deutschen Familien bis heute geschwiegen wird und wie viele jüdische Familien bis heute keine wiedergutmachung erhalten haben - wenn so etwas angesichts der Schrecken der Shoah überhaupt möglich ist. Dabei nehmen ihre Charaktere kein Blatt vor den Mund und räumen mit dem Mythos auf, wonach im Dritten Reich niemand von etwas gewusst haben will. So kann das Buch auch als ein Appell verstanden werden, wo möglich noch die eigene Familiengeschichte zu ergründen, um der historischen Verantwortung gerecht zu werden.

Ich habe das Buch innerhalb weniger Tage gelesen und kann es Fans historischer Romane nur ans Herz legen - insbesondere auch, weil zur Abwechslung keine Romanze im Vordergrund steht.

Bewertung vom 12.01.2021
Die Kannenbäckerin
Spratte, Annette

Die Kannenbäckerin


sehr gut

Im 17. Jahrhundert, zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges, verliert die 13-jährige Johanna ihre Familie an die Pest und macht sich auf, ihren einzigen noch lebenden Verwandten, ihren Onkel Wilhelm, zu besuchen. Dieser ist Euler (eine zeitgemäße Bezeichnung für Töpfer). Um nicht von den Soldaten verschleppt zu werden, verkleidet sich Johanna als Junge und da sie schon auf der Reise zu ihrem Onkel merkt, welche Vorteile damit einhergehen, bleibt sie in dieser Rolle. Ihr Onkel bildet sie aus und "Johann" beweist nicht nur Fleiß, sondern ein großes künstlerisches Talent. Doch wie soll eine junge Frau in dieser Zeit dem Töpferhandwerk nachgehen, das ausschließlich den Männern vorbehalten ist, und wie lang kann sie ihre Tarnung aufrechterhalten, wo die Pubertät näherrückt?

Ich bin selbst im Westerwald großgeworden und lebe mittlerweile woanders. Schon in der Leseprobe habe ich mich ein bisschen in meine Kindheit zurückversetzt gefühlt und das hat sich beim Buch natürlich bestätigt. Annette Spratte hat gründlich recherchiert und schafft es, die Leser*innen in der Zeit zurückzuversetzen. Als ehemalige Westerwälderin hatte ich häufig die Ortschaften vor Augen und finde den Roman vor allem auch deshalb gelungen, weil er in einer dörflichen Umgebung spielt und nicht, wie viele Romane, in einer frühneuzeitlichen Stadt. Dadurch erhält man als Leser*in Einblick in die dörflichen Strukturen und landwirtschaftliche Abläufe, die Handelsrouten und die oft beschwerlichen Wege in die nächstgrößere Stadt. Die Schrecken des Krieges ebenso wie die Erleichterung über eine gute Ernte und einen gelungenen Brand der Töpferwaren werden greifbar, man fiebert mit Johanna mit, wünscht sich für sie, dass sie ihre Ziele erreicht.

Dabei findet Spratte eine gute Mischung aus Schicksalsschlägen und glücklichen Ereignissen, sodass es nicht zu unrealistisch wird. Mir hat die Thematik vor allem deshalb gefallen, weil Johanna nicht die klassische Protagonistin eines Mittelalterromans ist und gegen die Rollenerwartungen ihrer Zeit rebelliert. Für mein Empfinden wurde die Religion etwas zu sehr in den Vordergrund gestellt, was ich aber ohne zu spoilern nicht ausführen kann - man kann ja aber der Leseprobe schon entnehmen, dass Johanna eigentlich mit Gott abgeschlossen hatte. Mir ist aber vollkommen bewusst, dass der Glaube in der damaligen Zeit für viele Menschen ein Ausweg war und die Autorin selbst ja auch sehr gläubig ist. Deshalb soll das nicht zu einer schlechteren Bewertung führen, ist ein absolut persönlicher Eindruck und tut dem Lesevergnügen auch keinen Abbruch. Es hat mir großen Spaß gemacht, durch dieses Buch mal wieder den Westerwald zu "besuchen" und ich würde es definitiv allen empfehlen, die Lust auf eine etwas ungewöhnlichere Zeitreise in eine Gegend haben, die man oft nur aus ein oder zwei Volksliedern kennt.