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Aischa

Bewertungen

Insgesamt 537 Bewertungen
Bewertung vom 11.03.2024
Gutes Essen muss nicht teuer sein
Kötz, Kathrin

Gutes Essen muss nicht teuer sein


gut

Katrin Kötz tritt mit dieser Rezeptsammlung den Beweis an, dass schmackhafte und gesunde Küche weder kostspielig noch aufwendig sein muss. Viele der 90 Gerichte sind in maximal einer halben Stunde zubereitet und kosten pro Person nur 1 bis 2 Euro. Letzteres gilt jedoch nicht durchweg: Einerseits werden durchaus auch teure Zutaten wie Lachs, Spargel, Pfifferlinge oder Garnelen verwendet. Und andererseits sind die Portionen manchmal sehr knapp bemessen - 320 Gramm Spaghetti reichen uns jedenfalls nicht als Hauptmahlzeit für vier Personen. Natürlich kann man einfach mehr kochen, aber dann steigen eben auch die Kosten.

Die mediterran geprägten Rezepte bieten eine erfreulich große Vielfalt, von selbstgebackenem Brot, Suppen, Salat, Pasta, Fleisch- und Fischgerichten bis zu Desserts, Kuchen und Keksen. Es gibt Originelles (Rosenkohl mit Haselnüssen und Brotsoße), Klassiker (Lasagne, Pizza Margherita), aber auch sehr simple Gerichte, für die wohl nur Anfänger ein Rezept benötigen (Spaghetti Aglio e Olio, Thunfischsandwich mit Ei).

Gut gefallen haben mir die Tipps zu Einkauf und Resteverwertung. Kochneulinge dürfte es freuen, dass man weder teure Küchengeräte noch exotische Gewürze für die vorgestellten Rezepte benötigt. Vermisst habe ich ein Register zum schnellen Auffinden einzelner Rezepte, ein Glossar (nicht jeder kennt Guanciale) und Angaben zur Zubereitungsdauer. Etwas nervig ist, dass das Paperback auch nach reichlichem Gebrauch nicht aufgeklappt liegen bleibt.

Alles in allem ein hübsch gestaltetes Buch mit übersichtlichen Rezepten, für die man nicht allzu tief in die Tasche greifen muss.

Bewertung vom 21.02.2024
Die Körper, die sich bewegen
Ngene, Bunye

Die Körper, die sich bewegen


sehr gut

Bunye Ngene erzählt in seinem beeindruckenden Debütroman die Fluchtgeschichte des jungen Nigerianers Nosa, von seiner Heimat bis zu Küste Libyens und übers Mittelmeer bis hin zur Ankunft im verheißungsvollen Europa.

Der junge Ingenieur hat trotz eines hervorragenden Universitätsabschlusses keine Aussicht, in Nigeria beruflich Fuß zu fassen, denn dort werden Jobs nicht nach Fähigkeiten und Leistung vergeben, sondern nach persönlichen Beziehungen sowie ausreichend Bestechungsgeldern. Da Nosa weder über das eine noch über das andere verfügt, entschließt er sich schweren Herzens, die riskante Flucht nach Europa anzutreten.

Autor Ngene ist selbst in Lagos aufgewachsen, und so gibt der Roman authentisch Zeugnis von der nigerianischen Gesellschaft. Auch die abenteuerliche Route seines Protagonisten beschreibt Ngene derart eindringlich, dass mir bei der Lektüre oftmals schier der Atem stockte. Die Flüchtenden werden geschlagen, vergewaltigt oder inhaftiert, viele werden ausgeraubt und müssen unter sklavenähnlichen Bedingungen als Tagelöhner ihr Dasein fristen.

Ngenes Sprache ist präzise und klar, nur wer seine Biografie kennt, mag an Kleinigkeiten erkennen, dass die Story nicht von einem Deutsch-Muttersprachler verfasst wurde.

Die Geschichte rührt auf und geht zu Herzen. Ich empfehle sie allen, die mit geflüchteten Menschen zu tun haben, und ich würde mir wünschen, dass der Roman Pflichtlektüre für all diejenigen wird, die sich abfällig über sogenannte "Wirtschaftsflüchtlinge" äußern!

Bewertung vom 26.01.2024
Spiegel, das Kätzchen
Keller, Gottfried

Spiegel, das Kätzchen


gut

Gottfried Keller veröffentlichte sein Kunstmärchen "Spiegel, das Kätzchen" erstmals innerhalb seines Novellenzyklus´ "Die Leute von Seldwyla" (1856 - 1874).

Wie in vielen typischen Märchen ist die Hauptfigur ein sprechendes Tier, genauer gesagt ein Kater namens Spiegel. Während ich im realen Leben Anthropomorphismus von Tieren sehr kritisch sehe, ist es in der Literatur ein legitimes Stilmittel. Und Keller versteht es ganz geschickt, seinem vierbeinigen Protagonisten nur gerade so viel menschliche Eigenschaften zuzuschreiben, wie es die Geschichte erfordert, und Spiegel dennoch zahlreiche für Katzen typische Eigenschaften und Verhaltensweisen zu lassen.

Die Geschichte erinnert an einige Märchen der Gebrüder Grimm, etwa "Hänsel und Gretel" oder "Der gestiefelte Kater", aber auch Anklänge an die Erzählungen aus "Tausendundeine Nacht" sind zu finden.

Sprachlich war der Text für mich zunächst etwas gewöhnungsbedürftig, aber da nicht allzu viele heutzutage nicht mehr gebräuchliche Wörter verwendet werden, kann man diese gut nachschlagen, ohne sehr aus dem Lesefluss zu kommen. Die Erzählung ist in eine Rahmenhandlung und eine Binnengeschichte unterteilt. An manchen Stellen wird die Handlung so schräg, dass es mir selbst für ein Märchen zu übertrieben erschien, aber vielleicht wollte Keller hier seine abergläubischen Zeitgenoss*innen einfach etwas veralbern. Gut gelungen ist die Darstellung, wie sich der Charakter eines Tieres wie eines Menschen durch die Lebensumstände ändern kann.

Mit genauer Kenntnis der Biografie Kellers sind noch tiefergehende Deutungen des Märchens möglich, auf die ich jedoch an dieser Stelle nicht eingehen möchte.

Bewertung vom 26.01.2024
Der letzte Sessellift
Irving, John

Der letzte Sessellift


gut

In einem Interview 2017 hatte der amerikanisch-kanadische Bestsellerautor John Irvin noch erklärt: "Ich schreibe jetzt seit rund 30 Jahren im Prinzip ununterbrochen. Daran wird sich wohl auch nichts mehr ändern." Was seine Romane angeht, zieht er jetzt mit "Der letzte Sessellift" einen Schlussstrich, zumindest, wenn man seiner Ankündigung Glauben schenken darf, dies sei sein letztes "großes Buch".

Ganze sechs Jahre hat er an den 1.088 Seiten geschrieben, herausgekommen ist ein typischer Irving. Für meinen Geschmack jedoch deutlich zu typisch: Es geht um Schriftsteller*innen, die Bigotterie der katholischen Kirche, die schwulenfeindliche AIDS-Politik der US-Republikaner, insbesondere unter der Präsidentschaft Reagans, und auch die Figuren überraschen wenig, wenn man bereits ein paar Werke Irvings kennt. Es treten Personen von sehr geringer Körpergröße auf, als Sportarten kommen Ringen und Skifahren vor, Sexszenen sind witzig bis skurril, es mangelt nicht an Blut und Exkrementen und es kommen derart viele Leute aus der LGBTQ-Szene vor, dass ich manchmal fast den Eindruck hatte, der Ich-Erzähler Adam wäre der einzige Hetero im Roman.

Es gibt zahlreiche Parallelen zu Irvings Vita, und Adam ist recht schnell als Alter Ego des Schriftstellers zu erkennen. Etwa das erste Drittel der Geschichte hat mich gut unterhalten, doch die weiteren gut 600 Seiten entpuppten sich als Qual. Es fehlt der Spannungsbogen und irgendwie auch eine übergeordnete Handlung. Obwohl wir Adam von klein auf bis in die Gegenwart begleiten, scheinen die Episoden manchmal beliebig aneinander gereiht, und oft ähneln sich ganze Abschnitte doch sehr. Ja, anhand seiner bunten Großfamilie werden wichtige Themen wie Diversität, Toleranz und Akzeptanz behandelt. Aber ich werde den Eindruck nicht los, Irving hat hier nichts mehr wirklich Neues gewagt, er hat sich auserzählt und wärmt nur noch Altbekanntes auf. Hardcore-Fans mag das Begeistern, mich hat es leider gelangweilt. Obwohl - etwas Neues enthält der Roman doch: Zwei der 53 (!) Kapitel hat Irving als Drehbuch verfasst. Ja, ich weiß, dass er im echten Leben nicht nur als Romancier tätig ist, sondern auch Drehbücher schreibt. Für das Drehbuch zur Verfilmung seines Romans "Gottes Werk und Teufels Beitrag" hat er sogar einen Oscar erhalten. Aber ich bin weder Regisseur noch Schauspielerin, und ganz ehrlich: Ich will mich in einem Roman nicht durch trockene Regieanweisungen quälen, mich ermüdet der Stil eines Drehbuchs und ich sehe nicht wirklich einen Sinn darin, diesen in einen Roman einzubetten.

Was bleibt ist das Gefühl, dass sich hier ein großer Erzähler nicht früh genug verabschieden konnte. Ganz wie es Adam auf einer der letzten Seiten ausdrückt: "Schriftsteller können nicht aufhören zu schreiben." Mag sein, aber vielleicht muss man irgendwann nicht mehr alles veröffentlichen. Ich mag viele von Irvings früheren Romanen sehr; diesen hätte ich nicht mehr gebraucht.

Bewertung vom 23.01.2024
Vegan Body Reset
Flohr, Alexander

Vegan Body Reset


sehr gut

Eines gleich vorweg: Ich habe dieses Buch bislang ausschließlich als Kochbuch genutzt. Über den sogenannten "Body Reset" kann ich aus eigener Erfahrung nichts berichten. Alexander Flohrs diesbezügliche Versprechen klingen für mich etwas vollmundig: Nach nur 30 Tagen mit der von ihm entwickelten veganen Ernährung sollen nicht nur die Pfunde purzeln, sondern auch etwaige Entzündungsherde im Körper schwinden. Etwas skeptisch macht mich die Tatsache, dass Alexander Flohr kein ausgewiesener Fachmann im Bereich Ernährung und Gesundheit ist; er ist gelernter Straßenbaumeister und seine Empfehlungen fußen auf eigener Erfahrung. Dagegen ist zunächst nichts einzuwenden, aber ich hätte mir doch gewünscht, dass er an der ein oder anderen Stelle wissenschaftliche Studien zitiert oder sich einen Ernährungsberater als Co-Autor holt. Stattdessen lässt er sechs (von insgesamt 20) Challenge-Teilnehmer*innen zu Wort kommen. Wer die Challenge versuchen möchte, findet dazu hilfreiche Wochenpläne und Tipps, welche Nahrungsmittel erlaubt sind und welche man vermeiden sollte.

Gut gefällt mir , dass Flohr betont, eine vernünftige Gewichtsreduktion sollte mit ausreichend Bewegung einhergehen. Außerdem können die meisten Rezepte mit einer durchschnittlich gut ausgestatteten Küche zubereitet werden. Für den Einkauf müssen Neu-Veganer*innen jedoch wahrscheinlich etwas mehr Zeit einplanen: Geschälte Hanfsamen, Soja-Quark oder Kala Namak dürften nicht in jeder Vorratskammer stehen.

Nun aber zum Rezeptteil: Dieser konnte mich wirklich überzeugen. Obwohl ich bisher Flexitarier bin, spricht mich die Auswahl der vorgestellten Gerichte extrem an. Unter den rund 70 Rezepten ist kein einziges, das ich nicht gerne sofort ausprobieren würde! Die Mahlzeiten sind in Frühstück, Salate und Bowls, warme Küche und Snacks aufgeteilt. Flohr kocht viel mit frischem Obst und Gemüse, allerdings auch mit reichlich Soja-Produkten und Kokosöl, beides ist im Übermaß nicht unumstritten. Die Rezepte sind klar gegliedert, es gibt hilfreiche Tipps und Alternativen, Nährwertangaben und ansprechende ganzseitige Fotos. Besonders schätze ich das Register nach Rezeptnamen und Zutaten. Ich habe bislang eine orientalische Bowl mit Auberginen, eine Maissuppe, Süßkartoffel-Masala, Overnight-Seeds mit Beeren, Schokoporridge und eine Kaffee-Frühstückscreme gemacht und alles war sehr, sehr lecker!

Fazit: Was gesunde Ernährung zum Abnehmen betrifft, habe ich diesen Ratgeber betreffend ein paar Fragezeichen, aber rein kulinarisch gesehen geht mein Daumen steil nach oben!

Bewertung vom 08.01.2024
Gittersee
Gneuß, Charlotte

Gittersee


weniger gut

Charlotte Gneuß' Romandebüt hatte mich vor allem deshalb interessiert, weil ich mehr darüber wissen wollte, wie sich diejenigen DDR-Bürger*innen gefühlt haben mussten, die von einem sogenannten "Republikflüchtling" im Arbeiter- und Bauernstaat zurück gelassen worden waren.

"Gittersee" erzählt von der 16-jährigen Kerstin, deren Freund Republikflucht begeht. Kerstin ist völlig ahnungslos, auch noch als sie danach als IM von der Stasi angeworben wird.

Die Sprache ist extrem knapp und wirkte auf mich sehr trocken und distanziert, es wollte sich keine Nähe zu den Figuren einstellen. Dann wieder folgten Einschübe wirrer Träume, die ich nicht zu deuten vermochte. Viele der Figuren blieben leider blass; sie wurden so wenig beschrieben, dass ich bis zum Schluss Schwierigkeiten hatte, mir die Personen zu den Namen vorzustellen oder dass ich Romanfiguren verwechselte.

Was bleibt ist das Bild einer Jugendlichen, die von Freunden und Familie allein gelassen und von der Politik verführt wurde. Leider hat mich der Roman so gar nicht gepackt, die Lektüre war sehr zäh.

Bewertung vom 08.01.2024
Vatermal
Öziri, Necati

Vatermal


ausgezeichnet

Was für ein großartiger Roman, ich liebe dieses Buch! Es sollten alle lesen, die

- ohne Vater aufgewachsen sind

- einen Migrationshintergrund haben

- keinen Migrationshintergrund haben, aber wenigstens für ein paar Stunden aus der eigenen Blase heraus treten wollen.

Also eigentlich sollten es meiner Meinung nach alle lesen, denen etwas am besseren Miteinander hier in Deutschland liegt.

Necati Öziris deutlich autobiografisch angelegte Story beginnt mit einer interessanten Perspektive: der schwerkranke Ich-Erzähler wendet sich mit seiner Niederschrift an seinen ihm unbekannten Vater. Unbekannt deshalb, weil dieser die Familie früh verlassen hat und wieder in die Türkei zurück gekehrt ist; zu früh für den Protagonisten, um noch Erinnerungen an ihn zu haben. Der Vater ist weg und dennoch (in den Gedanken des Sohnes) ständig da, gerade weil er als Vaterfigur fehlt.

Aber "Vatermal" ist viel mehr als eine Familiengeschichte von Einwanderern, es ist eine treffsichere, scharfe Sozialkritik, die ohne weinerliches Gejammer auskommt. Öziri zeigt deutlich, wie weit wir von Integration entfernt sind, solange in den Behörden Bürokratismus ohne einen Funken Menschlichkeit herrscht. Er führt seiner Leserschaft vor Augen, wie frustrierend Racial Profiling für all diejenigen ist, die nicht dem Abziehbild eines Bio-Deutschen entsprechen. Und er stellt klar, dass seine Generation nicht wie oft erklärt "keine Perspektive" hatte, sondern dass die Einwandererkids im Gegenteil zu viel Perspektive hatten, nämlich dass sie schreckliche Dinge zu sehen bekamen, die behütet aufgewachsene Kinder ihr Leben lang nicht zu Gesicht bekommen.

"Vatermal" ist ein Roman von großer Tiefe und Intensität, voller Trauer, Wut, Leidenschaft und Humor. Bitte lesen!

Bewertung vom 08.01.2024
Monde vor der Landung
Setz, Clemens J.

Monde vor der Landung


weniger gut

Was hatte ich mich auf diesen Roman gefreut! Und wie sehr bin ich nun, nach der Lektüre, davon enttäuscht. Über weite Strecken habe ich mich durch das Buch gequält, ich kann der Geschichte wenig Positives abgewinnen.

Dabei war ich so sehr an der Geschichte über den vor einhundert Jahren in Worms lebenden Peter Bender interessiert. Laut den Feuilletons hat Autor Clemens J. Setz für seinen Historienroman akribisch recherchiert. Und so freute ich mich auf eine spannende und lehrreiche Einführung in die sogenannte Hohlwelt-Theorie samt Reaktionen seiner Mitmenschen auf die doch recht eigenwillige Weltsicht.

Bekommen habe ich leider einen ziemlich wirren Text, den die eingestreuten Zitate und Faksimiles nicht wirklich erhellen. Ich habe mich tapfer durch etliche Wiederholungen der verqueren Theorien Benders gequält und mich dabei über seine frauenverachtende Einstellung und Lebensweise aufgeregt - die er überdies noch mit einer eigens erfundenen Religion moralisch-ethisch rechtfertigt.

Setz schildert seine Hauptfigur mitfühlend; für meinen Geschmack definitiv zu empathisch. Ich konnte der Figur beziehungsweise dem Menschen Bender nichts Gutes abgewinnen und dem Roman nur wenig mehr.

Bewertung vom 08.01.2024
Der Schlafwagendiener
Mayr, Suzette

Der Schlafwagendiener


sehr gut

Suzette Mayrs Gesellschaftsroman erinnert durch das Setting an Agatha Christies "Mord im Orientexpress". Auch hier spielt ein Großteil der Handlung in einer Überlandbahn, der "schnellsten Überlandbahn des Kontinents", wie Protagonist und Schlafwagenduener Baxter nicht müde wird zu betonen. Wobei - müde ist er eigentlich permanent, die Arbeitsbedingungen sind ausbeuterisch und katastrophal. Doch sein großes Ziel vor Augen - Baxter will sich durch sein Salär von der kanadischen Eisenbahngesellschaft sein Studium der Zahnmedizin finanzieren - lässt sich der Schlafwagendiener von der illustren Gesellschaft der Reisenden so gut wie jede Gemeinheit und Schikane gefallen.

Baxter steht gesellschaftlich gleich mehrfach im Abseits: als Einwanderer, als Schwarzer und als Schwuler.Seine sexuelle Orientierung hängt wie ein Damoklesschwert über ihm. Einerseits könnte er die zusätzlichen Einnahmen gut gebrauchen, die ihm die Annahme der sexuellen Offerten von (wohlhabenden und weißen) männlichen Mitreisenden bescheren würde. Andererseits sind homosexuelle Handlungen im Kanada der 1920er noch strafbar.

Geschickt zeichnet Mayr den Zug als Mikrokosmos, der die damalige Gesellschaft wiederspiegelt. Lediglich mit den surrealen Traumsequenzen, die wohl die unfassbare Übermüdung Baxters verdeutlichen sollen, konnte ich wenig anfangen. Davon abgesehen ist es eine wohldurchdachte, nachdenklich stimmenden Geschichte, die leider viel Wahres enthält.

Bewertung vom 08.01.2024
Oben Erde, unten Himmel
Flasar, Milena Michiko

Oben Erde, unten Himmel


ausgezeichnet

Das Setting des dritten Romans der österreichisch-japanischen Autorin Milena Michiko Flašar hat mich zunächst an die NDR-Fernsehserie "Der Tatortreiniger" erinnert. Wie der dortige "Schotty" ist auch die Protagonistin Suzuki fürs Reinemachen an ungewöhnlichen Orten zuständig. Nur dass es sich in ihrem Fall nicht um Schauplätze von Verbrechen handelt, sondern um die Wohnungen sogenannter "Kodokusha". Dies ist die japanische Bezeichnung für einsam in ihrem Zuhause Verstorbene, die erst nach langer Zeit entdeckt werden.

Ein reichlich morbides Setting also - und doch ist dieser Roman voller zauberhafter, geradezu poetischer Momente. (Wobei ich nicht verschweigen möchte, dass es durchaus auch Szenen gibt, die nichts für empfindliche Leser*innen sind, ich sag nur: Maden ...)

Flašar versteht es wunderbar, sich den Tabuthemen Tod und Einsamkeit einfühlsam, tiefsinnig und manchmal auch überraschend komisch zu nähern. Außerdem hat mir gut gefallen, wie sich Suzu im Lauf des Romans entwickelt, von einer fast schon autistisch anmutenden Eigenbrötlerin hin zu einer jungen Frau, die ihren gestrauchelten, kranken Kollegen bei sich zu Hause aufnimmt.

Selbst "nur" zur Hälfte japanischer Abstammung hat Flašar für mich klar eine typisch japanische Handschrift als Autorin, und ich schätze japanische Romane in der Regel sehr. (Für alle, die wenig mit der japanischen Kultur vertraut sind, gibt es im Anhang ein hilfreiches Glossar.)

Eines meiner Lesehighlights in diesem Jahr!