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Aischa

Bewertungen

Insgesamt 543 Bewertungen
Bewertung vom 17.04.2024
Hier fließt die Liebe. Persische Küche
Sodoudi, Forough;Sodoudi, Sahar

Hier fließt die Liebe. Persische Küche


ausgezeichnet

Was für ein großartiges Buch! Seit es Einzug in mein Küchenregal gehalten hat ist es umgehend zu meinem aktuellen Lieblingskochbuch avanciert, und das, obwohl ich mehrere Dutzend guter Kochbücher besitze.

Die Rezepte, die die persischstämmigen Zwillingsschwestern hier vorstellen, sind einfach phänomenal. Ob frische Salate, raffinierte Mezze, außerordentlich schmackhafte Hauptgerichte oder fantastische Desserts - jedes Gericht vereint typisch persische Zutaten und Aromen und ist überdies so hübsch angerichtet, dass es ein wahrer Augenschmaus ist.

Nicht alle Rezepte sind für Anfänger geeignet, und für die meisten Leckereien muss man schon etwas länger in der Küche stehen, aber das Ergebnis lohnt die Mühe in jedem Fall! Ob man Gäste mit einem Mehrgänge-Menü verwöhnen möchte oder sich selbst ein orientalisches Gericht zaubert, Genuss ist garantiert. Ich bin einfach nur begeistert vom Juwelenreis mit Tahdig, der golden-knusprigen Kruste, und von "Kottlet", aromatischen Frikadellen mit Koriander und Kurkuma, kann ich gar nicht genug bekommen.

Zutaten und Angaben zur Zubereitung sind übersichtlich angeordnet, die Fotos einfach nur wunderschön, eine wahre Einladung zum Genuss.

Neben den Gerichten geben die Sodoudi-Schwestern auch Einblicke in ihre Kindheit im Iran und erzählen in wundervoll bebilderten Geschichten von der faszinierenden persischen Kultur. Zweisprachige Register, ein Glossar und die Playlist mit persischen Songs runden das hochwertige Hardcover ab. Die Autorinnen brennen nicht nur selbst für die vielfältige Kulinarik Persiens, sondern haben auch dieses Buch mit Leidenschaft und Herzblut verfasst. Beide Daumen hoch, meine uneingeschränkte Empfehlung!

Bewertung vom 08.04.2024
Lil
Gasser, Markus

Lil


sehr gut

Bislang kannte ich Markus Gasser nur als Sachbuchautor, aber bereits in diesem Genre war mir seine Sprachvirtualität äußerst positiv aufgefallen. Doch auch mit seinem Roman über die titelgebende Lil Cutting, Angehörige des Geldadels und der New Yorker High Society Ende des 19. Jahrhunderts, konnte mich der österreichische Literaturwissenschaftler überzeugen.

Gasser bettet die Geschichte der taffen Lil, die so gar keiner Rolle entsprechen mag, die damals an eine Frau der höheren Gesellschaft gestellt wurde, in eine Rahmenhandlung ein, in der Lils nicht ganz so taffe Ururururenkelin Sarah sich mit der Familiengeschichte beschäftigt. Diese Brücke in die Gegenwart mochte ich vergleichsweise wenig, nicht zuletzt weil Sarah Zwiegespräche mit ihrer Dobermannhündin Miss Brontë führt oder sich auch mal Rosen zu Wort melden. Ich bin einfach generell kein Fan von Anthropomorphismen, hier ist es mir zu viel "Alice im Wunderland" und dann doch wieder zu realistisch, um als kafkaesk durchzugehen. Das sind jedoch Kleinigkeiten, wirklich gestört hat mich das Ende, in dem Gasser zu einem Seitenhieb auf die Psychiatrie an sich ausholt, wenig reflektiert und für mich nicht nachvollziehbar.

Davon abgesehen ist "Lil" wirklich gelungen: Der Roman bietet durchweg Spannung, ist extrem dicht, schnell und kurzweilig und spart nicht an Gesellschaftskritik. Lil wird durch eine Intrige ihres misogynen Sohnes gegen ihren Willen in einer psychiatrischen Klinik festgehalten, kann sich jedoch befreien und der sich anschließende Rachefeldzug ist gleichermaßen atemberaubend wie tragikomisch. Manche Figuren grenzen an Karikaturen und brachten mich immer wieder zum Schmunzeln, sieht man mal vom Ende ab, das doch etwas zu sehr mit Abstrusitäten vollgestopft ist.

Literatur- und Geschichtsfans mögen Spaß daran finden, möglichst viele der historischen und literarischen Bezüge und Zitate zu entdecken, die Gasser zuhauf in den knapp 240 Seiten unterbringt. Aber auch ohne überaus belesen zu sein kann "Lil" gut unterhalten.

Bewertung vom 04.04.2024
Lichtungen
Wolff, Iris

Lichtungen


sehr gut

An Iris Wolffs neuestem Roman fällt zunächst die ungewöhnliche Form auf: Die Liebesbeziehung zwischen der jungen Künstlerin Kato und Lev, ihrem Freund aus Kindestagen, wird nicht wie gewohnt chronologisch erzählt, sondern beginnt in der Gegenwart und führt von Kapitel zu Kaptitel rückwärts, weiter in die Vergangenheit. Beide sind als Rumäniendeutsche in Siebenbürgen aufgewachsen, haben den Wandel der sozialistischen Republik in einen diktatorisch-kommunistischen Staat erlebt, sind aber höchst unterschiedlich mit der 1990 plötzlich gewonnenen Freiheit umgegangen.

Der Roman ist mehr als eine Liebesgeschichte, nahezu nebenbei, fast unbemerkt erzählt Wolff von den Auswirkungen der großen Politik auf die kleinen Leute, vom Nuklearunfall im Atomkraftwerk Tschernobyl oder der im Rückblick reichlich skurril anmutenden Tatsache, dass die Bundesrepublik Deutschland Diktator Nicolae Ceaușescu einst das Bundesverdienstkreuz verliehen hatte. Besonders wird die Geschichte auch dadurch, dass sie das Augenmerk darauf richtet, wie es sein mag, sich in der eigenen Heimat fremd zu fühlen und nicht zuletzt, ob Mehrsprachigkeit Fluch oder Segen sein kann, nicht nur, aber auch in Beziehungen. Gut gefallen mir die Zitate, die den Kapiteln vorangestellt sind. Jedes ist in einer anderen Sprache und kann so als Reminiszenz an unsere polyglotte Gesellschaft gelesen werden.

Wolff schreibt zart und poetisch, vieles wird nur angedeutet, manches bleibt ungesagt. Es ist ein Roman der leise daherkommt, darum aber nicht weniger Gehör findet.

Bewertung vom 31.03.2024
Der Stich der Biene
Murray, Paul

Der Stich der Biene


ausgezeichnet

Müsste ich diesen 700 Seiten umfassenden Wälzer Paul Murrays in ein einziges Wort fassen, so wäre dies ECHT.

Natürlich ist diese Erzählung erfunden, und vermutlich verteilt sich das, was der dysfunktionalen vierköpfigen Romanfamilie an kleineren Unglücken und großen Katastrophen widerfährt, in der Realität auf zahlreiche irische Leben. Aber Murray setzt das Stilmittel der Verdichtung derart gekonnt ein, dass ich - so schräg der Plot auch manchmal anmutet - doch stets das Gefühl hatte, es könnte haargenau so passiert sein, es könnte echt gewesen sein.

Es ist eine Geschichte, die echt unter die Haut geht, und sie ist echt gut erzählt. (Allerdings schwächelt die Übersetzung durch Wolfgang Müller an der ein oder anderen Stelle etwas.) Die Perspektive wechselt zwischen den vier Protagonist*innen: Vater Dickie, der inmitten der Finanzkrise mehr als nur die Leitung seines Autohauses verliert, Mutter Imelda, die bildungsferne Dorfschönheit, die ihrem gewalttätigen Vater eigentlich durch eine Hochzeit mit Dickies Bruder entkommen wollte, Tochter Cass, die vor allem raus aus dem kleinstädtischen Mief möchte, in dem "alle wie zerstampfte Kartoffeln aussehen", und der zwölfjährige PJ, der sich - weitgehend unter dem Radar seiner Eltern - in große Gefahr begibt.

Wie Murray dabei seine Leserschaft jeweils in die unterschiedlichen Welten seiner Figuren eintauchen lässt, ist ganz großes Kino. Ich habe jeden einzelnen Gedanken geglaubt, nicht weil sie wahr sein mussten, sondern weil sie echt sein könnten. Murray ist, wie so viele Iren, ein überzeugender, fesselnder Geschichtenerzähler, und er ist dabei der Wahrhaftigkeit verpflichtet, dem Streben nach Wahrheit.

Was macht uns zu der Person, die wir sind, was geben wir lediglich vor zu sein? Wo sind wir in der Vergangenheit falsch abgebogen, und können wir jederzeit wieder die Richtung ändern? Was ist Fassade, was ist echt?

Echt lesenswert!

Bewertung vom 25.03.2024
Tremor
Cole, Teju

Tremor


gut

Eigentlich bin ich für Ungewöhnliches, Innovatives fast immer zu haben, auch Literatur abseits ausgetretener Pfade interessiert mich durchaus. Aber in seinem jüngsten Roman zeigt Teju Cole, seines Zeichens nicht nur Fotograf und Kurator, sondern auch Professor für Kreatives Schreiben in Harvard, für meinen Geschmack dann doch etwas zu viel Kreativität:

Protagonist Tunde ist - wie auch Cole selbst - mit 17 Jahren aus Nigeria in die U.S.A. ausgewandert. Nun, mit Mitte Vierzig, ist er verheiratet, erfolgreicher Fotograf und Akademiker, aber nicht wirklich angekommen. So weit, so gut. Allerdings verlässt Cole recht schnell die klassische Romanstruktur, und "Tremor" zeigt sich vor allem als rasende Abfolge innerer Monologe des Protagonisten. Die rapide wechselnden essayistischen Fragmente zu sortieren und einzuordnen hat mich oft ermüdet und manchmal überfordert.

Auch inhaltlich verlangt Cole seiner Leserschaft viel ab. Er verhandelt schöngeistige Musiktheorien (denen ich nur bedingt folgen konnte), sinniert über verschiedene Interpretationen eines bestimmten Mandinke-Liedes oder setzt an anderer Stelle voraus, man wisse, was mit "C. elegans" gemeint sei. (Es handelt sich um einen Fadenwurm, der in der Biologie als Modellorganismus erforscht wird.) Anfangs habe ich noch hochmotiviert alles mir Unbekannte recherchiert, doch schnell haben mir die intellektuellen "Höhenflüge" die Lektüre verleidet. Ich fürchte, dass dieser Roman sich aufgrund seiner Form nur an hochgebildete Leser*innen richtet. Dies ist mehr als schade, zumal einigen Botschaften definitiv mehr Augenmerk zukommen sollte: Der immer noch von postkolonialem Überlegenheitsgefühl geprägte Diskurs über Restitution von Raubkunst oder verschiedene Facetten des Rassismus, die selbst das Töten betreffen. Interessant - wenngleich ein wiederkehrendes Motiv Coles - ist auch die Fragestellung, in wieweit Fotografie, ohne aktive Erlaubnis einzuholen, in das Leben anderer Menschen eindringen darf.

Besonders erwähnen möchte ich ein Kapitel, das aus einer Aneinanderreihung kurzer, individueller Monologe verschiedener Einwohner Lagos´ besteht. Es zeichnet ein äußerst brutales, von Korruption und Gewalt geprägtes Bild der Lagunenmetropole, jedoch ohne erkennbare Einordnung durch den Autor. Wer Nigeria kennt, wird kaum überrascht sein, der Rest der Leser*innen wird ohne Hintergründe wohl schwerlich etwas mit diesen Momentaufnahmen anfangen können.

Fazit: Thematisch überfrachtet und strukturell für mich leider zu experimentell.

Bewertung vom 18.03.2024
James
Everett, Percival

James


ausgezeichnet

Es gehört wohl eine immense Portion Mut dazu, einen der großen US-amerikanischen Klassiker neu zu erzählen. Aber Percival Everett macht genau dies, er nimmt sich Mark Twains "Huckleberry Finn" vor, zerlegt den Roman in seine Einzelteile und setzt ihn neu zusammen. Und dies auf grandiose Art und Weise.

Die offensichtlichste Änderung ist, dass Everett den Sklaven Jim (respektive James, wie sein wahrer Name lautet) als Ich-Erzähler zu Wort kommen lässt. Und schon dadurch erfährt die Story einen grundlegenden Wandel. James ist kein einfältiger Zwangsarbeiter, sondern literarisch und philosophisch kompetent. Allerdings ist es für ihn lebensgefährlich, sich Wissen anzueignen, er kann sich nur heimlich in die Bibliotheken der Weißen schleichen. Überhaupt ist "schleichen" überlebenswichtig, nur möglichst nicht auffallen, jede noch so kleine Banalität kann zu drakonischen Strafen führen, willkürliche Auspeitschungen sind an der Tagesordnung. Und so tarnen sich die Sklaven mit einem tumben, stereotypen Dialekt, der sie dumm und ungefährlich wirken lässt. Diese Sprache wird nur in Gegenwart Weißer verwendet, muss jedoch von den Kindern der Sklaven heimlich erlernt werden. Besonders erwähnen möchte ich an dieser Stelle auch die großartige übersetzerische Leistung Nikolaus Stingls, der diesen "Sklaven-Slang" geschickt in ein adäquates, genuscheltes und mit grammatikalischen Fehlern gespicktes Deutsch übertragen hat.

Everett steht Twains erzählerischem Talent in nichts nach, rückt jedoch die Lebensrealität der Sklaven in den Mittelpunkt. Erscheinen die gemeinsamen Abenteuer bei Twain aus Hucks Sicht überwiegend spannend und lustig, so ist die Flucht entlang des Mississippi aus James´ Warte in jeder Sekunde von Todesgefahr begleitet. Obwohl sich Everett weitgehend an Twains Plot hält, erschließt sich hier eine gänzlich andere Geschichte. Einer der intensivsten Momente war für mich, als James sich einer Showtruppe von Minstrels anschließt. Diese weißen Unterhaltungsmusiker färbten sich die Gesichter schwarz und karikierten bei ihren Auftritten das (vermeintliche) Leben der Afroamerikaner. Der relativ hellhäutige James bekommt ebenfalls Blackfacing verpasst, um als schwarz geschminkter Weißer wahrgenommen zu werden - als "echter" Schwarzer hätte er nie eine Bühne bekommen. Doch diese Maskerade ist auch ein genialer schriftstellerischer Schachzug, mit dem Everett deutlich macht, wie anders der Blick Weißer auf People of Color war und oft immer noch ist: "Ich nahm Blickkontakt mit ein paar Leuten in der Menge auf, und die Art, wie sie mich ansahen, war anders als jeder Kontakt, den ich je mit Weißen hatte" lässt er James in seiner Minstrel-Tarnung konstatieren.

"James" ist auch die Geschichte einer Selbstermächtigung, den Everetts Protagonist schreibt seine Geschichte selbst nieder, er lässt sie nicht von anderen erzählen. Schon gar nicht von einem jungen weißen Analphabeten.

Bewertung vom 11.03.2024
Gutes Essen muss nicht teuer sein
Kötz, Kathrin

Gutes Essen muss nicht teuer sein


gut

Katrin Kötz tritt mit dieser Rezeptsammlung den Beweis an, dass schmackhafte und gesunde Küche weder kostspielig noch aufwendig sein muss. Viele der 90 Gerichte sind in maximal einer halben Stunde zubereitet und kosten pro Person nur 1 bis 2 Euro. Letzteres gilt jedoch nicht durchweg: Einerseits werden durchaus auch teure Zutaten wie Lachs, Spargel, Pfifferlinge oder Garnelen verwendet. Und andererseits sind die Portionen manchmal sehr knapp bemessen - 320 Gramm Spaghetti reichen uns jedenfalls nicht als Hauptmahlzeit für vier Personen. Natürlich kann man einfach mehr kochen, aber dann steigen eben auch die Kosten.

Die mediterran geprägten Rezepte bieten eine erfreulich große Vielfalt, von selbstgebackenem Brot, Suppen, Salat, Pasta, Fleisch- und Fischgerichten bis zu Desserts, Kuchen und Keksen. Es gibt Originelles (Rosenkohl mit Haselnüssen und Brotsoße), Klassiker (Lasagne, Pizza Margherita), aber auch sehr simple Gerichte, für die wohl nur Anfänger ein Rezept benötigen (Spaghetti Aglio e Olio, Thunfischsandwich mit Ei).

Gut gefallen haben mir die Tipps zu Einkauf und Resteverwertung. Kochneulinge dürfte es freuen, dass man weder teure Küchengeräte noch exotische Gewürze für die vorgestellten Rezepte benötigt. Vermisst habe ich ein Register zum schnellen Auffinden einzelner Rezepte, ein Glossar (nicht jeder kennt Guanciale) und Angaben zur Zubereitungsdauer. Etwas nervig ist, dass das Paperback auch nach reichlichem Gebrauch nicht aufgeklappt liegen bleibt.

Alles in allem ein hübsch gestaltetes Buch mit übersichtlichen Rezepten, für die man nicht allzu tief in die Tasche greifen muss.

Bewertung vom 21.02.2024
Die Körper, die sich bewegen
Ngene, Bunye

Die Körper, die sich bewegen


sehr gut

Bunye Ngene erzählt in seinem beeindruckenden Debütroman die Fluchtgeschichte des jungen Nigerianers Nosa, von seiner Heimat bis zu Küste Libyens und übers Mittelmeer bis hin zur Ankunft im verheißungsvollen Europa.

Der junge Ingenieur hat trotz eines hervorragenden Universitätsabschlusses keine Aussicht, in Nigeria beruflich Fuß zu fassen, denn dort werden Jobs nicht nach Fähigkeiten und Leistung vergeben, sondern nach persönlichen Beziehungen sowie ausreichend Bestechungsgeldern. Da Nosa weder über das eine noch über das andere verfügt, entschließt er sich schweren Herzens, die riskante Flucht nach Europa anzutreten.

Autor Ngene ist selbst in Lagos aufgewachsen, und so gibt der Roman authentisch Zeugnis von der nigerianischen Gesellschaft. Auch die abenteuerliche Route seines Protagonisten beschreibt Ngene derart eindringlich, dass mir bei der Lektüre oftmals schier der Atem stockte. Die Flüchtenden werden geschlagen, vergewaltigt oder inhaftiert, viele werden ausgeraubt und müssen unter sklavenähnlichen Bedingungen als Tagelöhner ihr Dasein fristen.

Ngenes Sprache ist präzise und klar, nur wer seine Biografie kennt, mag an Kleinigkeiten erkennen, dass die Story nicht von einem Deutsch-Muttersprachler verfasst wurde.

Die Geschichte rührt auf und geht zu Herzen. Ich empfehle sie allen, die mit geflüchteten Menschen zu tun haben, und ich würde mir wünschen, dass der Roman Pflichtlektüre für all diejenigen wird, die sich abfällig über sogenannte "Wirtschaftsflüchtlinge" äußern!

Bewertung vom 26.01.2024
Spiegel, das Kätzchen
Keller, Gottfried

Spiegel, das Kätzchen


gut

Gottfried Keller veröffentlichte sein Kunstmärchen "Spiegel, das Kätzchen" erstmals innerhalb seines Novellenzyklus´ "Die Leute von Seldwyla" (1856 - 1874).

Wie in vielen typischen Märchen ist die Hauptfigur ein sprechendes Tier, genauer gesagt ein Kater namens Spiegel. Während ich im realen Leben Anthropomorphismus von Tieren sehr kritisch sehe, ist es in der Literatur ein legitimes Stilmittel. Und Keller versteht es ganz geschickt, seinem vierbeinigen Protagonisten nur gerade so viel menschliche Eigenschaften zuzuschreiben, wie es die Geschichte erfordert, und Spiegel dennoch zahlreiche für Katzen typische Eigenschaften und Verhaltensweisen zu lassen.

Die Geschichte erinnert an einige Märchen der Gebrüder Grimm, etwa "Hänsel und Gretel" oder "Der gestiefelte Kater", aber auch Anklänge an die Erzählungen aus "Tausendundeine Nacht" sind zu finden.

Sprachlich war der Text für mich zunächst etwas gewöhnungsbedürftig, aber da nicht allzu viele heutzutage nicht mehr gebräuchliche Wörter verwendet werden, kann man diese gut nachschlagen, ohne sehr aus dem Lesefluss zu kommen. Die Erzählung ist in eine Rahmenhandlung und eine Binnengeschichte unterteilt. An manchen Stellen wird die Handlung so schräg, dass es mir selbst für ein Märchen zu übertrieben erschien, aber vielleicht wollte Keller hier seine abergläubischen Zeitgenoss*innen einfach etwas veralbern. Gut gelungen ist die Darstellung, wie sich der Charakter eines Tieres wie eines Menschen durch die Lebensumstände ändern kann.

Mit genauer Kenntnis der Biografie Kellers sind noch tiefergehende Deutungen des Märchens möglich, auf die ich jedoch an dieser Stelle nicht eingehen möchte.

Bewertung vom 26.01.2024
Der letzte Sessellift
Irving, John

Der letzte Sessellift


gut

In einem Interview 2017 hatte der amerikanisch-kanadische Bestsellerautor John Irvin noch erklärt: "Ich schreibe jetzt seit rund 30 Jahren im Prinzip ununterbrochen. Daran wird sich wohl auch nichts mehr ändern." Was seine Romane angeht, zieht er jetzt mit "Der letzte Sessellift" einen Schlussstrich, zumindest, wenn man seiner Ankündigung Glauben schenken darf, dies sei sein letztes "großes Buch".

Ganze sechs Jahre hat er an den 1.088 Seiten geschrieben, herausgekommen ist ein typischer Irving. Für meinen Geschmack jedoch deutlich zu typisch: Es geht um Schriftsteller*innen, die Bigotterie der katholischen Kirche, die schwulenfeindliche AIDS-Politik der US-Republikaner, insbesondere unter der Präsidentschaft Reagans, und auch die Figuren überraschen wenig, wenn man bereits ein paar Werke Irvings kennt. Es treten Personen von sehr geringer Körpergröße auf, als Sportarten kommen Ringen und Skifahren vor, Sexszenen sind witzig bis skurril, es mangelt nicht an Blut und Exkrementen und es kommen derart viele Leute aus der LGBTQ-Szene vor, dass ich manchmal fast den Eindruck hatte, der Ich-Erzähler Adam wäre der einzige Hetero im Roman.

Es gibt zahlreiche Parallelen zu Irvings Vita, und Adam ist recht schnell als Alter Ego des Schriftstellers zu erkennen. Etwa das erste Drittel der Geschichte hat mich gut unterhalten, doch die weiteren gut 600 Seiten entpuppten sich als Qual. Es fehlt der Spannungsbogen und irgendwie auch eine übergeordnete Handlung. Obwohl wir Adam von klein auf bis in die Gegenwart begleiten, scheinen die Episoden manchmal beliebig aneinander gereiht, und oft ähneln sich ganze Abschnitte doch sehr. Ja, anhand seiner bunten Großfamilie werden wichtige Themen wie Diversität, Toleranz und Akzeptanz behandelt. Aber ich werde den Eindruck nicht los, Irving hat hier nichts mehr wirklich Neues gewagt, er hat sich auserzählt und wärmt nur noch Altbekanntes auf. Hardcore-Fans mag das Begeistern, mich hat es leider gelangweilt. Obwohl - etwas Neues enthält der Roman doch: Zwei der 53 (!) Kapitel hat Irving als Drehbuch verfasst. Ja, ich weiß, dass er im echten Leben nicht nur als Romancier tätig ist, sondern auch Drehbücher schreibt. Für das Drehbuch zur Verfilmung seines Romans "Gottes Werk und Teufels Beitrag" hat er sogar einen Oscar erhalten. Aber ich bin weder Regisseur noch Schauspielerin, und ganz ehrlich: Ich will mich in einem Roman nicht durch trockene Regieanweisungen quälen, mich ermüdet der Stil eines Drehbuchs und ich sehe nicht wirklich einen Sinn darin, diesen in einen Roman einzubetten.

Was bleibt ist das Gefühl, dass sich hier ein großer Erzähler nicht früh genug verabschieden konnte. Ganz wie es Adam auf einer der letzten Seiten ausdrückt: "Schriftsteller können nicht aufhören zu schreiben." Mag sein, aber vielleicht muss man irgendwann nicht mehr alles veröffentlichen. Ich mag viele von Irvings früheren Romanen sehr; diesen hätte ich nicht mehr gebraucht.