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Buchbesprechung
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Ich bin freier Journalist und Buchblogger auf vielen Websites. Neben meiner Facebook-Gruppe "Bad Kissinger Bücherkabinett" (seit 2013) und meinem Facebook-Blog "Buchbesprechung" (seit 2018) habe ich eine wöchentliche Rubrik "Lesetipps" in der regionalen Saale-Zeitung (Auflage 12.000).

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Insgesamt 368 Bewertungen
Bewertung vom 26.05.2023
Der treue Spion / Offizier Gryszinski Bd.3
Seeburg, Uta

Der treue Spion / Offizier Gryszinski Bd.3


gut

REZENSION – Mit dem Roman „Der treue Spion“, erschienen im April beim Verlag Harper Collins, hat die promovierte Literaturwissenschaftlerin Uta Seeburg (42) ihre in den 1890er Jahren spielende Krimi-Reihe um den als Sonderermittler an die Königlich Bayerische Polizeidirektion nach München ausgeliehenen preußischen Reserveoffizier Wilhelm Freiherr von Gryszinski nun fortgesetzt. Nach „Der falsche Preuße“ (2020) mit dem ersten Mordfall des im neuen Verfahren der Spurensicherung geschulten Kriminalbeamten, und „Das wahre Motiv“ (2021) begleiten wir Gryszinski, der im Einsatz nie ohne seinen Tatortkoffer zu sehen ist, im Jahr 1896 bei seinem Bemühen, gleich mehrere Morde aufzuklären, die in direktem Zusammenhang mit dem spurlosen Verschwinden eines französischen Diplomaten stehen. Man munkelt, er sei im Besitz von Plänen für eine technische Erfindung gewesen, die es ermöglicht, Funksprüche zu manipulieren und dadurch Falschmeldungen zu verbreiten, was im Falle eines Krieges verheerende Auswirkungen haben würde.
Parallel zu diesem Handlungsstrang erleben wir 20 Jahre später seinen inzwischen 22-jährigen Sohn Fritz als Leutnant und Meldegänger im Ersten Weltkrieg in der Schlacht um Verdun in Frankreich. Von seinem preußischen Vorgesetzten, der damals in München dem französischen Diplomaten im Auftrag der deutschen Regierung als Begleiter zugeteilt war, wird er mit einer geheimen Mission beauftragt: Er soll, mit falschen Personalpapieren ausgestattet, nach Paris durchschlagen, dort einen Brief in Empfang nehmen und diesen im russischen Sankt Petersburg abliefern. Im Laufe dieses ungewöhnlichen Spionageeinsatzes trifft Fritz auf Spuren des einstigen, von seinem Vater niemals vollständig aufgeklärten Falles.
Ihrem dritten Roman versucht die - wie ihr Protagonist Gryszinski in Berlin geborene und nun in München lebende - Autorin das Thema der Verbreitung von Falschmeldungen („Fake News“) sowie daraus sich ergebender Risiken zu verarbeiten: „Irgendwie wabert dieser Krieg durch ein undurchdringliches Geflecht aus Botschaften, Gerüchten und unsinnigen Informationen. … Doch für ihre schnelle Verbreitung sorgt die ständige Innovation.“ Gerade heute in Zeiten des Internet und Sozialer Medien erleben wir die Risiken solcher Falschmeldungen täglich. Doch die Brisanz dieses Themas auszuarbeiten, gelingt ihr leider nur ansatzweise und wird von einer leider allzu oberflächlichen Kriminalhandlung überlagert, die weniger durch Logik, als mehr durch Zufälle ihr überraschendes Ende findet.
Hatte ich in meiner Rezension zum ersten Band noch geschrieben, die Autorin verbinde „mit Geschick und einer gehörigen Portion Humor und ironischen Spitzen so unterschiedliche Aspekte wie bayerische Lebensart und Bierseligkeit mit angeblich preußischen Tugenden wie Disziplin und Enthaltsamkeit sowie Anfänge professioneller Kriminalistik mit gesellschaftlichem Leben zur Jahrhundertwende“, so ist hiervon im dritten Band kaum noch etwas zu lesen. Doch genau dies machte den Reiz der ersten zwei Bände aus. Auch nach dem zweiten Band hatte ich zusammenfassend noch gemeint: „Nicht zuletzt diese „Reibung“ bekannter Klischees über Preußen und Bayern geben den Krimis um den preußischen Offizier in München ihr gewisses Alleinstellungsmerkmal unter den deutschen Krimis, verschaffen ihnen den besonderen Reiz und machen deren Lektüre zum erholsamen Spaß.“ Doch von diesem so „besonderen Reiz“ ist im dritten Band leider nichts mehr zu spüren. Es scheint, als sei die Autorin nach ihrem hervorragenden Start zur Veröffentlichung eines dritten Bandes gedrängt worden, ihr aber inzwischen die Puste ausgegangen.
Besonders störend ist in diesem dritten Band die heute leider allzu verbreitete Art, kapitelweise in verschiedenen Zeitebenen hin und her zu springen – hier also zwischen 1896 und 1916. Statt dadurch im besten Fall die Dramatik des Romans zu steigern, wird in „Der treue Spion“ jeder Spannungsaufbau nach wenigen Seiten eines Kapitels durch den Zeitenwechsel wieder zunichte gemacht. Erscheint die Geschichte um Seeburgs eigentlichen Protagonisten Wilhelm von Gryszinski dabei noch sachlich und atmosphärisch stimmig, wirkt das Spionage-Abenteuer seines Sohnes Fritz recht unglaubwürdig und ist voller willkürlicher, fast märchenhafter Zufälle. Hatte ich die ersten beiden Bände dieser Krimireihe voller Überzeugung gern zur Lektüre empfohlen, kann ich dies beim dritten Band leider nicht.

Bewertung vom 29.04.2023
Calixt
Zimmer, Matthias

Calixt


ausgezeichnet

REZENSION - Nach einer Reihe politischer Sachbücher erschien 2021 mit „Morandus“ der erste Roman des Politikwissenschaftlers Matthias Zimmer (62), in dem er sich populärwissenschaftlich mit der Zeit des Nationalsozialismus befasste. Jetzt folgte im April, ebenfalls in der Edition Faust erschienen, sein wiederum beeindruckender zweiter Roman „Calixt“. Darin geht es um die unterschiedlichen Sichtweisen der Deutschen in Ost und West über die DDR sowie die Problematik der „Wiedervereinigung“ – in Ostdeutschland mehrheitlich „Wende“ genannt – und deren gesellschaftliche Folgen. Im Gegensatz zu wissenschaftlichen Publikationen ist es Zimmer auch in diesem Roman wieder möglich, neben sachlicher Argumentation und Fakten auch emotionale Aspekte in die Betrachtung einfließen zu lassen, die bei der Diskussion dieser Thematik nicht unwichtig sind.
Die Protagonisten in Zimmers Geschichte sind der inzwischen verstorbene, international angesehene DDR-Historiker Rudolf Herzberg und seine Ehefrau Rita als Vertreter der Gründergeneration sowie beider Sohn Franco, der nach seiner Flucht 1988 jetzt als Gymnasiallehrer im Westen lebt, und die nach wie vor in Thüringen lebende und politisch bei den Linken aktive Tochter Rosa. Der Autor lässt uns anhand ihrer und weiterer Biografien sowohl in die Anfangsjahre der DDR zurückkehren als auch die gesellschaftspolitische Gegenwart der östlichen Bundesländer erleben. Dabei ist es diese fast unbarmherzig wirkende Gegenüberstellung so verschiedener bis gegensätzlicher Sichtweisen der Protagonisten, die die Lektüre des Romans „Calixt“ äußerst faszinierend und spannend macht.
Francos Eltern waren überzeugte Sozialisten: Mutter Rita hatte die Schrecken des KZ Ravensbrück durchleben müssen. Als Opfer des Faschismus stand für sie fest: „Sozialismus oder Barbarei“. Der katholisch erzogene Vater hatte sich nach dem Krieg von der Kirche abgewandt: „Wo die Kirche die Bestien der Menschheit nicht zurückhalten kann, kann es vielleicht der Sozialismus.“ Als Historiker war er in der DDR nie politisch aktiv, eher ein „Sozialist aus Vernunft“. In seinen Gesprächen mit dem Todesengel Esra – der intellektuell interessanteste Teil des Romans, aber in Summe doch zu ausschweifend – gibt Historiker Rudolf Herzberg rückblickend aber zu, im Laufe der DDR-Geschichte die Wahrheit geschönt zu haben: „Wahrheit ist relativ zu der Situation, in der man sich befindet.“ Den Sozialismus hatte er als Bollwerk gegen den Faschismus gesehen. Diesen zu verhindern „war oberstes Gebot, damit konnte auch der Zweck die Mittel heiligen“, verteidigt er sich im Zweigespräch mit Esra, der ihm vorwirft, sich selbst belogen zu haben.
Mögen auch viele Argumente, die Matthias Zimmer in seinem Roman verarbeitet, einzeln betrachtet nicht neu sein, macht allerdings deren geballte Gegenüberstellung – der durchaus verschiedenartige Rückblick der Ostdeutschen auf ihr Alltagsleben in der DDR und der leider oft einseitige Blick vieler Westdeutscher – den Roman zu einer interessanten Lektüre, die auch nach der letzten Seite des Buches noch nachwirkt. So hätten viele Ostdeutsche mit ihrem Ruf „Die Mauer muss weg“ nicht zwangsläufig die Vereinnahmung ihrer Heimat durch den Westen als Kolonie „Fünfneuland“ erleben wollen, heißt es im Buch, sondern hofften auf einen neuen Sozialismus, „der aus sich selbst heraus leben sollte“. Sie sahen im Ende der DDR nicht automatisch die Vereinnahmung durch den Westen, sondern eine „Chance für eine neue Utopie, die sich nicht mehr durch den Antifaschismus legitimierte“.
Nach Abwägung aller Argumente lässt Autor Matthias Zimmer seinen 1988 aus der DDR geflohenen Franco feststellen: „Ich habe heute mehr Verständnis für die unterschiedlichen Wege, die Menschen gegangen sind, für die unterschiedlichen Biografien. Und ich habe Respekt vor den Lebensleistungen, für das Hierbleiben [in der DDR] unter schwierigen Bedingungen.“ Der Roman „Calixt“ kann zu noch besserem Verständnis zwischen Menschen in Ost und West beitragen, zum Verständnis der unterschiedlichen Beweggründe und Zwänge des individuellen Handelns, und dabei helfen, die in den Köpfen vieler Westdeutscher nach über 30 Jahren noch immer bestehende Mauer zwischen West und Ost endgültig abzubauen.

Bewertung vom 14.04.2023
Puls der Arktis / Ylva Nordahl Bd.1
Bøe, Grethe

Puls der Arktis / Ylva Nordahl Bd.1


sehr gut

REZENSION – Eine von der norwegischen Autorin und Filmemacherin Grethe Bøe (51) unbeabsichtigte Aktualität erhielt ihr bereits 2021 im Original veröffentlichter Politthriller „Puls der Arktis“, der erst jetzt im Januar beim Heyne Verlag in deutscher Übersetzung erschien. Zwar hatte Russland bereits im Frühjahr 2014 die ukrainische Halbinsel Krim widerrechtlich annektiert, doch die heutige Gefahr einer konkreten militärischen Konfrontation zwischen Russland und den in der NATO verbündeten Ländern war zum damaligen Zeitpunkt, als die Autorin ihren Roman abschloss, noch nicht absehbar. Umso erschreckender liest sich nun der norwegische Bestseller angesichts des Ukraine-Krieges und der akuten Sorge vieler Menschen vor einem ungewollten Kriegseintritt der NATO.
Am nördlichsten Ende unserer Zivilisation, außerhalb des üblichen Blickfeldes der politisch interessierten Öffentlichkeit, beginnt die NATO im norwegischen Bodø nahe der Grenze zu Russland ein großangelegtes Wintermanöver. Ausgerechnet jetzt wird ein Versorgungshubschrauber der Norweger auf einem Routineflug zwischen einer Bohrinsel und dem Festland von einem russischen Jagdflugzeug bedrängt. Ein NATO-Jäger mit der samischen Pilotin Ylva Nordahl und ihrem Ausbilder, dem aus nordafrikanischem Kriegseinsatz traumatisiert heimgekehrten US-Piloten John Evans, wird zum Schutz des Helikopters geschickt. Beim Zusammentreffen beider Jagdflugzeuge kommt es zu einer verhängnisvollen Berührung der Maschinen. Der NATO-Flieger dringt manovrierunfähig in russisches Gebiet ein, das Flugzeug geht nahe einem Atomkraftwerk zu Bruch, Trümmer verursachen Tote und Verletzte, und beide Piloten landen an ihren Fallschirmen angetrieben weit im Osten. Die Russen sehen im Eindringen des NATO-Fliegers einen gezielten Angriff auf das Atomkraftwerk, lassen Truppen an der Grenze aufmarschieren und setzen Spezialkräfte auf die beiden Piloten an, die zu Fuß über die weite Schnee- und Eislandschaft im arktischen Winter die norwegische Grenze zu erreichen versuchen. Es ist für beide ein Kampf ums Überleben, ein Kampf gegen die Zeit und die unwirtliche Natur. Russland stellt dem Westen ein dreitägiges Ultimatum zur Aufklärung des Zwischenfalls. Die NATO-Führung glaubt ihrerseits, durch den russischen Flieger provoziert worden zu sein. Die Situation scheint aus dem Ruder zu laufen. Nicht nur im Westen, auch in Russland fürchtet man, an der Schwelle zum dritten Weltkrieg zu stehen.
In Grethe Bøes Thriller liest man Szenen und Sätze, die uns heute erschreckend aktuell erscheinen, hören wir sie doch fast täglich in den Nachrichten: „Ein Angriff auf eines der Mitglieder der Organisation [NATO] wäre ein Angriff auf alle 29 Mitgliedsländer und würde einen Weltkrieg auslösen, den Russland niemals überleben würde.“ Auch der Blick auf den russischen Präsidenten – an keiner Stelle fällt der Name Putin, doch ist er zweifellos gemeint – zeigt inzwischen oft Gehörtes: „Das Volk in der kollektiven Angst vor einem äußeren Feind zu einen, war ein wohlbekannter Trick, weshalb er den Westen und die USA als Feind auserkoren hatte. … Indem das Volk, die Masse, sich von einem äußeren Feind bedroht fühlte, gab es schnell seine individuelle Freiheit auf, es verwarf seine Fähigkeit zum kritischen Denken und seine persönliche Verantwortung.“
Die Autorin lässt uns in ihrem spannenden Thriller Schritt für Schritt die militärischen und politischen Entscheidungen miterleben, die jede weitere Eskalation verhindern sollen – Fragen, die sich Politik und Militär gerade jetzt stellen, wenn es um Waffenlieferungen an die Ukraine geht: Wie können wir vermeiden, dass der Konflikt eskaliert? Wie vermeiden wir, dass sich die Angelegenheit zu einem Krieg entwickelt? Auch im Roman steht der Westen vor der Frage: Würde Russland wirklich Krieg gegen die NATO führen?
Grethe Bøe zeigt in ihrem mitreißenden Thriller „Puls der Arktis“ nachvollziehbar und aus wechselnder Perspektive beider Seiten objektiv, wie leicht eine scheinbar unbedeutende Begegnung zweier Flugzeuge gegnerischer Mächte eskalieren und – von der Politik beider Seiten unbeabsichtigt – einen Weltkrieg auslösen kann. Dabei macht nicht allein die Handlung ihren Roman zu einem fesselnden Pageturner. Auch die ungewöhnliche und für die meisten Leser wohl unbekannte Landschaft des Polarkreises, in der sich die mehrfach preisgekrönte Filmemacherin bestens auskennt, trägt ihren Teil zur Atmosphäre und Spannung bei.

Bewertung vom 28.03.2023
Josses Tal
Rehse, Angelika

Josses Tal


sehr gut

REZENSION – Mit ihrem Roman „Josses Tal“, im März beim Pendragon Verlag erschienen, hat Angelika Rehse (74) ein beeindruckendes Debüt veröffentlicht, das sich durch seine ganz eigene Art wohltuend von anderen Romanen über die Jahre des Nazi-Regimes unterscheidet. Hintergrund ihres historisch wie psychologisch interessanten Buches sind Erzählungen ihrer aus Schlesien stammenden Eltern sowie in ihrer Kindheit von Heimatvertriebenen gehörte Geschichten. Daraus entstand ihr Schicksalsroman um den Dorfjungen Josef Tomulka. Dessen Entwicklung begleitet die Autorin über dreizehn Jahre vom fünfjährigen Vorschulkind bis zum fast 18-jährigen Wehrfähigen.
Josefs Geschichte beginnt 1930 mit dem Umzug der Familie ins dörfliche Dorotheenthal im niederschlesischen Landkreis Reichenbach. Für Großvater Fritz Tomulka ist die uneheliche Geburt seines Enkels eine unverzeihliche Familienschande, die er den Fünfjährigen täglich mit Schlägen spüren lässt. Josef wächst in ständiger Angst und mit Schuldgefühlen auf. Auch seine vom Schicksal gebrochene Mutter Helene vermag nicht, ihrem Sohn im Haus der Großeltern Nähe und Geborgenheit zu geben. Allein der Nachbarsohn Wilhelm Reckzügel, Student der Medizin in Berlin, erweist sich als Josefs Schutzengel, gibt ihm das Gefühl von Freundschaft und Zuneigung. Als Josefs Mutter bald stirbt, nimmt die Familie Reckzügel den kleinen Josef als Pflegesohn auf. Wilhelm beschützt den Jungen weiterhin, macht ihm großzügige Geschenke, fördert nicht nur, sondern – wie sich bald herausstellt – manipuliert dessen Persönlichkeit und Selbstbewusstsein: „Eines Tages werde ich wichtiger sein als der Großvater. Dann ... werden sich alle vor mir ducken.“ Bei Wilhelm hat Josef den Halt gefunden, der dem Kind bisher fehlte. Ein für ihn entscheidendes Ereignis ist 1935 seine durch Wilhelm vermittelte Aufnahme als Pimpf „in einer schicken Uniform“ ins Jungvolk der Hitler-Jugend: „Es war genauso, wie Wilhelm es angekündigt hatte. Ab heute würde ihn keiner mehr spöttisch ansehen.“
Endlich ist für Wilhelm Reckzügel – längst ein überzeugter Nazi mit Verbindung zu hohen Parteikreisen – der richtige Zeitpunkt gekommen, Josef als willfährigen Gehilfen vollends für die Nazis einzunehmen. Er soll die Dorfbewohner bespitzeln: „[Josef] hatte kein schlechtes Gewissen dabei. Alles, was er tat, tat er für seinen Wilhelm, und auch ein bisschen für den Führer.“ Sogar vor der eigenen Familie macht Josef nicht Halt und handelt „gegen sein eigenes Blut“ – eine Notiz Wilhelms, deren doppelter Wortsinn später im Roman deutlich wird. Erst 1940 bekommt der inzwischen 15-Jährige nach einer aufrüttelnden Entdeckung und Kontakt mit verbotener Literatur, Musik und Malerei moralische Zweifel: „Hier saß er also, in Reckzügels Küche, … und log sie an. Einen Lügner zu beherbergen, das hatten sie nicht verdient.“
Rehses Roman „Josses Tal“ überzeugt vor allem durch das Fehlen intellektueller Abgehobenheit. Gerade das Bodenständige, die Schilderung des schlichten Lebens im abgeschiedenen Dorotheenthal, fernab der großen Politik und Propaganda-Maschinerie, lässt ihre Geschichte so wahrhaftig werden. Berlin ist weit weg. Entsprechend ist von großen zeitgeschichtlichen Ereignisses nur punktuell zu lesen. Im Vordergrund stehen die Bewohner von Dorotheenthal. Die Autorin zeigt uns am Beispiel eines einzelnen, völlig unschuldigen Kindes, des arglosen Josef, wie leicht Kinder und Heranwachsende – von Misstrauen und Skepsis noch unberührt – in ihrer Sehnsucht nach persönlicher Wertigkeit manipulierbar sind und damals in gutem Glauben, recht zu handeln, für die Ideologie der Nazis gewonnen werden konnten. Dieses Verständnis will Rehse aber nicht als Entschuldigung verstanden wissen. Auch ihr Protagonist Josef erkennt sein Handeln als unrecht, allerdings erst sehr spät: Als 17-Jährigem gelingt es ihm endlich, sich vollständig aus den manipulativen Fängen Wilhelms zu befreien. Mit ihrem leicht zu lesenden Roman wirft Angelika Rehse erneut die schon oft an Angehörige der Kriegsgeneration gerichtete schwierige Frage auf: Wie konntet ihr damals nur mitmachen? Mit Josefs Lebensgeschichte scheint die 74-jährige Autorin, vielleicht für sich selbst eine mögliche Antwort gefunden zu haben.

Bewertung vom 19.03.2023
zu zweit
Strauß, Simon

zu zweit


ausgezeichnet

REZENSION – Die belletristischen Werke des Althistorikers und FAZ- Feuilletonisten Simon Strauß sind gewiss keine leichte Kost. Wer sich erstmals an ein Werk des 35-Jährigen wagt, mag Mühe haben, sich in die düstere Stimmung, die seinen drei Büchern eigen ist, daran Gefallen zu finden. In Strauß' Debüt, der Erzählung „Sieben Nächte“ (2017), ging es um einen jungen Mann, der einsam und melancholisch über sein künftiges Leben nachdenkt. Auch im zweiten Buch „Römische Tage“ (2019) lässt Strauß einen jungen Mann angesichts unserer modernen Zeit wieder in trister Stimmung über die verlorenen Ideale der Antike und unsere Welt von morgen sinnieren. In seinem nun dritten Buch, der im Januar beim Tropen Verlag erschienenen Novelle „zu zweit“, treffen wir auf einen jungen Mann, der sich mit dem Leben in Einsamkeit abgefunden hat, seine Mitmenschen meidet. Wieder ist es diese Melancholie, die zunächst abschrecken mag. Doch irgendwann ist man dann doch von dieser eigenartigen Stimmung und bildstarken Sprache gebannt.
In Strauß' Erzählung geht es um einen Mann und eine Frau, die - jeder auf eigene Art einsam, doch im Charakter gegensätzlich - nur der Zufall zusammenführt. Der Verkäufer, der missliebig eine vom Vater heruntergewirtschaftete Teppichhandlung übernommen hat, erwacht mitten in einer Regennacht in seiner Dachstube. Beim Rundgang durchs Haus und vor die Tür wird er vom Hochwasser, das die Stadt bereits überflutet hat, überrascht. Er scheint bei der Evakuierung vergessen worden zu sein, zieht sich Stiefel an und geht in die Katastrophennacht hinaus. Die junge Frau, ebenfalls auf sich allein gestellt, hat sich vor dem Hochwasser auf ihr vom Onkel vererbte Floß gerettet und treibt manövrierunfähig auf dem Fluss. Allein auf sich gestellt, hat sie Angst und fühlt sich hilflos. Beim Sprung von der Brücke landet der Teppichhändler, statt in der Flut zu versinken, nun ausgerechnet auf dem Floß der Frau. Jetzt sind sie „zu zweit“, aber deshalb weniger einsam?
Der Reiz dieser Novelle liegt in der Kunst des Autors zu beschreiben, wie sich die beiden so gegensätzlichen Charaktere aneinander herantasten. Statt auf Menschen zuzugehen, hatte sich der Verkäufer immer weiter von ihnen zurückgezogen und sich ersatzweise den materiellen Dingen zugewandt, in ihnen lebende Wesen gesehen, mit ihnen sogar gesprochen. Schon als Kind hatten ihm bei Begegnungen mit Menschen die passenden Worte gefehlt. Ganz anders die junge Frau: Sie hatte sich immer gern mit Menschen umgeben und plapperte bei jeder Begegnung gleich drauflos, verließ sich in ihrem planlosen, improvisierten Leben ganz auf ihr heiteres Wesen. „Wen immer sie traf, ließ sie nur schwer zu Wort kommen. Verordnete Ruhe hielt sie nicht aus.“ Schon von ihrer lebenslustigen Mutter hatte sie den Satz gehört: „'Siehst du, wie schön es ist, nicht allein zu sein.' Der Satz war als Imperativ gemeint.“
Doch jetzt, beim unerwarteten Zusammentreffen auf dem führungslosen Floß, war es ausgerechnet der Verkäufer, der nach langem Schweigen mit Fingerzeig auf die Kajüte den ersten Satz sprach: „'Wollen wir nicht reingehen?', als gäbe es keinen Zweifel daran, dass sie zusammengehören, weil er er ist und sie sie. In dieser Flutnacht, auf diesem Floß – nicht mehr der eine und die andere, sondern eben das: zu zweit.“ Beide suchen am anderen Halt. Doch zu zweit zu sein, bedeutet nicht zwingend das Gegenteil von Einsamkeit oder gar Zweisamkeit.
Gegen Ende der Novelle deutet sich zwar, wenn man es so verstehen will, eine schüchterne, zaghafte Liebesgeschichte an. Doch ob es wirklich eine wird, überlässt Simon Strauß den Lesern. Gerade dieses offene Ende seiner durch tiefgründige Charakterisierung beider Protagonisten so eindrucksvollen und leisen Erzählung mag einen in gewisser Weise unbefriedigt zurücklassen. Doch ist es gerade dieses offene Ende, das die Novelle „zu zweit“ noch lange nachwirken lässt.

Bewertung vom 06.03.2023
Dein Fortsein ist Finsternis
Stefánsson, Jón Kalman

Dein Fortsein ist Finsternis


ausgezeichnet

REZENSION – Ein eindrucksvolles Epos, wie man es heute nur selten zu lesen bekommt, ist der im Januar im Piper Verlag erschienene Roman „Dein Fortsein ist Finsternis“ des isländischen Schriftstellers Jón Kalman Stefánsson (59). Es ist eine bewegende Erzählung gegen das Vergehen und Vergessen, eine kompakte Island-Saga, die aus der Gegenwart weit über 120 Jahre bis ans Ende des 19. Jahrhunderts zurückreicht und am Beispiel einer bäuerlichen Familie und ihres Umfelds über sechs Generationen den Wandel dieser einst überwiegend von armen Schafzüchtern und Fischern fernab jeder Bildung und Kultur bewohnten kargen Insel „am nördlichen Ende der Welt“ zu einem heute extravaganten Ausflugsziel internationaler Touristen beschreibt.
„Dein Andenken ist Licht, dein Fortsein Finsternis“ lautet die Inschrift eines verwitterten Grabsteins auf dem uralten Friedhof an einem entlegenen Fjord, der noch älter als die kleine Kirche ist, in der Stefánssons namenloser Erzähler mit totalem Gedächtnisverlust erwacht. Hinter ihm sitzt ein geheimnisvoller alter Mann, der sich dem Erzähler nicht zu erkennen gibt – ist es Gott, der Teufel, das personifizierte Schicksal? –, ihn aber auf seiner Spurensuche begleiten wird. Auf dem Friedhof trifft der Erzähler Rúna, die ihm die Geschichte ihrer Familie zu erzählen beginnt und ihn zu ihrer Schwester Sóley schickt, Betreiberin des kleinen Dorfhotels am Ufer des Fjords.
Mit Hilfe dieser und anderer Geschichten über Familie, Nachbarn und Freunde in Gegenwart und Vergangenheit setzt der Erzähler eine faszinierende Island-Saga zusammen, geleitet vom geheimnisvollen Alten, dem bärtigen „Busfahrer mit der Lizenz, mich zwischen den Welten und Zeiten, den verschiedenen Bühnen des Lebens hin und her zu kutschieren.“ Wir lernen die Vorfahren des Musikers Eiríkur kennen, der als junger Mann Island verlassen hat und 40 Jahre später auf Drängen seines Vaters Hálldor nach Nes zurückkehrt. Seine Familiengeschichte reicht bis zur Ururgroßmutter Guðríður zurück: „… alles geschah, weil Pétur und Guðríður vor hundertzwanzig Jahren nach Stykkishólmur ritten.“
Aus einzelnen Erzählungen („Manche Leben scheinen so ereignislos zu verlaufen, dass sie sich kaum beschreiben lassen.“) baut sich eine großartige Familiengeschichte auf, in der nicht nur Guðríður und Pétur einst der „Kompassnadel ihres Herzens“ gefolgt sind, sondern auch ihre Nachkommen auf jeweils eigene Art, waren sie sich doch trotz wandelnder Zeiten in Charakter und Mentalität ähnlich: »Die Vergangenheit lebt ewig in uns weiter. Sie ist der unsichtbare, geheimnisvolle Kontinent, von dem du manchmal im Halbschlaf eine Ahnung bekommst.«
Jón Kalman Stefánsson springt in seinen Roman von Figur zu Figur, von Geschichte zu Geschichte, durch Zeiten und Generationen scheinbar beliebig hin und her, so dass man die Übersicht verlieren und sich in den Generationen leicht verirren kann. „Manche nennen es den Spaß der Götter. Karten und Leben durcheinanderzuwirbeln, zu ihrem Vergnügen Knoten zu schürzen, irgendwo eine unerwartete Kurve einzubauen, eine Brücke einzureißen, unsere Herzen in Wallung zu versetzen und dem Dasein einen Stups zu geben, um alles, was fest und sicher scheint, auf den Kopf zu stellen.“ Dann empfiehlt es sich, den Rat des Erzählers anzunehmen: „Halldór und Páll Skúlason. Merk dir die Namen, aber halte dich vorerst nicht länger mit ihnen auf, denn kaum erwähnen wir sie, treten sie auch schon wieder zurück wieder zurück in den Schatten, …. und treten wieder hervor, wenn sie gerufen werden.“ Es sind die kleinen schicksalhaften, wahrhaftigen und berührenden Geschichten, die jede für sich allein schon einem Kurzroman gleicht. Aus dem Gesamtbild aller Einzelschicksale ergibt sich schließlich die literarisch ungewöhnliche Island-Saga, die nicht nur in ihren Menschen- und Landschaftsbeschreibungen atmosphärisch beeindruckt, sondern auch sprachlich – auch ein Verdienst des Übersetzers Karl-Ludwig Wetzig. Für Stefánsson Roman gilt, was dort über den Brief der Großmutter an Eiríkur zu lesen ist: „… zwischen den Zeilen schimmerten Wärme und Zuneigung durch, flossen wie eine mächtige Strömung unter den Sätzen.“ Es ist schon ein paar Jahre her, dass mich ein Schriftsteller mit seinem Buch derart begeistert hat, tief berührt und nachdenklich zurückgelassen hat.

Bewertung vom 22.02.2023
Der Junge im Fluss / Inspector Eden Brooke Bd.2
Kelly, Jim

Der Junge im Fluss / Inspector Eden Brooke Bd.2


sehr gut

REZENSION – Bei der Vielzahl historischer deutscher Krimis, deren Handlung in den Jahren der Weimarer Republik und des Zweiten Weltkriegs angesiedelt ist, ist bei neuen Romanen kaum Neues zu erwarten. Da bringt ein Blick ins Ausland willkommene Abwechslung – wie die neue Krimireihe des britischen Schriftstellers und Journalisten Jim Kelly (66) um Detective Inspector Eden Brooke. Darin erleben wir, als Rahmen spannender Mordfälle anschaulich und überzeugend beschrieben, Alltagsleben und zunehmende Kriegsangst der Bevölkerung der historischen Universitätsstadt Cambridge ab dem Jahr 1939.
Nach „Die dunklen Stunden der Nacht“ (2021) befinden wir uns im zweiten Band „Die Schatten von Cambridge“, im November 2022 beim Lübbe-Verlag erschienen, bereits im Winter 1940. Wehrfähige Männer sind zum Kriegsdienst eingezogen, Ruheständler als Ersatz in ihre früheren Berufe zurückgeholt. Erste Angriffe der deutschen Luftwaffe auf London sorgen für zunehmende Verunsicherung, Stadtkinder werden in die ländliche Provinz evakuiert. Knapp gewordene Lebensmittel werden nur gegen Bezugsschein abgegeben. Großbritannien rechnet mit der Invasion deutscher Truppen. Doch es gibt nicht nur den Kampf gegen Deutschland. Zugleich terrorisieren die nordirischen Kämpfer der Irisch-Republikanischen Armee das Land mit Bombenanschlägen.
Inspector Eden Brooke, der seit seiner Gefangenschaft im Ersten Weltkrieg, in der er nachts gefoltert und geblendet wurde, an Schlaflosigkeit (Insomnie) und Lichtempfindlichkeit (Photophobie) leidet, läuft in einer dunklen Winternacht ziellos durch die Straßen von Cambridge. Plötzlich hört er Hilferufe vom Fluss: In einem Sack verschnürt, treibt ein kleiner Junge hilflos in eiskalter Strömung. Der Rettungsversuch misslingt, die Leiche des Jungen, der, wie sich später herausstellt, zuvor schwer verletzt worden war, wird später gefunden. Wie die Ermittlungen ergeben, handelt es sich um einen irisch-stämmigen Jungen, der mit Gleichaltrigen aus London evakuiert und auf dem Gelände der St. Alban's Church untergebracht worden war. Tags darauf explodiert auf einem Fabrikgelände, in dem kriegswichtige Radar-Komponenten hergestellt werden, eine kleine Bombe, die auf die IRA hindeutet. Der Inspector vermutet einen Zusammenhang zwischen beiden Fällen. „Aber das Kind war ein Gast, das niemanden hier kannte. Wie konnte dieser kleine Junge eine Gefahr für irgendjemanden dargestellt haben? Unterhielt seine Familie Verbindungen zur IRA?“ Gemeinsam mit Sergeant Edison ermittelt Brooke unter Zeitdruck, denn Prinz Henry, Bruder des britischen Königs Georg VI., will die Universitätsstadt besuchen.
„Die Schatten von Cambridge“ ist ein ruhiger, aber deshalb nicht weniger spannender Krimi. Überraschende Wendungen führen immer wieder zu neuen Erkenntnissen und bringen neuen Schwung. Kellys Hauptfigur, der kriegsversehrte Inspector Brooke, ist wahrlich kein Super Action Hero – seine vielen Wege durch die Stadt muss er bei Schnee und Regen sogar zu Fuß erledigen! –, sondern überzeugt als besonnen und empathisch handelnder Kriminalbeamter sowie als ein mit seinen Leiden kämpfender, lebenserfahrener Familienvater. Doch der Reiz des Romans liegt nicht allein in seiner Handlung. Vor allem die detaillierte Beschreibung der Universitätsstadt mit ihren historischen Gebäuden, engen Straßen und alten Brücken sowie des Alltagslebens der Bevölkerung von Cambridge unter Kriegsbedingung ist für uns Deutsche eine neue und interessante Erfahrung. Man darf auf den dritten Band dieser Krimireihe gespannt sein. Das Original „The night raids“ erschien bereits vor drei Jahren und spielt im Sommer 1940 zu Beginn der berüchtigten Luftschlacht um England.

Bewertung vom 14.02.2023
Die Heimkehr
Grisham, John

Die Heimkehr


sehr gut

REZENSION – Seit Erscheinen seines Romandebüts „Die Jury“ (1989) ist der amerikanische Schriftsteller John Grisham (68) seit fast 35 Jahren für international erfolgreiche Justizthriller bekannt. Fast jeder seiner in insgesamt 45 Sprachen übersetzten Romane sicherte ihm Spitzenplätze in den Bestsellerlisten. Mit seinem neuen Buch „Die Heimkehr“, im November 2022 beim Heyne Verlag erschienen, veröffentlichte Grisham nun erstmals drei Kurzromane – „Die Heimkehr“, „Erdbeermond“ und „Sparringspartner“. Hier überzeugt der „Meister des Justizthrillers“ nicht nur durch komprimierte Handlungen und die dadurch erhöhte Spannung, nicht nur durch Beschränkung auf wenige Figuren und dafür deren tiefer gehende Charakterisierung, sondern als einst selbst praktizierender Strafverteidiger und Regionalpolitiker vor allem durch detaillierte Sachkenntnis sowohl des US-Justizwesens als auch des amerikanischen Politikgeschäfts.
Warum der Heyne Verlag für die deutsche Ausgabe ausgerechnet „Die Heimkehr“ als Gesamttitel bevorzugt hat, ist nicht nachvollziehbar, ist dies doch die harmloseste aller drei Geschichten: Rechtsanwalt Mack Stafford ist vor einigen Jahren mit einer halben Million Dollar untergetaucht, veruntreutes Geld seiner Mandanten aus einer schon vergessenen Schadensklage. Damals nachlässig unternommene Ermittlungen wurden ergebnislos eingestellt. Da seine Ex-Frau nun im Sterben liegt, will Stafford heimkommen, um sich seiner beiden heranwachsenden Töchter anzunehmen. Er kontaktiert Anwaltskollegen Jake Brigance, den Grisham-Leser bereits aus frühen Romanen als kleinen Südstaaten-Anwalt für scheinbar aussichtslose Fälle kennen. Er soll für Stafford die juristische Lage prüfen und bei der gefahrlosen Heimkehr behilflich sein. Anfangs scheint auch alles gut zu laufen.
Kaum spannend, dafür aber emotional umso berührender ist „Erdbeermond“ über den letzten Tag des seit 14 Jahren in der Todeszelle einsitzenden 29-jährigen Cody Wallace. Hier liest man das eindeutige Plädoyer des Juristen und Demokraten Grisham gegen die Todesstrafe. Obwohl Cody nicht selbst gemordet hat, wurde der damals erst 15-jährige Mittäter eines Einbruchs mit Todesfolge zum Tod verurteilt. Die Geschichte schildert Codys letzten Tag im Gefängnis, seine Gespräche mit dem Wärter und – dies sind die berührendsten Seiten – mit der alten, im Rollstuhl sitzenden Brieffreundin Iris, die Cody zwölf Jahre lang mit Taschenbüchern versorgt, ihn dadurch zum Erlernen des Schreibens und Lesens motiviert hatte und nun mit ihm nicht etwa über dessen Hinrichtung, sondern über die Macht der Literatur, seine Lieblingsautoren wie Raymond Chandler und seine Lieblingsbücher wie „Früchte des Zorns“ von John Steinbeck spricht. Gar nicht gut kommt dabei Grishams Schriftsteller-Kollege Harold Robbins mit seinem „Schmuddelkram“ und „versauten Geschichten“ weg.
Der dritte, in wachsender Dramatik gut aufgebaute Kurzroman „Sparringspartner“, nach dem die Originalausgabe des Buches ihren Titel hat, handelt von zwei verfeindeten Juristen-Brüdern, gleichberechtigte Inhaber einer großen Familienkanzlei, deren Vater und Kanzlei-Gründer wegen Totschlags der eigenen Ehefrau seit fünf Jahren im Gefängnis sitzt und nun mit illegalen Mitteln für seine Begnadigung sorgt – sehr zum Unwillen beider Söhne. Hier zieht Grisham als ehemals aktiver Politiker nicht nur über das korrupte politische System der USA her, sondern erneut über die ihm vertraute Anwaltsbranche und das gesamte Justizwesen: „Wir sind hier bei Gericht, und seit wann interessiert uns, was fair ist? Hier geht es darum, wer gewinnt und wer verliert.“
Auch in seinem neuen Buch widmet sich Grisham altbekannten Themen, indem er klar und unmissverständlich auf Schwachstellen im amerikanischen Justiz- und Politsystem hinweist, so dass nach 30 Justizthrillern eigentlich alles geschrieben sein sollte. Doch der routinierte Autor findet für seine Geschichten immer wieder neue Ansätze, weshalb auch diese drei Kurzromane wieder spannend zu lesen und eine ausgezeichnete Ablenkung vom Alltag sind.

Bewertung vom 07.02.2023
Die Mietskaserne
Noth, Ernst Erich

Die Mietskaserne


ausgezeichnet

REZENSION – Nach Lektüre des bereits 1931 erstveröffentlichten Romans „Die Mietskaserne“ von Ernst Erich Noth (1909-1983) muss man dem Glotzi Verlag für die Neuausgabe als Taschenbuch im Jahr 2021 ausdrücklich danken: Dieser Roman des damals erst 22-jährigen Berliner Schriftstellers ist ein einzigartiges, trotz seines Alters noch unverändert beeindruckendes Zeitdokument über die ärmliche und erbärmliche Lebenssituation des einstigen Großstadt-Proletariats in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg, zusammengepfercht in maroden Hochhäusern ohne jeglichen Komfort. Der junge Autor schildert in seiner eindrucksvollen Erzählung, die im Mai 1933 als „undeutsch und schädlich“ den Bücherverbrennungen der Nazis zum Opfer fiel, den „Überlebenskampf seiner Kindheits- und Jugendjahre mit seinen Gefährdungen und Verwirrungen“ (Nachwort). Es ist zugleich der Kampf eines in der Mietskaserne zwischen engen Mauern, streitenden Eltern und niederem Milieu „eingesperrten“ Oberschülers auf der verzweifelten Suche nach einem besseren Leben in Freiheit.
Der 22-jährige Autor hatte zur Veröffentlichung seines bald nach Erscheinen in sechs Sprachen übersetzten Bestsellers statt seines bürgerlichen Namens Paul Albert Krantz das Pseudonym Ernst Erich Noth gewählt, war er doch drei Jahre zuvor als Angeklagter im Steglitzer Schülermordprozess in die Schlagzeilen geraten: Im Juni 1927 hatte der Oberschüler Paul Krantz mit zwei Freunden verabredet, sich wegen unglücklicher Liebesgeschichten gegenseitig zu erschießen. Die beiden Freunde starben, nur Krantz, der die Pistole besorgt hatte, führte die Tat dann doch nicht aus. Als Gutachter stufte der berühmte Sexualforscher Magnus Hirschfeld den damals 18-Jährigen als „sexuell unterentwickelt und geistig überentwickelt“ ein. Dies scheint zutreffend gewesen zu sein, charakterisiert doch Noth im Roman seinen Protagonisten Albert ebenso. Dieser Selbstmord aus Liebeskummer und Verzweiflung ist im Roman nur verschlüsselt zu finden, weshalb die Kenntnis davon wichtig ist.
Die beiden in der Mietskaserne befreundeten Volks- und späteren Oberschüler Albert und Walter stehen gleichsam für das gespaltene Alter Ego des Autors Noth. Beide fühlen sich als Gymnasiasten nicht mehr dem proletarischen Milieu der Mietskaserne zugehörig, aber ebenso wenig zum Kreis der wohlhabenden Mitschüler aus dem Villen-Viertel. Sie fühlen sich allein gelassen, denn auch im Elternhaus spüren sie statt Liebe nur Gewalt und psychischen Druck („Du sollst es doch mal besser haben.“). Beide wollen ausbrechen: „In die Welt. Dahin, wo es schön ist – wo dieser Dreck nicht ist, diese Menschen.“ Auf ihrer verzweifelten Suche nach einem richtigen Lebensweg finden sie keine Hilfe, da auch die Eltern-Generation nach dem verlorenen Krieg ein hoffnungsloses Dasein fristet, wie der Beamte im Jugendamt gesteht: „Da sitzt man. Schuftet bis zum Weißbluten. Wofür im Grunde? Man hat viel verloren, Albert Krause – sehr viel.“ Auch Alberts Vater gibt seinem Sohn spät – viel zu spät – seine eigene Verzweiflung zu erkennen: „Rauf. Ja, wir wollen alle rauf. … Du darfst uns nicht verachten, Albert, uns alle nicht. Sieh mal, dieses Haus, lauter arme Menschen. Arme Menschen! Wir leben alle hier.“ Und dann fordert er seinen an Literatur begeisterten Sohn auf: „Schreib mal hiervon, von dem Haus.“
Ist der Roman „Die Mietskaserne“ aus dem Jahr 1931 also nur ein historisches Zeitdokument? Keineswegs! Die äußere Kulisse mag verschwunden sein, aber die geschilderten Probleme nicht: Die Kluft zwischen Arm und Reich wird aktuell wieder größer und die Zahl in Armut aufwachsender Kinder wächst. Auch die Probleme Pubertierender werden, gemessen an der Zahl therapeutischer Behandlungen, auffälliger. Im Roman lässt sich Walter von seinen Gefühlen leiten und gibt auf, doch Albert folgt seinem Verstand und macht weiter. Er zeigt uns, dass man den Ausbruch und neuen Aufbruch schaffen kann. So macht der Roman trotz aller damals im Stil der Neuen Sachlichkeit authentisch und in knappen Sätzen eindringlich geschilderten Probleme uns am Ende doch Mut. „Die Mietskaserne“ ist ein beeindruckender, ein berührender, am Ende aber tröstlicher Roman, der nicht nur Erwachsenen, sondern auch Heranwachsenden zur Lektüre empfohlen werden kann – nein, empfohlen werden muss.

Bewertung vom 30.01.2023
Königsmörder
Harris, Robert

Königsmörder


sehr gut

REZENSION – Wie in seinen früheren historischen Romanen, darunter „München“ (2017) oder zuletzt „Vergeltung“ (2020), besticht der britische Schriftsteller Robert Harris (65) auch in seinem im November 2022 beim Heyne-Verlag veröffentlichten Roman „Königsmörder“ wieder durch intensive Fakten-Recherche in Archiven und historischen wie neuzeitlichen Publikationen. „Die Ereignisse, die Zeitangaben und die Orte sind historisch zutreffend, und fast jede handelnde Figur hat tatsächlich gelebt“, versichert der Bestseller-Autor in seinem Vorwort. Dennoch bleibt sein Roman die „fantasievolle Neuschöpfung einer wahren Geschichte, der Suche nach den 'Königsmördern' von König Karl I., der größten Menschenjagd des 17. Jahrhunderts“.
Harris schildert das, von notwendigen Ortswechseln abgesehen, lähmende Leben der beiden als „Königsmörder“ verfolgten und in den erst kürzlich an der amerikanischen Ostküste gegründeten Kolonien versteckten Offiziere Edward „Ned“ Whalley (1598 – 1674) und William Goffe (1618 – ca. 1679). Beide waren nachweislich mit dem Schiff aus England am 27. Juli 1660 im Hafen von Boston (Massachusetts) eingetroffen, womit auch die Romanhandlung beginnt. Beide hatten nach dem Bürgerkrieg auf Seiten der Republikaner unter Oliver Cromwell (1599-1658) das Todesurteil zur Enthauptung des 1649 abgesetzten Königs Karl I. (1600-1649) aus dem Haus Stuart an vorderster Stelle mitunterzeichnet. Sowohl Whalley als auch sein Schwiegersohn Goffe mussten trotz des erlassenen Amnestie-Gesetzes („Act of Oblivion“, so auch der Originaltitel des Romans) seit Wiederherstellung der Monarchie am 29. Mai 1660 und der Thronbesteigung Karls II. (1630-1685) mit der Todesstrafe rechnen. Seitdem werden sie in Harris' Roman bis zu ihrem Tod von Richard Nayler – eine vom Autor als Chef des königlichen Geheimdienstes erfundene Figur – nicht nur in dienstlichem Auftrag, sondern auch aus persönlicher Rache gejagt.
In atmosphärischer Dichte und immenser Faktenfülle sowie durch erstaunliche Realitätsnähe überzeugend erzählt Harris in seinem spannenden Geschichtsroman drei ineinander verwobene Handlungsstränge: Im Vordergrund steht das Leben der beiden Offiziere über einen Zeitraum von fast 20 Jahren in den teils von liberalen, teils von fanatischen Puritanern bevölkerten Kolonien Massachusetts und Connecticut. Wir erfahren viel über Leben und Denken dieser Pietisten in Neu-England, die sich nur in der Ablehnung englischer Herrschaft weitestgehend einig sind. Wir erleben 1664 die Eroberung der holländischen Siedlung Neu-Amsterdam im Auftrag des Herzogs von York, die fortan New York genannt wird, sowie 1675 die ersten kriegerischen Zusammenstöße der Siedler mit Indianern, wobei sich William Goffe als „Engel von Hadley“ besondere Verdienste erwirbt. Die zwangsläufig ereignislose Zeit in den Verstecken nutzt Autor Harris geschickt, in dem er Whalley seine – tatsächlich nie verfassten – Memoiren schreiben lässt. Darin berichtet uns der Offizier, und dies ist der zweite Handlungsstrang des Romans, über die ihrem Exil vorausgegangenen Jahre des englischen Bürgerkriegs und die wenigen Jahre der von Cromwell geführten Republik. Zeitgleich zum Aufenthalt der Exilanten in Neu-England (1660-1679) erfahren wir im dritten Handlungsstrang vom ärmlichen Leben der in London zurückgebliebenen Angehörigen von Whalley und Goffe in anhaltender Angst vor Sippenhaft sowie über die Herrschaft des neuen Königs und seinen Höflingen und Beamten. In diesen Zeitraum fallen auch die Pest von London (1665) und der große Brand des Jahres 1666.
Robert Harris gelingt es auf wieder faszinierende Weise, uns die Fülle historischer Fakten, denen er sogar dank seiner akribischen Recherche das bislang unbekannte Geburtsdatum von William Goffe hinzufügen konnte, als lebhaft geschilderten Szenen ein Gesamtbild zu vermitteln, ohne uns Leser damit zu erschöpfen. „Königsmörder“ ist ein spannender, realitätsnaher Roman, der, wie bei diesem Autor gewohnt, wieder das Zeug zum Bestseller hat. Lediglich das etwas überraschende „Happy End“ des Romans kann man als allzu phantasievolle Schwachstelle empfinden.