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evaczyk
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Frankfurt

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Insgesamt 275 Bewertungen
Bewertung vom 23.09.2023
Spiel auf Leben und Tod / Fräulein vom Amt Bd.3
Blum, Charlotte

Spiel auf Leben und Tod / Fräulein vom Amt Bd.3


gut

Geheimnis um eine tote Wäscherin

Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie - das ist für viele Frauen auch heute noch ein Spagat. Vor hundert Jahren war es noch eine Ecke schwieriger, weiß Alma Täuber, die Protagonistin der historischen Krimireihe von Charlotte Blum um das "Fräulein vom Amt" im Baden-Baden der 1920-er Jahre. Denn die jungen Frauen mussten unverheiratet sein, wenn sie berufstätig bleiben wollten - Fräulein eben. Alma befindet sich in einem Dauerkonflikt: Der fesche Kriminalkommissar Ludwig Schiller würde ihr nur zu gerne einen Verlobungsring an den Finger stecken. Alma liebt den Polizisten - aber ihren Beruf und damit ihre auch finanzielle Unabhängigkeit will sie nicht aufgeben.

In "Spiel auf Leben und Tod", dem dritten Band der Autorinnen Regine Bott und Dorothea Böhme, die gemeinsam als "Charlotte Blum" schreiben, haben Alma und Ludwig allerdings ein Arrangement gefunden: Da Alma mit ihrer lebenslustigen Freundin Emmi eine kleine Mansardenwohnung bewohnt, hat das Paar immerhin Gelegenheit für ungestörtes Beisammensein.

Hatte Alma sich in den Vorgängerbänden eher zufällig als Hobbydetektivin betätigt, bekommt sie diesmal einen Auftrag: Denn eine ihrer Kolleginnen weigert sich zu glauben, dass ihre tot in einer Wäscherei gefundene Cousine Selbstmord begangen haben soll oder Opfer eines Arbeitsunfalls wurde. Alma soll das Geheimnis lüften - schließlich hat sie ja bereits Erfahrung im Ermitteln gesammelt.

Tatsächlich glaubt auch Alma schon bald, dass der Tod der jungen Frau kein Unfall gewesen sein kann. Ist das Rilke-Gedicht eines gewissen Paul, das in der Handtasche der Toten gefunden wurde, ein Hinweis? Und was trieb die junge Frau in eine auch bei Kommunisten beliebten Kneipe? Erst nach und nach begreift Alma, dass manche der scheinbar eindeutigen Hinweise anders gedeutet werden könnten.

Ermitteln muss auch Ludwig, allerdings in einer Diebstahlserie in Hotels in Baden-Baden. Ein hochkarätiges Schachturnier scheint auch Langfinger anzulocken, die gebannte Zuschauer um Schmuck, Uhren und Geld erleichtern.

Der Kriminalfall ist das eine Leitmotiv dieses historischen Romans, ein anderes ist Frauen-Power und Selbstermächtigung. Denn seit Freundin und Mitbewohnerin Emmi neuerdings Filialleiterin eines Blumengeschäfts ist, wagt auch Alma höhere Träume: Könnte eine Selbständigkeit als Detektivin ihr privates und berufliches Dilemma lösen? Tough ud selbstbewusst ist auch die "Queen", Anführerin einer kriminellen Frauen-Gang, die Alma erst bedroht und dann eine Art Allianz schmiedet. Ja selbst Almas Großmaman, die der Zeit des Kaiserreichs noch immer nachtrauert, entwickelt ein paar unerwartet moderne Ein- und Ansichten.

Insofern ist das Buch um die Abenteuer des Fräulein vom Amt nicht nur ein Kriminal- und Liebesroman, sondern auf unterhaltsame Weise auch ein Plädoyer für Frauenemanzipation.

Bewertung vom 21.09.2023
Gefährlicher Freispruch / Strafverteidiger Pirlo Bd.3
Bott, Ingo

Gefährlicher Freispruch / Strafverteidiger Pirlo Bd.3


sehr gut

Justizkrimi in Pandemiezeiten

Strafverteidiger Anton Pirlo steckt im dritten Band von Ingo Botts Justiz-Krimi "Gefährlicher Freispruch" in einer handfesten Lebens- und Schaffenskrise. Wer den Vorgängerband gelesen hat, weiß Bescheid: Eine schöne Frau hat dem Anwalt erst den Kopf verdreht und sich später als Vertreterin der Gegenseite erwiesen. Liebe kaputt und Fall in der Schlussphase eines fast schon verlorenen Verfahren gerade mal noch von Kanzlei-Kollegin Sophie Mahler gerettet. Da hängt Pirlo so in den Seilen, dass er kaum noch dazu kommt, sich die Haare und den Bart zu zerwuscheln. Dabei muss die Kanzlei dringend mal wieder ein paar Klienten aquirieren, mahnt Büro-Manager Wang.

Doch Pirlo ist gefordert: Ein Corona-Testzentrum fällt Brandstiftung zum Opfer, festgenommen wird ausgerechnet ein alter Mitschüler und Kronprinz einer Clan-Familie. Als ob das nicht ausreicht, wird Pirlo schnell klar gemacht, wer tatsächlich gezündelt hat, nämlich sein älterer Bruder. Wobei Kollegin Mahler nicht die geringste Ahnung von der Verwandtschaft mit dem arabischen Kleinkriminellen hat, hat sich Pirlo doch erfolgreich seine deutsche Identität jenseits aller Clan-Bezüge inklusive eines neuen Namens geschaffen. Neugierig ist die aufstrebende Top-Juristin allerdings schon, in welcher Beziehung ihr Chef mit zwei polizeibekannten Brüdern steht.

Da aber auch Kunden-Aquise gefragt ist, widmet sie sich persönlich - man kann sagen, sehr persönlich, einem Moderator der eine neue, angeblich besonders nachhaltige Corona-Schutzmaske promotet. Cool Corona, das ist hier der Ansatz. Allerdings sind die Masken nahezu vollständig im abgebrannten Testzentrum ebenfalls ein Opfer der Flammen geworden. Immerhin, in einer Talkshow erhält ein Starlet eine Test-Maske - und stirbt wenig später an einem anaphylaktischen Schock. Sind die angeblich so coolen Masken mit Silbernitratfilter gesundheitsgefährdend? Und wo ist eigentlich der Produzent ageblieben, der hohe Fördersummen kassiert hat?

Eigentlich könnten diese Fragen Pirlo gleichgültig sein, spielen die Antworten für seinen Mandanten und dessen Prozess doch keine Rolle. Allerdings drängt der Clan, dass die U-Haft aufzuheben sein und ausgerechnet Pirlos ständiger Widersacher, der bulldoggenähnliche Staatsanwalt, kommt mit einem Vorschlag, den Pirlo plötzlich nicht ablehnen kann...

Da Autor Bott selbst Anwalt ist, gibt es neben einem durchaus glaubwürdigen und aktuellen Justizkrimi gewissermaßen auch rechtliche Hinweise und juristische Feinheiten inklusive. Für mich macht das einen der Reize dieser Reihe aus - es ist zu spüren, dass sich der Autor nicht einfach irgrndwas zusammenfantasiert hat, sondern von der Materie Ahnung hat. Menscheln lässt er es erneut im komplizierten Familienverband Pirlos und auch Sophie Mahler hat nach der Trennung von ihrem Langzeit-Freund Lust auf neue private Optionen. Da kann man doch schon gespannt sein auf den nächsten Fall des Anwalt-Tandems.

Ein Anwaltkrimi für alle Leser*innen, denen ein intelligenter Plot wichtiger ist als reine Action.

Bewertung vom 20.09.2023
Ernstfall
Lamby, Stephan

Ernstfall


gut

Der journalistische Schnellschuss der tagesaktuellen Berichterstattung ist Stephan Lambys Sache nicht. Sein Buch "Ernstfall" befasst sich zwar mit einem sehr aktuellen Thema - das Krisenmanagement der Ampel-Koalition angesichts des Ukraine-Kriegs und die Auswirkungen des Konflikts auf das eigentlich geplante Reformprogramm. Doch der Dokumentarfilmer legt mit seinem fast 400 Seiten umfassenden Buch den langen Wurf vor.

Das hat den Vorteil, dass er über Entwicklungen ganz anders reflektieren und sie über einen Zeitram von fast eineinhalb Jahren Beobachtungen einordnen und bewerten kann, als Journalisten, die für eine Tageszeitung von Tag zu Tag über Ereignisse bewerten und dabei natürlich keinen Blick in irgendeine Kristallkugel werfen können - so manche Bewertung eines Tages würde einige Monate später wegen des weiteren Verlaufs womöglich anders ausfallen. Für Lamby scheint es mitunter den Vorteil zu haben, eher mal ein Interview gewährt zu bekommen, in dem es dann um eine längere Perspektive geht als die ein Zitat des Tage benötigenden Kollegen.

Ausgesprochen detailreich, analytisch und nah dran an den Protagonisten im Zentrum der Macht beschreibt Lamby nicht nur das Vorgehen der Koalition von Bundeskanzler Olaf Scholz angesichts der Herausforderungen, die Zerreißproben, Eitelkeiten und Machtspiele, ungeliebte Kompromisse und Entscheidungen, die alles auf die Probe stellen, wofür manche Politiker einmal standen - etwa wenn es um Rüstungslieferungen oder längere Laufzeiten von Atomkraftwerken geht.

Informativ ist das allemal. Allerdings kann Lamby der Versuchung nicht widerstehen, die Gedankengänge und inneren Monologe, die Szenen von Ereignissen zu schildern, bei denen er schwerlich dabei gewesen sein dürfte - etwa, wenn ein Emmanuel Macron mit seinen Beratern scherzt oder Scholz Putin ins Gewissen redet. Das ist dann doch mehr schriftstellerische Freiheit als journalistische Recherche, möchte ich annehmen. Und auch das Nachdenken darüber, was denn wohl die Dorfbewohner unten am Boden denken, wenn sie hoch über sich am Himmel von Mali die Lichter der Berliner Regierungsmaschine sehen - nein, das ist dann doch ein bißchen zu viel eurozentrische Selbstverliebtheit.

Lamby versteht es zudem, die Berichte von Kanzler- oder Ministerreisen zu Gipfeln und Krisentreffen so darzustellen, als habe er dort exklusive Einblicke erhalten und habe nicht gemeinsam mit dem üblichen Medientross im üblichen Hintergrundgespräch gesessen zu haben. Das wirkt dann leider ein bißchen zu sehr nach Selbstvermarktung und Ego-Show und ist eigentlich ziemlich überflüssig.

In der aktuellen Berichterstattung, und gerade angesichts komplexer Umstände, gibt es ein beliebtes journalistisches Format - "was wir wissen - was wir (noch) nicht wissen". Dank der langen Vorbereitung und zeitlichen Dauer weiß Lamby deutlich mehr, hat er doch die Möglichkeit des Rückblicks. Ein Dokumentarfilmer kann mehr zeigen als ein Journalist, der sofort die News des Tages liefern muss. Insofern bringt "Ernstfall" auch manches in Erinnerung, dass Leser angesichts der ständig neuen Entwicklungen vielleicht schon wieder halb vergessen haben. Für politisch Interessierte ist es auf jeden Fall ein guter Einblick ins Innere der Berliner Republik. Interessant fand ich seine Überlegungen, wie die Generationszugehörigkeit der Regierungsmitglieder auch Entscheidungen und Haltungen beeinflusst - hier die einen, die den Kalten Krieg, das Wettrüsten und die Friedensbewegung bewusst erlebt haben, dort diejenigen, für die das alles schon sehr lange her ist.

Bewertung vom 20.09.2023
Tödlicher Grund / Die Hausboot-Detektei Bd.2
Achterop, Amy

Tödlicher Grund / Die Hausboot-Detektei Bd.2


sehr gut

Cozy, divers und obendrein mit einem nachhaltigen Umweltthema - die Amsterdamer Hausboot-Detektive von Amy Achterop bieten in ihrem zweiten Fall "Tödlicher Grund" wieder die Kombination von Wohlfühlatmosphäre und Spannung. Wobei das mit dem Wohlfühlen für die Detektive so eine Sache ist, denn der Herbst naht, es zieht mächtig durch die Luken und Planken des alten Hausbootes und das Geld für Heizöl ist knapp - leider hat der erfolgreiche erste Fall in der Gourmet-Szene nicht so wirklich zu einem festen Kundestamm geführt.

Ein Routinefall - die Auftraggeberin ließ ihren Verlobten überprüfen, an dessen Treue ihr kurz vor der Hochzeit einige Zweifel kamen - scheint erfolgreich abgeschlossen. Doch dann wird die Braut in Spe tot aufgefunden und erweist sich als Whistleblowerin, die sich der Ausbeutung der Tiefsee in den Weg stellen wollte, indem sie ein geplantes Abbauprojekt torpedierte. Wirtschaftsspionage, Geldgier, Eifersucht in Forscherkreisen - den Hausbootdetektiven dämmert, dass Unfall oder Selbstmord als Todesursache ausscheiden dürften. Motive haben gleich mehrere Personen. Und was befand sich auf der gelöschten Festplatte der toten Frau?

Die Jagd nach einem USB-Stick könnte die Antwort bringen und führt bis nach Südamerika. Da passt es doch gut, dass die ehemalige Hausbootdetektivin Elin in der Region gerade auf Inspiration für ihren neuen Roman hofft und durchaus Zeit für ein bißchen Detektivarbeit hat.

Achterop sorgt dafür, dass die Leser*innen einen Wissensvorsprung vor den Detektiven haben und sich manche Zusammenhänge schon früher zusamenreien können als diese. Langweilig wird es dabei dennoch nicht, denn auch das Entwirren der Ermittlungsfäden zu beobachten ist nicht ohne Unterhaltungswert. Und dann gibt es da noch die zarten Gefühle hie und da. Wird der smarte Jack in Maddie einen Grund sehen, sein bisheriges Nomadenleben aufzugeben? Und wird Maddies beste Freundin, die sich ihr Studium als Domina finanziert, dem eher romantisch veranlagten Transmann Jan ihre Gunst schenken? Um ganz sicher zu sein, braucht es auf jeden Fall noch einen dritten Band. Gerne auch mehr, denn die unorthodoxen Hausboot-Detektive sind echte Sympathieträger.

Bewertung vom 24.08.2023
Joe Country / Jackson Lamb Bd.6
Herron, Mick

Joe Country / Jackson Lamb Bd.6


ausgezeichnet

Disclaimer: Ich war vermutlich voreingenommen, als ich "Joe Country" von Mick Herron las. Denn ich fand bereits die Vorgängerromane großartig, habe den Autor als intelligent, spannend und mit diesem sehr britisch-selbstironischen schwarzen Humor erlebt - da gehe ich von vornherein mit großem Wohlwollen an jedes neue Buch des Autors heran. Wobei er dadurch ja auch hohe Erwartungen zu erfüllen hat. Und gleich vorrneweg, ich bin auch diesmal nicht enttäuscht worden.

Einen Wermutstropfen gibt es allerdings, Herron hat die Angewohnheit, sich seiner Figuren öfter mal gewaltsam zu entledigen. Als Leser ist man daher gut beraten, keine der Figuren zu sehr ins Herz zu schließen, auch wenn die Spionage-Pechvögel aus dem Slough House dazu einladen können.

Die ungeliebten Versager des MI5 haben diesmal nicht nur mit den Ätz-Kommentaren ihres Chefs Jackson Lamb zurechtzukommen, sondern auch mit einer Rettungsmission, die sie ins tiefste Schneegestöber in Wales führt. Dabei spielen auch die privaten Abgründe und Schicksalsschläge eine Rolle: River Cartwrights ungeliebter Vater, der ungeplant und uneingeladen auf einer Beerdigung auftaucht, sorgt wie schon im Vorgängerband für allerlei gewaltsame Konflikte, doch vor alles ist es Louisa Gray, die zu einem Alleingang in die Kälte aufbricht, als der Sohn ihre toten Geliebten und Ex-Kollegen verschwindet.

Der Teenager, so stellt sich nach und nach heraus, ist auf zufällig auf brisante Informationen gestoßen - und hat sich mit einem plumpen Erpressungsversuch in Lebensgefahr gebracht. Louisas Rettungsmission läuft aus dem Ruder, als sie feststellen muss, dass sie es mit zu allem entschlossenen Gegnern zu tun hat. Werden die übrigen Mitglieder des disfunktionalen Teams rechtzeitig als Verstärkung hinzukommen, oder werden sie sich vorher gegenseitig zerfleischen? Und für welche zusätzlichen Komplikationen sorgt die Dauerfehde zwischen Lamb und der nunmehr zur MI5-Chefin aufgestiegenen Diana Taverner?

Herron wäre nicht Herron, wenn nicht auch dieser Roman mit ein paar Anspielungen gewürzt wäre, die durchaus Erinnerungen an tatsächliche Skandale im Königreich wachrufen. Dabei verbindet er einmal mehr einen gekonnten Spannungsaufbau mit bildhafter Sprache a la Raymond Chandler und einem recht boshaften Humor. Hier trifft intelligente Spannung wie einst bei John le Carré auf schrage Figuren, die auch in Douglas Adams Weltraumabenteuern nicht wesenfremd gewirkt hätten. Das ist einfach nur großartig, und es bleibt zu hoffen, dass Herron nicht zu lange zögert, bis er seine Slow Horses wieder ins Rennen schickt.

Bewertung vom 23.08.2023
Paradise Garden
Fischer, Elena

Paradise Garden


ausgezeichnet

Ein Mädchen sucht seinen Vater

Mit "Paradise Garden" hat Elena Fischer ein Buch geschrieben, das buchstäblich eine Wucht ist - und Billie, die 14-jährige Protagonistin, erinnert mich an einen weiblichen Huckleberry Finn des 21. Jahrhunderts, unterwegs nicht auf einem Floß auf dem Missisippi, sondern im Auto ihrer plötzlich verstorbenen Mutter unterwegs an die Nordsee, auf der Suche nach dem unbekannten Vater. Es ist eine ganz besondere und anrührende Coming of Age-Geschichte dieses Mädchens, das Zartheit und Schnoddrigkeit verbindet, das unsentimental ein Leben im Prekariat und den Zusammenhalt mit anderen Abgeängten in einem Wohnblock kurz vor der Autobahn. Das Klauen hat sie ausgerechnet von der borgeouisen Freundin gelernt, Billies Mutter wäre entsetzt gewesen, aber auf ihrem Weg erweist sich das Gelernte dann doch als ganz praktisch.

Auch Mutter-Tochter Konflikte und zerstörte Träume sind Themen dieses Buches, das aus der Perspektive Billies geschrieben wird. Dabei trifft die Autorin den richtigen Ton, wenn Billie lakonisch und ohne auf die Tränendrüse zu drücken von einem Leben berichtet, dass bis zum Tod der Mutter auch durchaus als schön empfunden wird. Es ist ein bißchen Billie und Marika gegen den Rest der Welt. Die alleinerziehende Marika, die aus Ungarn stammt und von einer Laufbahn als Tänzerin träumte, bringt sich und ihre Tochter mit zwei Jobs durch - als Putzfrau und als Kellnerin in einer Bar. Das Geld reicht trotzdem kaum, aber manchmal leisten sie sich trotzig Extravaganzen wie den größten Eisbecher im Eiscafé. Der Traum von einer gemeinsamen Urlaubsreise am Meer dagegen soll unerfüllbar bleiben.

Als Billie ihr Zimmer räumen muss, weil die Oma aus Ungarn für eine medizinische Behandlung in Deutschland zu Besuch kommt, ist das nur der Beginn ihrer Probleme. Denn die Oma ist ganz anders als ihre Mutter - und das Verhältnis von Spannungen geprägt. Der Tod der Mutter ist nicht nur ein traumatisches Erlebnis, er ist auch der Auslöser für Billies Road Trip ins Ungewisse, der zu überraschenden Erkenntnissen auch über die Mutter führen wird.

Das Buch lebt von seiner Hauptfigur und ihrem ehrlichen und unverstellten Blick, ihrem pragmatischen Umgang mit Widrigkeiten. Es gibt traurige, lustige, rührende Momente in diesem Buch, an dessen Ende nicht nur Billie wichtige Einsichten gewinnt.

Bewertung vom 23.08.2023
Sekunden der Gnade
Lehane, Dennis

Sekunden der Gnade


ausgezeichnet

Boston Noir

Dunkel, sehr dunkel ist Dennis Lehanes Roman "Sekunden der Gnade" - und das hat nicht nur mit dem hässlichen Problem Rassismus zu tun, der in diesem Boston Noir eine Rolle spielt. Ein wenig verarbeitete Lehane dem Vorwort zufolge auch eigene Schreckenserfahrungen seiner Kindheit, als er unversehens Hass und Gewaltbereitschaft in den Protesten gegen die Aufhebung der Rassensegregation an Schulen in Boston erlebte.

Der Streit um die Pläne, schwarze Kinder künftig in Bussen an Schulen in weiße Wohnviertel zu bringen und umgekehrt, ist auch in dem Roman der Hintergrund des Konfliktes, der immer gewalttätiger zu werden droht. Auch Mary Pat Fennessy ist wütend, dass ihre Tochter Jules künftig auf eine Schule im schwarzen Nachbarviertel gehen soll, ist bereit zu protestieren. Und dem Organisator der Proteste erteilt man ohnehin keine Absage. Offiziell geht es vielleicht um die Verteidigung irischer Identität, aber eigentlich um organisierte Kriminalität.

Wenn Mary Pat und ihre Tochter am Frühstückstisch über die Menschen im Nachbarviertel reden, ist das aus heutiger Perspektive harter Tobak. N-Wort, rassistische Schmähungen, nein, da wird erst mal gar keine Sympathie geweckt. Dabei sieht Mary Pat, in Armut aufgewachsen und ihr Leben lang eine Kämpferin, ganz klar: Abgesehen von der Hautfarbe sind die Unterschiede gar nicht so groß. Die Busse fahren zwischen sozial benachteiligten Stadtteilen, die Wohnviertel der Mittelklasse oder gar der Reichen sind von dem Projekt ausgenommen. So sind es die Benachteiligten, Abgehängten, die eine Art Stellvertreterkonflikt austragen.

Es könnte ein politischer Roman um Rassismus und soziale Ausgrenzung werden, doch dann kommt ein neuer Twist dazu: Jules kommt von einem Abend mit Freunden nicht nach Hause. Irgendwann wird Mary Pat unruhig, fängt an, überall nach ihrer Tochter zu suchen. Sie stößt auf Lügen und Halbwahrheiten, muss mühsam auf die Spur der Geheimnisse kommen, die ihre Tochter vor ihr hatte, wie ihr nun klar wird. Dabei ist Mary Pat nicht zimperlich. Sie kann einstecken, aber sie kann auch austeilen und stürzt sich nun voller Vehemenz auf jeden, der ihr die Antwort schuldig bleiben will.

Doch je mehr Mary Pat herausfindet, desto größer wird ihre Angst, dass die Suche kein gutes Ende nimmt. Noch uruhiger wird sie, als die Polizei ebenfalls auf der Suche nach Jules ist. Es geht um den Tod eines jungen Schwarzen in einer U-Bahn-Station. War Jules Zeugin, war sie beteiligt, hängt ihr Verschwinden mit dem Fall zusammen?

Früh wird beim Lesen klar; Das ist kein Friede, Freude, happy end Roman, kann es nicht sein. Während Mary Pat sich auf einen einsamen Rachefeldzug macht, um ihrer Tochter Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, wird sie zunehmend zur tragischen Heldin, die sich in einen Strudel von Gewalt verstrickt. Brachiale Gewaltszenen gibt es in diesem Buch ebenso wie Momente, in denen der Riss, der plötzlich durch die Gesellschaft und durch für geradezu freundschaftlich geglaubte Beziehungen geht, eindrucksvoll und eindringlich aufgezeigt wird. Da ist das Romanende nur konsequent. Dieser Roman ist harter Tobak, lohnt sich aber.

Bewertung vom 08.07.2023
Düster ruht die See / Ben Kitto Bd.6
Penrose, Kate

Düster ruht die See / Ben Kitto Bd.6


sehr gut

igentlich will Detective Inspector Ben Kitto in die Zukunft blicken - er wird schließlich demnächst Vater. In nunmehr sechsten Band von Kate Penrose um die Fälle des Ermittlers auf den Scilly-Inseln vor Cornwell, "Düster ruht die See", geht es hingegen gleich zweimal um die Vergangenheit. Zum einen wird bei Bauarbeiten das Skelett eines unbekannten Toten auf der kleinen Heimatinsel Kittos gefunden. Zum anderen werden mehrere Menschen umgebracht, die an der Verhaftung eines brutaten Gangsterbosses beteiligt waren, der nun im Sterben liegt. Hat er einen Auftragmörder in Gang gesetzt? Und ist Kitto, der bei einem Undercoverjob einen entscheidenden Beitrag zur Festnahme des Mannes leistete, auf der Insel in Gefahr?

Ohne zu spoilern, sei eines verraten: Leserinnen und Leser wissen von Anfang an, wer die Morde begeht und warum. Sie erfahren die Handlung daher aus zwei Perspektiven, während die Ermittler im Nebel stochern und bis fast zum Schluss nicht ahnen, mit wem sie es zu tun haben. Unspannend ist das dennoch nicht, im Gegenteil. Es ist ein bißchen wie in einem Film, in dem man dem in Bedrängnis geratenden Protagonisten zurufen will: "Jetzt dreh dich doch endlich mal um!"

Auch der Konflikt um ein Bauprojekt und den unbekannten Toten, der auf einer kleinen Insel mit hundert ständigen Einwohnern irgendwie durch die Wahrnehmung geraten ist, stellt die Ermittler vor Herausforderungen. Erst ein weiterer Todesfall wird die Lösung näherbringen. Der Plot ist überzeugend, der Schreibstil angenehm. Wer die vorangegangenen Bände nicht kennt, kommt trotzdem gut klar.

Zwischen den Ermittlungen gibt es Diskussionen um den Namen des Kindes, Auseinandersetzungen mit cholerischen oder besorgten Vorgesetzten und eine Reihe teils exzentrischer Personen in diesem spannenden, aber auch unterhaltsamen Inselroman, der Lust auf die wilde Schönheit der Inseln im Südwesten Englands macht.

Bewertung vom 02.07.2023
Kerbholz (eBook, ePUB)
Nixon, Carl

Kerbholz (eBook, ePUB)


sehr gut

Die privilegierte Kindheit dreier Geschwister einer englischen Managerfamilie findet ein jähes Ende, als die Eltern während eines Neusseeland-Urlaubs mit ihnen im Auto veruglücken. Der Wagen der Familie stürzt über eine Klippe in einen Fluss, der siebenjährige Tommy, die zwölfjährige Katherine und der 14-jährige Maurice überleben als einzige.

Ein Handy gibt es zum Unfallzeitpunkt im Jahr 1978 nicht - und vorerst vermisst niemand die Familie, die ihre Zelte in England abzubrechen und nach Neuseeland zu ziehen, wo der Vater aber erst in zehn Tagen an seiner neuen Arbeitsstelle erwartet wird. Bis dahin, das ist Maurice und Katherine schnell klar, wird niemand sie vermissen oder suchen. Um in der Wildnis zu überleben, sind sie ganz auf sich gestellt - und gründlich überfordert mit der Situation.

Das ist die dramatische Ausgangssituation von Carl Nixons Roman "Kerbholz". Im folgenden zeichnet sich dieser Roman allerdings weniger durch Action aus, als durch psychologische Spannung und einen Einblick in die Psyche der Figuren. Loyalität, Verbundenheit, Vertrauen, Entschlossenheit, Familienbande und Wahlfamilien, das sind nur einige der Themen dieses Buches, wobei Überleben und das Preis, das dafür gezahlt wird, ebenfalls eine wichtige Rolle spielt.

Nixon erzählt die Handlung nicht linear und offenbart den Lesern frühzeitig, dass es zumindest nicht für alle der Kinder einen guten Ausgang geben wird: In der Gegenwart wird eine alte Frau in Großbritannien von der neuseeländischen Botschaft kontaktiert. Menschliche Überreste seien als die ihres Neffen identifiziert worden, zusammen mit anderen Fundstücken, unter anderem der Uhr ihres seit Jahrzehnten vermissten Schwagers.

Susan, die Tante der drei Kinder, hat nach dem Verschwinden von Schwester und Schwager, als sich erst nach und nach offenbarte, dass die Familie nicht in ihrem neuen Heim angekommen war, jahrelang nach den Vermissten gesucht. Ist der Knochenfund nun der Abschluss?

Während Nixon die Geschichte der Kinder von hinten nach vorne erzählt, von den Outlaws, die die Kinder zufällig finden und sowohl retten als auch als Arbeitskräfte missbrauchen, folgen die Leser Susan aus der Gegenwart in die Vergangenheit, auf ihre Recherchen nach dem Verbleib von Nichte und Neffen. Wann hörte die Suche auf, ist sie den Kindern jemals näher gekommen? der Knochenfund in Neuseeland wirft neue Fragen auf, denn er stammt von einem 17 bis 18 Jahre jungen Mann. Wie lange haben die Kinder überlebt? Wird Susan noch einmal am anderen Ende der Welt nach Antworten suchen?

Bei aller Dramatik setzt Nixon in seinem Buch nicht auf Nervenkitzel, sondern auf die vielschichtigen Verbindungen seiner Protagonisten, ein kompliziertes und ambivalentes Beziehungsgeflecht, auf die Veränderungen, die Menschen durchmachen, wenn sie völlig außerhalb ihres gewohnten Lebens und seiner Werte gestoßen werden. Atmosphärisch dichte Schilderungen des Outbacks und seiner Bewohner, spröder und unsentimental, haben mich hier beeindruckt. Der Titel des Buches macht neugierig und erschließt sich im Laufe des Buches. Nixon ist ein Autor, den ich noch nicht kannte und der mich angenehm überrascht hat, vom furiosen Einstieg bis zum nachdenklich machenden Ende des Romans.

Bewertung vom 26.06.2023
Unsere Stimmen bei Nacht
Fischer, Franziska

Unsere Stimmen bei Nacht


sehr gut

Zweckgemeinschaft und Ersatzfamilie

Es ist nicht ganz die typische WG, die in Franziska Fischers Roman "Unsere Stimmen bei Nacht" (so poetisch können Küchengespräche der Bewohner bezeichnet werden!) in einer Berliner Villa zusammenfindet. Denn Herbert und Gloria, sowohl Eigentümer als auch Mitbewohner, brauchen einerseits Geld und haben andererseits reichlich Platz, nachdem die drei Kinder ausgezogen sind und ihr eigenes Leben leben - auch wenn Ex-Bilbliothekar Herbert einen Großteil des Erdgeschosses in ein eher schlecht gehendes Antiquariat umfunktioniert hat.

Am ehesten typische WG-ler sind Politikstudent Jay, der lieber auf seiner Gitarre komponiert als sein Studium voranzutreiben, und Lou, die zwar schon Mitte 30 ist, aber eher ungeplant in den Tag hineinlebt und gerne immer wieder neu aufbricht. Außerdem gibt es noch Chemieprofessor Gregor, gewissermaßen der Prototyp des zerstreuten Professors, und seine 15-jährige Tochter Alissa, die nicht nur mit Pubertätsproblemen zu kämpfen hat, sondern auch unter der Trennung ihrer Eltern leidet und den Vater ständig an regelmäßiges Essen erinnern muss. Wie gesagt - die Welt außerhalb chemischer Probleme nimmt Gregor eher verschwommen war.

Es ist die unkonventionelle, offene und unverblümte Lou, die aus dieser Zweckgemeinschaft nach und nach eine vielleicht dysfunktionale, aber doch auch zusammenwachsende Ersatzfamilie macht, die Isolation der einzelnen Bewohner aufbricht und Verbindungen knüpft.

Dabei sind die Männerfiguren dieses Romans eher blass. Mit Lou, Alissa und Gloria hat Fischer gleich drei Frauenfiguren verschiedener Generationen geschaffen, die auf der Suche sind, die Sehnsüchte und Hoffnungen haben, die sich nicht abfinden wollen mit Monotonie und zugeschriebenen Rollen. Klar, dass die titelgebenden nächtlchen Gespräche einen wesentlichen Teil leisten zu diesem Zusammenwachsen und der Annäherung an die kleinen und großen Geheimnisse der Figuren.

"Unsere Stimmen bei Nacht" ist ein ruhig erzählter, eher unspektakulärer Roman, der mich mit der Beschreibung des WG-Biotops in der Villa überzeugt, in der am Ende doch nicht mehr alle nebeneinander her leben. Dabei sind die Figuren in ihren stillen Dramen glaubwürdig und unprätentiös, wecken Smypathien. Der Zauber eines Neubeginns wohnt auch dieser WG inne.