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Benutzername: 
MarionHH
Wohnort: 
Schenefeld

Bewertungen

Insgesamt 120 Bewertungen
Bewertung vom 24.09.2021
Die letzte Tochter von Versailles
Stachniak, Eva

Die letzte Tochter von Versailles


ausgezeichnet

Um es gleich vorweg zu nehmen: Wer einen stringent erzählten historischen Liebes- und Abenteuerroman mit fortlaufender Handlung und einer starken Heldin als Identifikationsfigur, wie zum Beispiel bei den Hebamme- oder Wanderhure-Büchern, erwartet, wird eher enttäuscht werden. Natürlich gibt es diese Figuren, auf die sich die Handlung konzentriert, allen voran Véronique und Marie-Louise, doch diese sind immer stark eingebunden in die Geschehnisse ihrer Zeit, werden zum Spielball großer Mächte und der Umstände, und nicht immer geht alles gut aus. In meinen Augen ist der Autorin ein wirklich fulminanter, bewegender, bildhafter Historienroman gelungen, der den Wechsel Frankreichs vom Absolutismus zur Republik zum Leben erweckt, wobei sie sich einzelne Lebensumstände herauspickt und die Ereignisse an deren Beispiel erzählt. Dabei gelingt ihr eine überzeugende Darstellung des Alltags sowohl des Adels und des Königshauses als auch des einfachen Volkes und des Bürgertums. Genauso könnte es wirklich passiert sein, die Menschen und ihr Schicksal werden gerade dadurch, durch ihre Schwächen und Zweifel und durch die Tatsache, dass eben nicht alles immer glatt läuft, authentisch. Hierbei hat man als Leser das Gefühl, man nimmt lebhaft teil an deren Leben und ist selbst mittendrin in dieser Gesellschaft.

Für mich gliedert sich die Geschichte eigentlich in zwei Hauptteile (im Buch ist die Geschichte in mehrere Teile strukturiert), und zwar den ersten um Véronique und den zweiten um Marie-Louise. Der erste bricht dann relativ abrupt ab, und es bleibt lange unklar, was nun eigentlich mit Véronique geschehen ist. Als großartige Erzählerin hat die Autorin verschiedene Erzählstränge und Perspektiven verwendet, die sogar mit verschiedenen Stilen behaftet sind. Man merkt sofort (nicht nur an der Kursivschrift), dass hier Véronique erzählt, aus ihrer Erzählung spricht ihre mangelnde Bildung, ihre Unbedarftheit und Naivität, aber auch ihre Loyalität und ihre Liebe. In Rückblicken wird dann Marie-Louises Kindheit erzählt, und lange Zeit hört man von Véronique erst einmal nichts. Der rote Faden jedoch ist die Verbindung zwischen Mutter und Tochter, zunächst eine geistige, später auch eine reale - ein Faden, der nie abreißt. Beide fragen sich immer, wo die andere ist und ob es ihr gutgeht. Beiden ist gemein, dass sie keine schöne Kindheit hatten, sie werden Spielball der Mächtigen beziehungsweise der Männer, die sie lieben. Beide verkörpern jedoch auch genau ihre Zeit, Véronique die alte Epoche als Mätresse des absolutistischen Herrschers, Marie-Louise als Gattin eines Revolutionärs und Anhänger Dantons die neue, die Zeit der Aufklärung, des Umbruchs und der neuen Zeitrechnung. Marie-Louise stellt aber gleichzeitig das Bindeglied zwischen Monarchie und Republik dar. Anders als ihre Mutter hat Marie-Louise die Möglichkeit, aufgrund ihrer Hebammenausbildung einen Beruf zu ergreifen und ihr Einkommen zu sichern, sie ist also auch ohne Mann lebensfähig. Sehr bezeichnend ist außerdem, dass der Sohn Marie-Louises in eine andere, noch neuere Welt aufbricht – in das junge, gerade unabhängig gewordene Nordamerika. Er verkörpert also auch wieder eine neue Gesellschaftsordnung, ein von Mutterland losgelöster, unabhängiger Staat, in dem alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind.

Bewertung vom 12.08.2021
Tote schweigen nie / Raven & Flyte ermitteln Bd.1 (eBook, ePUB)
Turner, A. K.

Tote schweigen nie / Raven & Flyte ermitteln Bd.1 (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Großartig, originell, unkonventionell und superspannend – das ist wirklich ein toller Auftakt zur Serie um die Sektionsassistentin Cassie Raven. Dabei fängt es recht harmlos und eigentlich sogar ein bisschen merkwürdig an: Ein von oben bis unten tätowiertes und gepierctes Mädel schneidet Leichen auf und spricht dabei mit ihnen? Es ist aber tatsächlich kein Fantasy- oder Horrorroman, sondern ein waschechter Krimi, der seine Spannung langsam, aber stetig aufbaut und ab etwa der Mitte plötzlich – durch verschiedene Ereignisse - mächtig Fahrt aufnimmt. Tatsächlich braucht Otto-Normalleser schon starke Nerven, denn nicht Jedermanns Fantasie hält den detaillierten Beschreibungen der praktischen Arbeit einer Sektionsassistentin stand. Ich persönlich fand auch das sehr interessant und spannend. Der Großteil der Krimispannung wird hauptsächlich dadurch erzeugt, dass erstens gar nichts auf Mord hinweist und es dadurch zweifelhaft ist, ob die Ermittlungen nicht im Sande verlaufen. Es gibt zudem mehrere „kleinere“ Fälle, wie zum Beispiel eine verschwundene Leiche, die aufgelöst werden wollen, und diverse andere Handlungsstränge. Zweitens ist es natürlich ein sehr ungewöhnliches Duo, das sich hier zusammentut. Mit den Figuren der Cassie Raven und der Phyllida Flyte ist der Autorin in meinen Augen ein wahrer Clou gelungen – ich jedenfalls habe schon lange kein derartig fesselndes Ermittlerteam kennenlernen dürfen, das mich so in seinen Bann gezogen hat.
Zunächst konzentriert sich die Erzählung auf Cassie, ihre Vergangenheit wird angerissen, ihr Äußeres thematisiert, ihre innere Zerrissenheit und auch ihr Trauma, der Tod ihrer Eltern, und ihre daraus resultierenden Beziehungsängste. Mit den später immer häufiger eingeschobenen Kapiteln um Flyte, aus der Sicht der Ermittlerin erzählt, kommen wir der Persönlichkeit dieser ungewöhnlichen Figur immer näher, und je mehr das geschieht, desto mehr wächst sie einem ans Herz, und bei näherem Hinsehen wird auch deutlich, dass sie und Cassie gar nicht so unterschiedlich sind, wie es den Anschein hat. Beide sind klug und hartnäckig und wollen Gerechtigkeit, sie geben sich nicht mit Halbwahrheiten zufrieden. Beide haben Schlimmes erlebt und verdrängen ihre Trauer, haben aber aufgrund dessen große Schwierigkeiten, sich anderen zu öffnen. Dass dies ausgerechnet miteinander geschieht, ist ein umso größeres Wunder. Cassies Charme rührt zum großen Teil auch daher, wie sie mit den ihr anvertrauten Schutzbefohlenen umgeht, zutiefst respektvoll und sorgfältig, sie behandelt sie wie Menschen, nicht wie tote Körper, und sie kann sie lesen wie ein Buch. Flyte ist vor allem dann herrlich, wenn ihre Sensibilität durch ihre vermeintlich harte Schale bricht. Es ist durchaus bezaubernd zu lesen, wie sich die beiden im Laufe der Ereignisse aneinander annähern, wieder Angst davor kriegen und dann doch über ihre Schatten springen. Beide entwickeln sich dahingehend weiter, dass sie Vorurteile über Bord werfen und Hilfe annehmen, und diese kommt zuweilen aus höchst unerwarteter Ecke. Der Autorin gelingt es aber bei aller Konzentration auf die beiden Hauptfiguren, auch die anderen Charaktere liebevoll zu zeichnen, hier sticht besonders Cassies polnische Großmutter heraus.
Fazit: Wundervolles neues Ermittlerduo, ungewöhnlicher Plot, spannender Krimi mit überraschenden Wendungen und ebensolcher Auflösung – Herz was willst du mehr! Der sehr eingängige, humorvolle Erzählstil trägt sein Übriges dazu bei, dass dieser Krimi ein echter Pageturner ist. Ein großartiger Einstieg in eine hoffentlich mehrere Bände umfassende Serie um Cassie Raven und Phyllida Flyte – ich kann jedenfalls schon jetzt nicht genug von den beiden bekommen!

Bewertung vom 03.08.2021
Der Glanz Londons / Das Auktionshaus Bd.1
Martin, Amelia

Der Glanz Londons / Das Auktionshaus Bd.1


sehr gut

Bildhafter, versierter und spannender Roman um Sarah Rosewell und der erste Band der Auktionshaus-Saga Anfang der 1900er-Jahre. Der Autorin ist eine super sympathische Heldin gelungen, mit der man von der ersten Zeile an mit lebt und die unser Herz gewinnt. Dabei bleibt sie immer menschlich, macht Fehler, ist mal himmelhochjauchzend und manchmal voller Verzweiflung, aber gerade das macht sie unglaublich authentisch. Obwohl eindeutig ein Kind ihrer Zeit, wächst sie doch in eine Phase des Umbruchs hinein, der erste Weltkrieg bringt bei allem Schrecken gerade für Frauen große Chancen, in Berufen Fuß zu fassen, die ihnen sonst verschlossen gewesen wären. Großartig dargestellt fand ich die Umstände, in denen besonders die sozial schwachen Schichten leben, die Diskrepanz zwischen den Gesellschaftsschichten, zwischen arm und reich, aber auch die Tatsache, dass auch bei den Aristokraten nicht alles Gold ist, was glänzt. Die Autorin versteht es meisterhaft, sich in ihre Figuren hinzuversetzen, in ihre Ängste und Träume und ihren Standesdünkel und macht dadurch die Motive sicht- und nachvollziehbar. Außerdem beweist sie großes Wissen um die Arbeitsweise in einem Auktionshaus und gibt interessante Einblicke in eine Welt, die dem Laien doch eher geheimnisvoll erscheint und verschlossen bleibt. Sie lässt uns hinter die Kulissen schauen und offenbart sowohl in der Welt der Reichen und Schönen als auch in der Welt der Auktionshäuser intime Kenntnisse der Verhältnisse.

Der Fokus der Geschichte liegt klar auf der Figur der Sarah, aus ihrer Perspektive wird ausschließlich erzählt, ihre Persönlichkeit ist am detailliertesten herausgearbeitet. In drei Teilen mit darin eingebetteten einzelnen Kapiteln beginnt die Erzählung ab Sarahs 18. Lebensjahr im Jahr 1910 und wird chronologisch bis ins Jahr 1919 fortgeführt. Dabei springt die Autorin ein paar Mal mehrere Jahre voraus, was mich mitunter zunächst etwas verwirrt hat. Zum Glück geben die Jahreszahlen Klarheit und die Geschichte umreißt zumindest die Ereignisse der fehlenden Zeitspanne. Sarah selbst macht eine immense Entwicklung durch. Zunächst einmal erweist sie sich als sehr mutig, ihr vertrautes Umfeld, sei es noch so elend, zu verlassen und sich in eine für sie ungewisse Zukunft zu begeben. Im Haus der Lady Sudbury muss sie sich ebenso behaupten wie später als Frau in einem Männerberuf und als alleinstehende junge Frau in der Gesellschaft. Dabei – und das fand ich einen weiteren interessanten Aspekt – vergisst sie nie ihre Herkunft und wird auch oft genug im Zusammenhang mit ihrer Familie oder ihrem Jugendfreund Charlie mit ihr konfrontiert. Mit wachsender Erfahrung wird sie nicht nur selbstbewusster, sondern auch härter, sie muss nicht Everybody´s Darling sein und geht für die Erfüllung ihrer Träume sprichwörtlich über Leichen. Da wunderte es mich phasenweise, wie naiv sie in manchen Dingen ist (was glaubt sie denn, was Charlie von ihr will?) und manche Entscheidungen waren bei allem Wohlwollen nicht nachvollziehbar. Als kleinen Kritikpunkt will ich noch anmerken, dass ich mir zu manchen Themen ein paar Sätze mehr gewünscht hätte, viele Dinge und Ereignisse werden doch recht oberflächlich angerissen, zum Beispiel der Einfluss der Suffragetten, der Antisemitismus, die Frauenfeindlichkeit, der Zerfall der Gesellschaft, die Ächtung einer alleinstehenden Frau, die ihren Ruf zu wahren hat und die Verzweiflung, die manche Situationen in Sarah auslösen. In vielem hat sie sehr viel Glück und einiges ist dann doch ein bisschen weichgespült. Auch wünschte ich mir eine bessere Ausarbeitung einiger Nebenfiguren, so war ich ein schwerer Fan von Charlie, der für mich ein zwar zwiespältiger, aber gerade deshalb ein sehr interessanter Charakter war und dem ich viel näherkam als dem Fotografen und Aristokraten Philip Maynard. Diese zwei Gegenspieler um Sarahs Gunst hätten durchaus mehr Raum einnehmen können, aber das birgt dann auch noch genug Stoff für den Folgeband.

Bewertung vom 05.07.2021
Die Verlorenen / Jonah Colley Bd.1 (eBook, ePUB)
Beckett, Simon

Die Verlorenen / Jonah Colley Bd.1 (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Warum Jonah Colley, Scharfschütze einer Londoner Polizeieinheit, dem Hilferuf seines ehemaligen Kumpels Gavin folgt, weiß er selbst nicht so genau. Was er am Treffpunkt vorfindet, ist jedoch glasklar: vier in Plastikfolie eingewickelte Körper, darunter der seines ehemaligen Freundes. Beim Versuch zu retten, was zu retten ist, wird Jonah niedergeschlagen. Als er erwacht, ist er selbst gefesselt und liegt auf Plastikfolie – und für Jonah beginnt ein Alptraum, aus dem es kein Entrinnen zu geben scheint…

Hammermäßiger Auftakt einer neuen Thriller-Reihe von Erfolgsautor Simon Beckett, der einem wie immer kalte Schauer über den Rücken jagt und sich nicht aus der Hand legen lässt. Beckett ist bekannt dafür, dass er kein Blatt vor den Mund nimmt, er benennt die grausamsten Details beim Namen. Die Bilder, die er hervorruft, lassen dem Leser kaum Raum für Fantasie. Das war zumindest so bei der Serie um den forensischen Anthropologen David Hunter, und auch dieser Thriller ist nichts für schwache Nerven. Schon der Paukenschlag zu Beginn lässt einem die Haare zu Berge stehen. Da wird nicht lange gefackelt – nach einem kurzen Intro findet man sich unversehens mit Protagonist Jonah Colley in der verrotteten Lagerhalle in einer gottverlassenen Gegend am Londoner Hafen wieder – und wird sofort mitten in Jonahs Alptraum mit hineingezogen. Becketts Erzählstil und -freude hat auch in diesem ersten Band der neuen Reihe nichts von seiner Überzeugungskraft und Intensität verloren, er versteht einfach sein Handwerk, entwirft mühelos Helden und Antihelden, stiftet Verwirrung mit überraschenden Wendungen und hält die Spannung so konstant aufrecht, dass auch dieses Buch zu einem Pageturner wird.

Mit Jonah Colley ist dem Autor hier auch wieder ein starker, wenn auch polarisierender Charakter gelungen. Innerlich gebrochen nach dem Verschwinden seines Sohnes Theo und der Trennung von seiner Frau, lebt er in einer schäbigen Bude, einzige soziale Kontakte sind die zu seinen Kollegen. So wirklich interessiert ist er an nichts mehr – außer an der Frage, was mit seinem Sohn damals passiert ist. In Rückblenden werden parallel zur Gegenwartsgeschichte die Ereignisse um das Verschwinden seines Sohnes erzählt. Anfangs losgelöst voneinander, bildet sich nach und nach ein Gesamtbild, das zeigt, wie alles zusammenhängt. Die Erlebnisse am Kai ändern alles. Man könnte meinen, sie traumatisieren Jonah noch mehr, das tun sie einerseits auch, doch andererseits geht er gestärkt daraus hervor, er ändert sein Leben und entwickelt eine andere Sicht auf die Dinge. Dabei ist er keinesfalls der hundertprozentige Sympathieträger, auch er verschweigt einiges und handelt manchmal irrational. Er ist eher der Antiheld, durch sein Trauma glaubt man, er habe sich aufgegeben, dazu kommen noch seine schweren Verletzungen – er läuft an Krücken durch das Buch. Mehr als einmal kommen einem Zweifel am Ausgang der Situation, denn man traut ihm einfach nicht zu, dass er heil da wieder herauskommt. Jonahs Unzulänglichkeit gibt der Geschichte zusätzliche Brisanz, seine Verletzlichkeit und Hartnäckigkeit geben ihr Emotionalität. Der starke Fokus auf Jonah als Hauptfigur lässt kaum Raum für andere starke Figuren, vielleicht das Einzige, was ich ein wenig bemängele.

Fazit: sehr spannende, durchaus brutale und blutige Geschichte und starker Auftakt zur neuen Thriller-Reihe des Erfolgsautors Beckett, die der David-Hunter-Serie in nichts nachsteht. Der Autor hat nichts verlernt, gewohnt bildhaft und lässig hält er die Spannung hoch, sorgt mit überraschenden Wendungen und erneuten Paukenschlägen für erschrecktes Aufkeuchen. Mit Jonah Colley ist ihm ein vielschichtiger Charakter gelungen, von dem man ungemein gefesselt ist und der dafür sorgt, dass man auch die Folgebände sehnsüchtig erwartet.

Bewertung vom 25.05.2021
Die Akte Adenauer / Philipp Gerber Bd.1
Langroth, Ralf

Die Akte Adenauer / Philipp Gerber Bd.1


ausgezeichnet

Super spannender Krimi, der vor dem historischen Hintergrund der bundesdeutschen Gründerjahre nicht nur einen verzwickten Kriminalfall beschreibt, sondern auch ein authentisches Bild der politischen Situation im jungen Deutschland darstellt. Im nach dem Krieg zerstörten Deutschland herrscht einerseits Aufbruchstimmung, da die Menschen mit dem Wiederaufbau ein gemeinsames Ziel haben, andererseits bilden sich zwei gegensätzliche Staaten auf bundesdeutschem Boden heraus, deren grundverschiedene Wirtschafts- und Gesellschaftsordnungen sich konfrontativ gegenüberstehen. Im Buch wird deutlich, wie sehr die Amerikaner auf das neue Deutschland Einfluss nehmen und wie viele ehemalige Mitglieder der SS und NSDAP trotz Entnazifizierung in hohe Ämter und in Führungsetagen gesetzt werden. Konrad Adenauer wird ebenfalls von den amerikanischen Besatzern reaktiviert und unterstützt, sie unterschätzen jedoch seinen politischen Ehrgeiz. Er lässt sich nur ungern fremd steuern und die Amerikaner können ihn nur durch eine geheime Akte kontrollieren.

Die gegensätzlichen Systeme werden im Buch durch Philipp Gerber und der Kommunistin Eva Herden verkörpert. Philipp Gerber, der amerikanische Agent, dessen jüdische Eltern vor dem Nationalsozialismus geflohen sind, steht zwischen den Stühlen. Das ist einer der interessantesten Aspekte des Buches. Mit seinem Protagonisten Gerber hat der Autor eine aufregende und starke Figur geschaffen, die nicht immer der Sympathieträger ist und dem man sich erst einmal annähern muss. Gerber ist in sich ein zwiespältiger Charakter, ein ehemaliger Deutscher, der gegen sein Herkunftsland kämpft und sich später entscheiden muss, was er sein will. Er macht eine Entwicklung durch vom obrigkeitshörigen Armeeoffizier zum selbst denkenden investigativen Ermittler, der allerdings auch zu Misstrauen gegenüber seinen Mitmenschen und zu Alleingängen neigt. Gerber reflektiert sehr viel, dies ist seiner Vergangenheit und seinen Schuldgefühlen geschuldet, die er gegenüber dem Vaterersatz Anderson hat. Eines aber behält bei ihm immer die Oberhand: Er will Gerechtigkeit und die absolute Auflösung des Falles, und das um nahezu jeden Preis, er ist nicht bestechlich und er macht sich seine Entscheidungen nicht leicht. Als er auf den charismatischen Adenauer trifft, beginnt er seine Identität noch mehr zu hinterfragen und seine Loyalität verschiebt sich. Zudem hegt er Gefühle für die Kommunistin Eva, die gegen Adenauer eingestellt ist. Diese beiden nähern sich mal einander an und mal driften sie wieder auseinander, grundsätzlich aber ergänzen sich in ihrer Arbeit ganz hervorragend, sind hochintelligent und arbeiten sehr professionell. Ich fand sehr beeindruckend, wie Philipp sich den Versuchen, ihn zu manipulieren, widersetzt und sich in seinen Schlussfolgerungen nicht beirren lässt. Als Gerechtigkeitsfanatiker will er das geplante Attentat der nationalsozialistischen Organisation Werwölfe natürlich unbedingt verhindern und als ein aus Nazideutschland Geflüchteter hat er außerdem extremes Interesse daran, dass Hitler-treue Organisationen aufgespürt und aufgelöst werden, obwohl diese noch von den Amerikanern unterstützt wurden. Gerber kämpft also für das Gute und will dabei auf jeden Fall gewinnen.

Fazit: Toller Einstieg in eine neue Reihe um den BKA-Beamten Philipp Gerber und ein für mich hochinteressanter und authentischer Einblick in die politischen und historischen Hintergründe der bundesdeutschen Gründerjahre. Es lohnt sich auf jeden Fall, auch die Erläuterungen und das Interview des Autors am Ende des Buches zu lesen. Für alle Geschichtsinteressierten bietet dies eine spannende Lektüre, bei der nicht unbedingt nur immer der reine Mordfall, sondern mehr noch die politischen Verwicklungen im Vordergrund stehen. Ich freue mich auf den zweiten Band, dessen Veröffentlichung für Februar nächsten Jahres geplant ist!

Bewertung vom 11.05.2021
Sturmvögel
Golz, Manuela

Sturmvögel


ausgezeichnet

Diese Geschichte ist rührend, ergreifend, lustig, aufregend und Emmy ist einfach wundervoll! Schon zu Beginn wird deutlich, wie sie tickt und was sie für einen Humor hat, und im Laufe des Buches zeigt sich, dass das eine ihrer hervorstechendsten Charaktereigenschaften ist: dieser manchmal derbe, manchmal ironische, aber immer grundehrliche und unglaubliche komische Humor zieht sich durch die ganze Geschichte hindurch. Diesen bewahrt sie sich ihr Leben lang, sie nimmt meist – wenn dann nur sehr selten – kein Blatt vor den Mund, er hilft ihr und anderen durch alle Lebenslagen. Und schwierige Lebenslagen und Schicksalsschläge gab es einige in Emmy Leben. Bei diesen und allen anderen hilft ihr ihre zweite herausragende Eigenschaft: ihre Charakterstärke. Sie ist eine unglaublich starke Frau und bleibt sich und ihren Überzeugungen immer treu. Wer ihr Vertrauen und ihre Freundschaft einmal hat, verliert sie nicht, und ihre natürliche Herzensgüte und Schlauheit, ihr Pragmatismus und Erfindungsreichtum, ihr gesunder Menschenverstand und ihre Menschenkenntnis lassen ihre mangelnde Schulbildung in Vergessenheit geraten.

Emmys Leben wird in mehreren Zeitabschnitten erzählt und reicht einmal sogar in die Zeit vor ihrer Geburt bis ins Jahr 1870 zurück. Die Autorin wechselt also mitunter zwischen großen Zeitspannen hin und her, kehrt aber immer wieder zur Hauptgeschichte in die Gegenwart 1994 zurück. Dies geschieht sehr flüssig, ohne dass es jemals langweilig oder anstrengend wird. Dabei werden auch die Gegensätze in Emmy Leben deutlich, zum Beispiel ihr einfaches Leben auf der Insel und ihr Erwachsenwerden in der großen Stadt, dem Sündenbabel Berlin, und die technischen Entwicklungen und Innovationen (vor allem der Siegeszug des Automobils - entgegen aller Prognosen!) deutlich. Sehr schön in dem Zusammenhang war in meinen Augen, dass Emmy in ihrem Keller einiges aus der Vergangenheit aufbewahrt hat, was bei mir dann einen großen Wiedererkennungswert hervorgerufen hat, als hätte ich selbst ein liebes Erinnerungsstück wiedergefunden. Faszinierend fand ich zudem, dass sich das titelgebende Motiv des Sturmvogels durch den ganzen Roman zieht. Neben den Sturmvögeln auf der Nordseeinsel kehren im Herbst auch die Seemänner von ihren Walfangtouren zurück. Auch Emmy ist ein Sturmvogel, die Stürme des Lebens haben sie hierhin und dorthin geweht und sie schließlich in einem sicheren Hafen landen lassen. Auch wenn der Roman stark auf Emmy fokussiert ist, kommen auch die anderen Charaktere nicht zu kurz und mitunter wird auch aus ihrer Perspektive erzählt. Zum Glück hat die Autorin all ihren Figuren vielschichtige Persönlichkeiten mit eigenen Facetten zugestanden, so dass sie sich nicht hinter der starken Hauptfigur verstecken müssen.

Fazit: Der Autorin ist eine wunderbare Geschichte und ein authentisches Portrait gelungen. Sie schafft es, Emmy durch die historischen Epochen zu begleiten und damit dem Leser einen Lebensalltag näher zu bringen, wie ihn die meisten nicht kennen dürften. Ihre bildhafte Sprache lässt sowohl die kleine Nordseeinsel als auch das turbulente Berlin der goldenen 20er lebendig werden, es ist einfach großartig, wie man sich mittendrin fühlt, wie man vor allem mit Emmy mit lebt und sie am liebsten an den Händen fassen und mit ihr lachen und weinen möchte. Unbedingt lesen!

Bewertung vom 28.04.2021
Der Donnerstagsmordclub / Die Mordclub-Serie Bd.1 (eBook, ePUB)
Osman, Richard

Der Donnerstagsmordclub / Die Mordclub-Serie Bd.1 (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Gruselig, beängstigend, erschütternd – und vor allem totkomisch, das ist Coopers Chase und der Donnerstagsmordclub. Voller verzwickter Irrungen und überraschender Wendungen, voller Geheimnisse, voll schräger und vor allem zwielichtiger Typen, falscher Verdächtigungen und knallharter Ermittlungsarbeit – das ist diese Geschichte, dazu noch ein richtig guter Krimi und ein Appell, nie, wirklich NIEMALS ältere, vermeintlich friedfertige und scheinbar tatterige Mitmenschen zu unterschätzen. Die Sache fängt recht harmlos an, in verschiedenen Erzählsträngen lernen wir die Bewohner von Coopers Chase kennen, dies hauptsächlich anhand von Joyce‘ Tagebuch, dann deren Gegenspieler Ian Ventham und Tony Curran und auch die hiesige Polizei in Person von Donna und Chris. Daneben wird aber auch aus der Perspektive von vielen (vermeintlichen) Nebenfiguren erzählt, zum Beispiel Pater Mackie. Dies muss man erst einmal alles zusammenkriegen, die schnellen Wechsel überrumpeln mitunter und man muss sich erst wieder in die andere Perspektive hineinfinden. Die Geschichte wird jedoch chronologisch und nahtlos erzählt, das hilft, und man erfährt das Geschehen aus unterschiedlichen Sichtweisen, die nach und nach die Sachlage erhellen. Oder sagen wir: scheinbar erhellen, denn der Autor, dieser hinterhältige Kerl, versteht es meisterhaft, einen ständig auf falsche Fährten zu locken, so dass man alle möglichen und unmöglichen Leute verdächtigt (ich habe sogar zeitweise welche aus dem Donnerstagsmordclub selbst verdächtigt – ist das zu glauben?) und ständig Erkenntnisse preiszugeben, die einen alles über Bord werfen lassen und zu völlig neuen Ansätzen führen. Man sollte wirklich alles genau lesen, nichts überlesen und muss sich mächtig konzentrieren, dass einem kein Hinweis entgeht. Aber zur Beruhigung: Es lässt sich dank des immens flüssigen Schreibstils wunderbar lesen und am Ende fügt sich wirklich alles aufs Trefflichste zusammen.

Mit dem ersten Mord nimmt die Geschichte, die so harmlos-idyllisch angefangen hat, richtig Fahrt auf und bald überschlagen sich die Ereignisse geradezu. Je weiter das Ganze voranschreitet, desto mehr erfährt der Leser über die Hintergründe, die weit in die Vergangenheit reichen, und auch über die Bewohner und ihre Geschichte. Der Autor versteht es meisterhaft, subtil Spannung aufzubauen, das tut er in einer augenzwinkernden und sehr charmanten Manier im Stil der guten alten britischen Krimitradition. Dementsprechend angelegt sind auch seine Charaktere, allen voran Joyce, die mich mit ihrer scharfen Beobachtungs- und Kombinationsgabe frappierend an Miss Marple erinnert, und Elizabeth, die pensionierte Geheimagentin, gegen die Mister Bond wie ein eher langweiliger Waisenknabe wirkt und die mit ihrer Gerissenheit geradezu furchteinflößend ist. Joyce und Elizabeth sind ein echtes Dreamteam, und mit Ibrahim, dem Psychiater, und Ron, dem kämpferischen, durchsetzungsstarken, Ex-Gewerkschaftler, haben sie hingebungsvolle Helfer. Kein Wunder, dass die vier der Polizei immer einen Schritt voraus sind. Sehr schön fand ich, dass auch die anderen Figuren facettenreich und vielschichtig gezeichnet sind, jede hat ihre Eigenheiten, sie sind eben nicht krampfhaft skurril, sondern menschlich und authentisch, das macht sie unglaublich liebenswert.

Fazit: Für mich ein großartiges Buch, tolle Geschichte, spannender Krimi, herrliche Charaktere – was will man mehr. Das Buch hält, was das Cover verspricht, perfekte britische Erzähltradition. Hut ab übrigens auch vor der Übersetzerin, der ironische und hintergründige Witz kommt wirklich hervorragend rüber. Man sollte den britischen Humor, viele Figuren und Erzählstränge mögen, dann wird das Buch zu einem wahren Lesevergnügen. Das Ende lässt auf mehr Fälle für den rüstigen und umtriebigen Donnerstagsmordclub hoffen – ich kann es kaum erwarten!

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 13.04.2021
Die Toten vom Gare d'Austerlitz
Lloyd, Chris

Die Toten vom Gare d'Austerlitz


ausgezeichnet

Dieser historische Kriminalroman ist herausragend und lässt einen über weite Teile sprachlos und erschüttert zurück. Er liefert ein authentisches Bild der Ereignisse in Paris am Tag des Einzugs der deutschen Besatzer und in den Tagen unmittelbar danach, gibt tiefe Einblicke in das zerstörte Seelenleben des Kriegsveteranen Édouard „Eddie“ Giral und bohrt skrupellos in den Wunden einer zutiefst verstörten Stadt. Das normale und öffentliche Leben steht weitgehend still, Verordnungen gelten für Franzosen, nicht aber für Deutsche, die Besatzer überwachen jeden Schritt und der physische und psychische Druck auf die Einheimischen lässt viele straucheln und zusammenbrechen. Der Rest kämpft darum nicht aufzufallen. In einem Umfeld der Angst und des Misstrauens nun soll Giral, selbst traumatisiert und selbstmordgefährdet, nun Morde an Menschen aufdecken, die sowohl Deutschen als auch Franzosen herzlich egal sind. Wer sind schon ein paar Polen, die auf der Flucht getötet wurden, und ein weiterer, der sich mit seinem kleinen Sohn vom Balkon gestürzt hat, wenn in Paris gerade alles den Bach hinuntergeht?

Giral indessen kämpft gegen seine eigenen Dämonen. Schwer traumatisiert von seinen eigenen Kriegserlebnissen, hat er seine Familie verlassen und lebt als einsamer Wolf, unberechenbar in seiner Wut und in seinem Wüten. Er verliert sich häufig in der Vergangenheit, taucht ein in die Schützengräben des Ersten Weltkrieges und in die Ereignisse im Jahr 1925, holt diese Ereignisse sukzessive ans Tageslicht, bis sie auch in der Gegenwart eine Rolle spielen. Eines kann er aber nicht lassen: die Wahrheit zu finden, egal was es kostet. Meines Erachtens lenkt ihn die Spurensuche und Recherche auch zu einem nicht unerheblichen Teil von seinen eigenen Kümmernissen ab, und mitunter scheint er die Repressalien der Deutschen, egal aus welchem Lager, gar zu genießen. Er scheint zu glauben, dass er dies verdient habe, dass es eine Art Buße darstellt.

Giral ist ein äußerst zwiespältiger Charakter, er ist sowohl stark als auch schwach, er polarisiert mit seinen Äußerungen und seinem Handeln. Er tritt Besatzern, Vorgesetzten und Mitarbeitern gleichermaßen schnoddrig gegenüber, ihm scheint alles egal, er provoziert und steht seinem eigenen Dasein scheinbar gleichgültig gegenüber. Dann wieder erweist er sich als wahrer Menschenfreund, nicht nur in seinen Bemühungen die Wahrheit zu finden und den Getöteten gerecht zu werden, sondern auch in seinen Versuchen, den Gestrandeten und Flüchtlingen zu helfen und natürlich in seinem absoluten Wunsch seinen Sohn zu beschützen. Er versucht auf vielerlei Weise seine Schuld zu sühnen. Seine herausragende Intelligenz lässt ihn manch brenzlige Situation meistern, und sein Instinkt lässt ihn oft das richtige tun, dann wieder vergisst er sich derart, dass er um seine Handlungen nicht mehr weiß. Interessanterweise trifft dies dann aber meist die Richtigen.

Leicht liest er sich nicht, dieser Kriminalroman, was aber nicht an dem gehobenen und eingängigen Schreibstil des Autors liegt. Man muss sich auf die Zeit und auf die zwiespältigen Figuren einlassen, die Ungerechtigkeit ertragen, und auch die Lösung ist alles andere als regelkonform und befriedigend. Es ist eben kein Nullachtfünfzehn-Buch, auch kein „historischer Krimi“ nach genrebekannter Machart. Der Fall selbst und seine Aufklärung tritt zwischendurch in den Hintergrund, zu sehr ist Giral damit beschäftigt, zwischen seinem Sohn, seiner Vergangenheit, den Menschen, denen er helfen will und denen, die er am liebsten töten würde, hin und her zu springen. Die eher sperrigen Charaktere sind nicht alle nur gut oder nur böse, aber alle sind undurchsichtig und nicht nur Hochstetter ist „enigmatisch“, wie es der Klappentext treffend beschreibt. Trauen kann man eigentlich niemanden, und durchaus deprimierend an der ganzen Sache ist, dass die wahrhaft Schuldigen davonkommen. Kleine Siege gibt es aber dennoch, und die sind es, die zählen.

Bewertung vom 31.03.2021
Die Roseninsel
Reitner, Anna

Die Roseninsel


ausgezeichnet

Wunderbare Geschichte zweier Frauen auf zwei Zeitebenen
Liv ist Ärztin an der Charité in Berlin. Nach einem traumatischen Erlebnis, über das sie nicht hinwegkommt, beschließt sie spontan, eine vierwöchige Stelle als Verwalterin auf der Roseninsel im Starnberger See in Bayern, weit weg von allem, anzunehmen. Einzige Verbindung zur Außenwelt ist Johannes, der Lebensmittel und die Post bringt. Durch ein Missgeschick Livs stürzt eine Gipsbüste auf die Holzveranda der historischen Villa und reißt ein Loch, im Hohlraum darunter findet Liv ein Büchlein, das sich als Tagebuch einer längst vergessenen Bewohnerin der Roseninsel aus dem Jahr 1890 entpuppt. Liv beginnt zu lesen und taucht mehr und mehr ein in ein fremdes Leben...

Wunderschöne Geschichte auf zwei Zeitebenen, die von der ersten Zeile an fesselt und die sich hervorragend herunterlesen lässt. Dies liegt zum einen an dem sehr eingängigen, gut zu lesenden Schreibstil, der bei aller Bildhaftigkeit nie platt oder simpel daherkommt, zum anderen an den sympathischen und fesselnden Frauenfiguren der Liv und der Magdalena und zum dritten natürlich an der einfach nur schönen Geschichte. Es sind nicht die große Action, die aufregenden Abenteuer oder das herzzerreißende Drama, die hier erzählt werden, dennoch passiert immer etwas und es wird nie langweilig. Die Autorin versteht es, Bilder vor dem inneren Auge entstehen zu lassen, und in ihren detailreichen Beschreibungen spiegelt sich ihre Liebe zur Roseninsel wider. Besonders die historische Zeitebene lässt sie authentisch aufleben, ihre Charaktere sind lebendig und vielschichtig und die Beschreibung der Menschen, deren Leben und ihre Lebenswelt überzeugen, so dass man das Gefühl hat, man ist mittendrin. Beide Frauen, Liv und Magdalena, wurden mir innerhalb kürzester Zeit so vertraut, als würde ich sie gut kennen, und die Geschichte lebt natürlich hauptsächlich von ihnen. Über ihre intimsten Gefühle und Gedanken erfährt der Leser am meisten, und auch wenn die weiteren Figuren, gerade im historischen Teil, ebenfalls sehr gut beschrieben sind und eine wichtige Rolle spielen, so dreht sich doch alles um die beiden Frauen und mit ihnen lebt man intensiv mit. Interessant in dem Zusammenhang fand ich, dass sich die Erlebnisse der beiden zu überschneiden scheinen - erlebt zum Beispiel Magdalena die Liebe, erlebt Liv sie ebenfalls, hat Magdalena einen Durchhänger, hat ihn auch Liv. Auch wenn sie über Jahrzehnte voneinander getrennt leben und ganz klar Kinder ihrer Zeit sind, bleiben sie doch stark miteinander verbunden. Beide haben eine schwierige Zeit, verarbeiten traumatische Erlebnisse, treffen ungewöhnliche Entscheidungen, finden zu sich selbst und schließlich ihr Glück. Beides sind starke, intelligente Persönlichkeiten, die von Selbstzweifeln geplagt viele Regeln hinterfragen.
Bei den Nebenfiguren fand ich besonders die Baronin Zeiss herrlich beschrieben, diese habe ich direkt vor mir gesehen in ihrem Krähen-Outfit und mit stocksteifem Rücken! Johannes war einfach nur nett, seine Oma Rosa hingegen wieder eine originelle Figur und eine lebendige Verbindung zur Vergangenheit.

Fazit: Wunderbares Buch zum Abtauchen in eine andere Welt, das Lust macht mehr über diese geheimnisvolle Insel und ihre Geschichte zu erfahren. Keine hochgeistige, aber eine sehr fesselnde Geschichte mit faszinierenden Frauenfiguren, deren beider Leben auf wundersame Weise verwoben werden und über die man gerne mehr erfahren würde. Sehr gelungen übrigens auch das Nachwort, das dem Leser die historischen Tatsachen näher bringt und den Bezug zur Geschichte herstellt. Wärmstens empfohlen für alle, die gerne in eine Epoche abtauchen und sich mit interessanten Frauenfiguren identifizieren können. 

Bewertung vom 22.02.2021
Lockvogel
Prammer, Theresa

Lockvogel


ausgezeichnet

Bei Schauspielschülerin Toni – von Antonia – Lorenz läuft es schlecht: Ihr Freund Felix ist mit dem gesamten Ersparnissen und dem Schmuck ihrer Großmutter abgehauen, so dass sie deren Heimplatz nicht mehr bezahlen kann, ihr droht der Rausschmiss auf der Schauspielschule und zu allem Überfluss fühlt sie sich auch noch verfolgt. Sie beschließt den Detektiv Edgar Brehm zu engagieren, der ihr zwar eher abgehalftert vorkommt, ihr aber als einigermaßen preiswert empfohlen wurde. Brehm bekommt zeitgleich einen neuen und sehr lukrativen Auftrag von der Gattin des bekannten und reichen Regisseurs Steiner: Er soll die Herkunft und den Wahrheitsgehalt eines mysteriösen Tagebuchs aufdecken. Da Toni Brehm nicht bezahlen kann und er wiederum einen Lockvogel braucht, gehen die beiden einen ungewöhnlichen Handel ein…

Der neue Krimi von Theresa Prammer hält wieder alles, was der Klappentext verspricht und erfüllt die Erwartungen vollkommen. Nach Abschluss der Reihe rund um das großartige Ermittlerduo Lotta Fiore und Konrad Fürst mussten Fans einen Augenblick länger warten, bis sie wieder einen Wien-Krimi zu lesen bekamen, doch das Warten hat sich gelohnt. Die Autorin bleibt ihrem Stil treu. Auch diese Geschichte besticht durch viel Lokalkolorit, mitunter bissigem Humor, einen verworrenen Fall mit verschiedenen Handlungssträngen, jede Menge Verdächtiger und nicht zuletzt durch ein sehr unkonventionelles, liebenswertes und teilweise skurriles Ermittlerduo, das einen fasziniert und mit dem man in jeder Hinsicht mitlebt. Die Geschichte fesselt von der ersten Zeile an, was zum einen an dem unheimlich gut zu lesenden eingängigen Schreibstil der Autorin liegt, zum anderen – und das zum größeren Teil – von den Figuren, die jede einzelne als sehr gut herausgearbeitete Persönlichkeit daherkommt. In verschiedenen Perspektiven erzählt, entspinnt sich dabei ein undurchsichtiges Geflecht um Liebe, Verrat und um Macht und deren Missbrauch in einem Milieu, in dem sich die Autorin bestens auskennt. Die verschiedenen Handlungsstränge und Perspektiven geben tiefe Einblicke in das Seelenleben der Protagonisten, zeigen deren Ängste und Zwänge und fügen sich dennoch aufs Trefflichste zusammen. Der Fokus liegt hierbei stark im zwischenmenschlichen Bereich, die Interaktion der Figuren miteinander, ihre eigenen Geheimnisse und ihre Stärken und Schwächen. Die Emotionalität ergibt sich natürlich schon aufgrund des brisanten Themas, der #MeToo-Debatte, hinter der der eigentliche Mordfall teilweise in den Hintergrund gedrängt wird. Die sukzessive Aufklärung, die unkonventionellen Ermittlungsmethoden und das letztlich sich ergebende „Große Ganze“ machen den Fall aber dennoch sehr spannend.
Die Geschichte lebt meines Erachtens stark von den Hauptfiguren Toni Lorenz und Edgar Brehm, beides eigenwillige Persönlichkeiten, und deren Zusammenarbeit, die oftmals überschattet wird von ihren eigenen Problemen. Ihr Seelenleben wird am stärksten betrachtet, ihre Erlebnisse gehen zu Herzen und ihr Zusammenraufen ist einfach rührend mitzuerleben. Zunächst nur eine Zweckgemeinschaft, die mehr als einmal zu scheitern droht, beginnen sie doch eine Sympathie füreinander zu hegen, sie sorgen sich umeinander und können sich schließlich bestens aufeinander verlassen. Dank Tonis Schauspieltalent und Brehms Erfahrung, ihrer beider Verbissenheit, ihre originellen Ideen und der Drang die Wahrheit herauszufinden wird schließlich alles umfassend aufgeklärt.

Fazit: Wunderbarer Wien-Krimi der bestens bewanderten Autorin, die hiermit wieder einen Treffer landet. Gerne folgt man dem spannenden Fall und dem herrlichen neuen Detektivgespann, das man so auch noch nicht gesehen hat. Für alle Fans der subtilen Spannung und des Schauspiel-/ Theatermilieus ein Muss. Der Schluss macht Lust und Hoffnung auf weitere Fälle des Duos!