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Top-Rezensenten Übersicht

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Romy

Bewertungen

Insgesamt 55 Bewertungen
Bewertung vom 14.02.2021
Unter Wasser Nacht
Hauff, Kristina

Unter Wasser Nacht


sehr gut

Kristina Hauff erzählt in "Unter Wasser Nacht" die Geschichte von Sophie, Thies, Inga und Bodo. Die beiden Paare kennen sich seit ihrer Studienzeit und sind gemeinsam auf einen Hof im Wendland gezogen, wo sie sich Garten, Scheune und einiges mehr teilen. Ihre Kinder, Jella und Lasse bei Inga und Bodo, Aaron bei Sophie und Thies, wachsen gemeinsam auf, spielen und lernen zusammen. Doch die Idylle wird getrübt von Aarons Aggressionen und Ausrastern: Er wird regelmäßig handgreiflich und kommt nur schwer mit anderen Kindern zurecht, egal was eine Eltern auch versuchen, der 11-Jährige bekommt von allen Seiten den Stempel "schwer erziehbar" aufgedrückt und droht, von der Schule verwiesen zu werden. Doch dann kehrt Aaron eines Abends nicht vom Spielen an Fluss zurück und wird zwei Tage später ertrunken aufgefunden: vollständig bekleidet, mit Wunden im Gesicht und einem seinen Eltern unbekannten Armband am Handgelenk. Auch ein Jahr später ist der Todesfall des Jungen nicht aufgeklärt und die Ermittlungen sollen eingestellt werden. Seine Eltern sind verzweifelt und wünschen sich nichts sehnlicher, als endlich Antworten auf ihre Fragen zu finden. Dann taucht eine Fremde im Ort auf und beginnt, sich mit den beiden Familien anzufreunden, aber auch Fragen zu stellen und alte Wunden wieder aufzureißen...

Kristina Hauff erzählt die Geschichte der beiden Familien im Wendland auf eine unglaublich einfühlsame und unaufgeregte Weise. Sie nimmt sich Zeit, das Bühnenbild zu entwickeln, vor dem sich ihre Geschichte entfaltet. Dabei entsteht allerdings nicht ganz die nötige Schwere, um ihre Leser das Gewicht ihrer Erzählung spüren zu lassen. Während einige Figuren, wie Sophie und Thies, im Laufe des Buches immer plastischer werden, bleiben viele andere Charaktere zweidimensional, ohne eigene Vorgeschichte und Bedeutung.
Der Handlungsverlauf und die gewählte Thematik hat mich streckenweise an "Miracle Creek" von Angie Kim erinnert, allerdings konnte "Unter Wasser Nacht" nicht die gleiche soghafte Wirkung und Intensität entwickeln, die mich in Angie Kims Roman so gepackt hat.
"Unter Wasser Nacht" ist ingesamt ein gutes Buch, das unterhält und teilweise auch zum Nachdenken anregt, dem Leser darüber hinaus allerdings nicht viel bieten kann, im Gegenzug aber auch nicht viel vom Leser fordert.

Bewertung vom 10.02.2021
Die Erfindung des Dosenöffners
Bagci, Tarkan

Die Erfindung des Dosenöffners


ausgezeichnet

Timur hat das Gefühl, festzustecken: In seinem Heimatort, in der Redaktion der Lokalzeitung, in seinem Leben. Nichts geht voran, nichts entwickelt sich in die richtige Richtung. Während seine Freunde Bilder von ihren Parties in der Hauptstadt und aufregenden Abenteuern in Australien posten, schreibt er über das Jubiläum des lokalen Kegelvereins und ähnlich spannende Themen. Sein Ziel ist es, endlich ein Volontariat zu bekommen und damit seine Karriere als Jounalist zu starten. Doch um auf sich aufmerksam zu machen, braucht Timur eine große Story, die sein Talent unter Beweis steht. So eine Story zu finden ist jedoch alles andere als einfach - bis er eine Seniorin names Annette kennen lernt, die behauptet, den Dosenöffner erfunden zu haben. Ist dies tatsächlich die Chance, auf die er gewartet hat? Stück für Stück entwickelt sich eine Freundschaft zwischen den beiden, obwohl sie unterschiedlicher nicht sein könnten.

Tarkan Bagci schreibt mit Witz und Leichtigkeit über Timurs Alltag, aber auch über seine Lebensplanung, über seine kleinen und großen Wünsche. Damit trifft er genau den Puls der Zeit: Er bringt aktuelle Referenzen genauso unter wie tiefgründige Überlegungen über alles, was wichtig ist im Leben. Dabei schreibt er mit eleganten Metaphern und durchdachten, sprachlichen Bildern, sodass sich "Die Erfindung des Dosenöffners" flüssig ließt, unterhält und begeistert. Es ist ein Buch wie eine Portion Obst am Nachmittag: Leicht, mudngerecht, der perfekte Snack für Zwischendurch.

Bewertung vom 29.12.2020
Das Tartarus-Projekt
Schilddorfer, Gerd

Das Tartarus-Projekt


gut

Michael Landorff ist Journalist und Autor aus München. Seine Freude am Schreiben wird lediglich durch die schwachen Abverkäufe und unbefriedigenden Umsätze seiner Bücher getrübt. Auf einer Party der Münchner Schickeria ausgerichtet von dem erfolgreichen Geschäftsmann Gregory Winter, bei der der Autor sich mehr als fehl am Platz fühlt, klagt er seiner Freundin Melissa sein Leid. Kurzerhand entscheidet diese, mit ihrer Marketing-Agentur von nun an die Vermarktung von Michael und seinem neuen Buch zu übernehmen - inklusive neuem Pseudonym, neuer Vita und neuer Garderobe. Die nächsten Tage sind geprägt vom Aufbau einer neuen Persona, mit Shopping, Recherche und pressewirksamen Veranstaltungen, um Aufmerksamkeit für die neugeborene Autoren-Persönlichkeit und ihr bald erscheinendes Buch zu generieren. Doch kurz darauf wird eine der Besprechungen von Michael und Melissa von einem Kommissar unterbrochen: Beide sollen als Zeugen aussagen, denn auf der Party, auf der die beiden ihren Deal beschlossen haben, ist anschließend der Gastgeber zu Tode gekommen: Mord.
Von nun an überschlagen sich die Ereignisse, denn Michael hat plötzlich nicht nur den perfekten Stoff für sein nächstes Meisterwerk, sondern findet sich plötzlich in einem internationalen Netz aus Geheimdiensten, Auftragskillern und Kriminellen wieder. Zwischen Schießereien, Anschlägen und anonymen Hinweisen versucht er, den Mord an Gregory Winter aufzuklären, ohne dabei selbst in das Fadenkreuz seiner Killer zu geraten.

Der Thriller startet langatmig und es dauert fast 100 Seiten, bis man tatsächlich von einem Thriller sprechen kann. Bis dahin begleiten wir den glücklosen Autor in seinem Alltag, von Party zu Party, zum Einkaufen, zu Meetings und auf seinen Gedankengängen. Doch dann nimmt das Erzähltempo rasant zu, wir lernen neue Personen kennen und bekommen Einblicke in die dunklen Machenschaften des Mordopfers. Im letzten Drittel galoppiert dem Leser die Geschichte dann scheinbar davon, immer mehr Geheimdienste kommen zum Zug, es geht plötzlich um weltweite Verwicklungen, vom Mossad bis zur nordkoreanischen Regierung ist plöztlich alles was Rang und Namen hat mehr oder weniger involviert. Und mittendrin unser Münchner Autor, der eigentlich nur auf Publicity für sein neues Buch gehofft hatte - hier wirkt alles etwas überzogen. Leider werden hier immer weniger Seiten in Spannungsaufbau und Hintergründe investiert, und immer mehr in blutige Attentate und Auftragskiller, die aus dem Nichts auftauchen.

Alles in allem konnte mich der Thriller "Das Tartarus-Projekt" leider nicht überzeugen. Der langsame Auftakt und das rasante letzte Drittel harmonieren nicht wirklich, und ergänzen einander nicht optimal. Gerd Schilddorfer versucht zwar, mit intelligenten Kampfsystemen ein kontroverses Thema aufzugreifen, bleibt dabei aber zu sehr an der Oberfläche. Die Erzählung aus der Perspektive der Mossad-Agentin kommt nicht aus den Kinderschuhen heraus und kann die Geschichte so weder um Dramatik noch um weitere Informationen bereichern. Hier wäre eindeutig noch Luft nach oben gewesen!

Bewertung vom 20.12.2020
Capitana
Love, Melissa Scrivner

Capitana


gut

Wer Lola auf der Straße trifft könnte meinen, sie ist eine ganz normale alleinerziehende Latina, denn sie arbeitet hart, kleidet sich unauffällig und hilft in ihrer Nachbarschaft aus, wo sie nur kann. Doch wer Lola kennt, weiß dass sie viel mehr ist als das: Als Chefin einer Gang hat sie ihre Soldaten ständig um sich, die ihr Leben und ihre Geschäfte beschützen sollen. Doch auch sie selbst schreckt nicht davor zurück, sich die Hände schmutzig zu machen und das Messer zu benutzen, das sie immer in der Tasche hat. Ihre Kleidung ist nicht nur unauffällig, sondern auch zweckmäßig, sodass sie jederzeit flüchten, kämpfen oder in einer Menge untertauchen kann. Und das Geld, mit dem sie regelmäßig ihren Nachbarn aushilft, wenn am Ende des Monats mal wieder zu viele Rechnungen unbezahlt bleiben, stammt aus dem Drogenhandel.

Lolas Erfolg hat auch damit zu tun, dass sie sich eine Verbündete auf der anderen Seite gesuch hat: Andrea, Staatsanwältin, ist selbst in illegale Machenschaften verwickelt und die perfekte Partnerin, um Lolas Geschäfte zu schützen und zu unterstützen. Gemeinsam erlangen die beiden Frauen immer mehr Macht, doch scheinbar ist Andrea nicht ganz ehrlich zu Lola - durch ein Täuschungsmanöver bringt sie Lola dazu, unbeabsichtigt einen Krieg zwischen den rivalisierenden Gangs anzuzetteln, der Lolas heile und hart erkämpfte Welt ins Schwanken bringen könnte.

Als ich dieses Buch angefangen habe, hatte ich recht hohe Erwartungen und habe mich auf eine spannende und unkonventionelle Story gefreut - meist sind es (leider) nach wie vor Männer, die als erfolgreich, knallhart und mächtig dargestellt werden. In diesem Punkt hat es der Roman geschafft, meine Erwartungen zu erfüllen: Sowohl Lola als auch Andrea werden als interessante Charaktere gezeichnet, die sich nichts gefallen lassen und den Respekt, der ihnen von anderen zusteht, einfordern. Leider wurde meine Hoffnung auf ein besonders spannendes Buch - einen Thriller, wie das Cover verspricht - nicht erfüllt. Ich konnte mich nicht wirklich in die Story einfinden, oftmals konnte ich Handlungsverläufe nicht nachvollziehen und hatte einen sehr fragmentierten Eindruck vom Geschehen. Ein richtiger Lesefluss ist bei mir nicht aufgekommen.

Im Nachhinein habe ich herausgefunden, dass es sich bei "Capitana" bereits um den zweiten Teil einer Serie handelt. Womöglich hätte die Story für mich mehr Dynamik entwickelt, wenn ich den ersten Teil bereits gekannt hätte, das kann ich aber leider nicht mit Sicherheit sagen.

Insgesamt hat mich "Capitana" von Melissa Scrivner Love also leider nicht begeistert, mein Leseerlebnisse war unterdurchschnittlich und ich hatte mir deutlich mehr erhofft.

Bewertung vom 29.10.2020
Dunkler Raum (eBook, ePUB)
Robert, Peter

Dunkler Raum (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

In seinem Debütroman "Dunkler Raum" begleitet Peter Robert zwei Familien: Lutz Helsinger und seine Frau sind gerade aus einem typischen Problemviertel in ein ländlich gelegenes Internat gezogen. Dort wird Lutz als Hausmeister und seine Frau als Lehrerin arbeiten, während ihre Kinder dort zur Schule gehen können. Vorbei sind die Zeiten in der Hochhaussiedlung, die geprägt waren von Kriminalität, Armut und Besuchen des Jugendamts. Weniger Glück hat ihre Nachbarin von damals: Regina wohnt mit ihren Kindern weiterhin unter beengten Umständen, nagt am Hungertuch und muss kreativ werden, um ihre Kinder alleine durchzufüttern. Während ihr Sohn immer mal wieder mit der Polizei in Konflikt gerät, schwänzt ihre Tochter viel zu oft die Schule. Nachdem nun auch noch die befreundeten Nachbarn, deren Kinder einen guten Einfluss auf ihre eigenen Kindern ausgeübt hatten, weg gezogen sind, befürchtet Regina dass ihre Kinder immer weiter abrutschen werden.
Doch noch bevor sich der Leser intensiver mit den Problemen der einzelnen Familien oder Protagonisten beschäftigen kann, kommt es zu verschiedenen Vorfällen: Alles beginnt damit, dass der Sohn von Lutz bei ihrer ersten richtigen Familienfeier in ihrem neuen Zuhause Gut Vogelstein einen Hasen im nahe gelegenen Wald einfängt und ihn vor den Augen der geschockten Gäste enthauptet. Verflogen ist die gelöste Stimmung und eine bedrohlich-düstere Schwere legt sich auf die Erzählung. Weitere Zwischenfälle ereignen sich und es wird deutlich, dass es einen Zusammenhang zwischen ihnen gibt.

Zwei Dinge sind mir an "Dunkler Raum" ganz besonders aufgefallen: Die unwahrscheinlich langatmige Erzählweise einerseits und die wirklich beispiellose Sprache. Man merkt als Leser, dass der Autor auf etwas hin schreibt. Etwas Großes, Fantastisches, Außergewöhnliches. Er nimmt sich Zeit, eine Geschichte entstehen zu lassen, die als Leinwand fungiert für die eigentliche Geschichte. Doch während der Autor an seiner Leinwand feilt, Pinselstrich um Pinselstrich, weiß der Leser nicht, wohin die Reise gehen soll und ist unsicher, worauf er sich eingelassen hat. Unterwegs gibt es einiges zu entdecken, denn der Autor ist ein Künstler der Worte, sodass jeder Satz zum Abenteuer wird. Teils rätselhaft, teils anspruchsvoll-poetisch beschreibt er den Alltag und die Persönlichkeiten der handelnden Protagonisten. Er beweist, dass er das Handwerkszeug besitzt, um einen einzigartigen Roman zu schreiben: eine zündende Idee und eine individuelle Erzählweise. Doch leider hat mal als Leser das Gefühl, der Motor unseres Reisebusses kommt unterwegs ins Stocken. Es herrscht viel Getöse und Aufruhr, doch voran kommen wir nicht mehr. Die Geschichte dümpelt vor sich hin, es gibt ein paar Situationen, die den Leser stirnrunzelnd zurück lassen und es schwer machen, der Erzählung zu folgen. Man hat den Eindruck, der Autor will den Leser gewaltsam zwingen, seinem Roman weiter zu folgen, auch wenn dieser schon vor einigen Kapiteln mental ausgestiegen ist.

Insgesamt hatte ich mich sehr auf dieses Buch gefreut und dem Autor viel zugetraut, leider hat sich die Geschichte ganz anders entwickelt, als ich erwartet hatte. Mich hat das Ganze eher verstört als begeistert, trotzdem bin ich mir sicher, dass Peter Robert mit seinem Debütroman, der besonders durch die außergewöhnliche Sprache hervorsticht, viele Leser begeistern wird.

Bewertung vom 26.09.2020
Kalmann
Schmidt, Joachim B.

Kalmann


weniger gut

Kalmann ist 34 Jahre alt und lebt in Raufarhövn, wo er als Haifischfänger und Sheriff bekannt ist. Sein Gammelhei und seine Mauser kennt jeder im Dorf. Haie zu fangen und Polarfüchse zu jagen hat er von seinem Großvater gelernt, die Mauser hat er von seinem leiblichen Vater geschenkt bekommen, einem Amerikaner. Mehr ist ihm von seinem Vater nicht geblieben, und so hütet er sie wie einen Schatz. Mit den Leuten im Dorf kommt Kalmann gut klar, auch wenn er manchmal lacht wenn niemand lacht, oder nicht weiß warum die anderen lachen. Er zieht sich dann in sein kleines Haus zurück, vor den Fernseher, wo er so viele Chips und Süßigkeiten essen kann wie er möchte - so lange ihn seine Mutter nicht erwischt.
Eines Tages entdeckt Kalmann auf der Jagd eine Blutlache im Schnee und ist kurz darauf in einen Vermisstenfall verwickelt, der das ganze Dorf in Atem hält. Doch schon bald hat er die Polizistin Birna und alle anderen von seiner Unschuld überzeugt, auch wenn die kaum einer ihm glaubt, dass tatsächlich ein Eisbär den Vermissten gefressen haben könnte...

Joachim B. Schmidt nimmt uns in seinem Roman "Kalmann" mit auf einem ausgedehnten Winterspaziergang durch die Natur und Kultur Islands. Wir lernen als Leser viel über die Menschen in Raufarhövn, über ihre Eigenarten und Probleme, aber auch über die Wildnis, das Wetter und das Meer. Während wir Kalmann durch seinen Alltag begleiten, auf seinen Streifzügen durch den Schnee und seinen Fahrten zu seinen Langleinen im Meer, entdecken wir als Leser viele kleine wunderschöne Dinge: Kalmanns Gedanken, die Natur Islands, die Menschlichkeit der Bürger in Raufarhövn. Doch unterwegs ist es auch kalt, der Himmel ist grau und die Schritte werden schwerer, während die Feuchtigkeit in die Schuhe kriecht. Leider reicht die Energie in Schmidts Erzählweise nicht aus, um diese Schwere abzuschütteln. Es stellt sich beim Leser eine Trägheit ein, die die Seiten zäh werden lässt.

Insgesamt hat mir das Setting der Erzählung gut gefallen, doch leider fehlt es an Dynamik, Interaktion und Emotion. Stattdessen wird leierhaft aus Kalmanns Gefühls- und Gedankenwelt erzählt, die aufgrund seiner Einschränkungen leider sehr einseitig und wenig tiefgründig ist. Doch auch eine leichtfüßige Komik kommt nicht auf; stattdessen begleiten wir Kalmann auf einem langen Winterspaziergang, den ich mir als Leserin wesentlich spannender vorgestellt habe, und dessen Ende ich nach der Hälfte bereits herbeigesehnt habe.

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Bewertung vom 07.09.2020
Die Sommer
Othmann, Ronya

Die Sommer


sehr gut

Solange sie sich erinnern kann, fährt Leyla jeden Sommer in das Dorf. Dort besucht sie die Familie ihres Vaters, hilft auf dem Hof, verbessert ihr Kurdisch und erzählt aus Deutschland. Von ihrer Mama, die typisch deutsch alles Praktische liebt. Von ihrer Schule, dem großen Gebäude mit Tafeln, Stiften, Heften. Und von den Geschäften, aus denen sie jedes Jahr Mixer und Mikrowellen, Babynahrung und Medikamente, Spielzeug und Bilderbücher mitbringen. Im Dorf gibt es viele dieser Dinge nicht: Leylas Großmutter lebt mit ihrer Familie in einer simplen Hütte aus Lehm, draußen laufen die Hühner über den Hof, im Garten wachsen Tomaten, Oliven, Orangen- und Zitronenbäume, Knoblauch, Wassermeleonen und noch vieles mehr. Gekocht und gebacken wir mit offenem Feuer, alle laufen barfuss herum und kleiden sich einfach und traditionell. Das Leben im Dorf ist also ganz anders als Leyla es aus Deutschland kennt, und trotzdem liebt sie die Sommer dort. Sie liebt den Staub auf ihren nackten Füßen, die freie Zeit mit den Cousinen und Cousins, das Tee Trinken mit den Erwachsenen und den Geschmack der Tomaten, die in Deutschland einfach nur nach Wasser schmecken. Doch die Sommer sind auch immer von einem gewissen Unwohlsein geprägt: Jede Einreise nach Syrien ist ein Drahtseilakt, jedes Mal fürchtet der Vater, dass sein Pass nicht akzeptiert wird. Wird Leyla nach ihren Sommerferien gefragt, erzählt sie, dass sie ihre Großeltern besucht - nie solle sie sagen dass sie nach Kurdistan geht, das hat ihr der Vater eingeprägt. Also erzählt Leyla von Reisen nach Syrien zu den Großeltern, und doch sprechen im Dorf alle von kurdischen Traditionen und kurdischer Geschichte - Leyla versteht nur nach und nach, warum dies so ist. Und je mehr sie versteht, desto mehr Angst hat sie, desto mehr Wut im Bauch und desto mehr Tränen schießen ihr in die Augen, wenn sie an ihre Familie in dem Dorf denkt.

"Die Sommer" von Ronya Othomann ist ein unglaublich liebevoller und einfühlsamer Roman über Heimat, Fremdsein und Ankommen. Er erzählt von Kultur, von Gerüchen und Geschmäckern, die unser Zuhause ausmachen, von Momenten die unsere Identität prägen. Mit Leyla wird auch die Geschichte erwachsen: Ärgert sie sich zu Beginn über den Hühnerkot auf dem Boden, so fürchtet sie sich später bei der Einreise nach Syrien, dass ihr Vater wieder vom Geheimdienst verhört wird. Wie lange wird er diesmal weg sein? Was kann sie tun? Die Autorin nimmt uns mit auf diese Reise zwischen zwei Welten. Wie kann Leyla in beiden leben, ohne zu zerbrechen? Wie kann sie in Leipzig in der Bibliothek lernen, während die Familie in der Heimat flüchten muss? Welche Rolle spielt sie für die Zukunft dieser Menschen, deren Gastfreundschaft sie so viele Male genießen durfte?

All diese Fragen wirft Ronya Othmann auf und überlässt es dem Leser, definitive Antworten zu finden. Mir hat der Roman sehr gut gefallen. Der Aufbau entsprechend einer Collage aus Erinnerungen aus Leylas Kindheit ist authentisch. Wer kann schon seine Kindheit chronologisch erzählen und mit Leben füllen? Stattdessen erzähl die Autorin so wie ein Kind erzählen würde. Von einem Thema zum anderen mit zeitlichen Sprüngen, ohne sich eine Reihenfolge von Zeit und Raum diktieren zu lassen. Je näher die Erzählung der Gegenwart kommt, desto dichter und strukturierter wird sind, so dass es leichter wird die Geschehnisse einzuordnen. So verflüchtigt sich die Orientierungslosgkeit, die der Leser zu Beginn manchmal empfindet allmählich. Was bleibt ist ein tiefes Gefühl in der Seele, eine Mischung aus Bewunderung, Dankbarkeit, Empathie und Wut. Es hilft uns zu verstehen, und es hilft uns, die Geschichte von Leyla und ihrer Familie im Herzen zu tragen.

"Die Sommer" ist ein wirklich schönes Buch bei dem ich viel gelernt habe, das mich aber auch unglaublich berührt hat!

Bewertung vom 27.08.2020
Keine Panik, ist nur Technik
Ait Si Abbou, Kenza

Keine Panik, ist nur Technik


weniger gut

Der Klappentext verspricht ein spannendes Buch "Für IT-Girls und -Boys!", das interessante Einblicke und überraschende Erkenntnisse aus der Welt der Technik und insbesondere der künstlichen Intelligenz bieten soll. Die einzelnen Kapitel sprechen dabei Themen wie Programmier-Sprachen, KI in verschiedenen Lebensbereichen und Ethik in der Programmierung an. Die fachlichen Exkurse bettet die Autorin in Anekdoten aus ihrem Alltag und Erfahrungen mit Freunden.
Leider hatte ich von "Keine Panik, ist nur Technik" mehr erwartet. Ich würde mich selbst als IT-affin bezeichnen, hatte also damit gerechnet, dass ich viele der präsentierten Inhalte schon kennen und leicht verstehen würde. Tatsächlich war es auch so, dass mir die vorgestellten Anwendungsbereiche meist bekannt vorkamen. Die dazu erläuterten technischen Aspekte waren jedoch selbst mir teilweise zu komplex und ich musste mich beim Lesen schon sehr konzentrieren, um nicht mit den Gedanken abzuschweifen. Trotzdem blieb der "Aha!"-Effekt leider oft aus. Zu viele der beschriebenen Beispiele oder Zwischenfälle kennt man bereits aus den Medien, wenn man sich ein bisschen für das Thema interessiert. Ist dies nicht der Fall, ist dem Leser sicher das Meiste neu, dann wird das Buch allerdings auch zu einer zählen Lektüre. Was mir jedoch positiv aufgefallen ist, war die Sammlung der Quellen am Ende des Buches. So kann man jede erwähnte Entwicklung, Studie oder Forschergruppe bei Interesse im Internet recherchieren und tiefer in die Materie eintauchen.
Insgesamt ist mein Fazit also sehr durchwachsen: Während es fachlich ziemlich in die Tiefe geht, ist der Text insgesamt nicht unterhaltsam genug, um dem Leser die nötige Motivation mit zu geben. Wer kein Vorwissen mitbringt, wird schnell den Überblick verlieren, und wer sich ein bisschen auskennt dem wird das Meiste bekannt vorkommen. Vielleicht ist das Buch tatsächlich am besten für junge Menschen geeignet, die gerade beginne, sich für Technik zu begeistern und die auch von sich aus die nötige Motivation mitbringen, offene Fragen am Ende eines Kapitels Google anzuvertrauen.

Bewertung vom 06.08.2020
Vegan! Das Goldene von GU

Vegan! Das Goldene von GU


sehr gut

"Vegan! Das Goldene von GU" ergänzt die Reihe der goldenen Kochbücher, die bereits bei GU erschienen sind: Unter anderem findet man hier bereits umfangreiche Kochbücher für die Weihnachtszeit, für Fleischgerichte, vegetarische Gerichte oder das günstige Kochen. Ein veganes Kochbuch erscheint mir hier wie eine zeitgemäße und passende Ergänzung.
Das Kochbuch ist aufgeteilt in verschiedene Kapitel: Los geht es mit veganen Basics, es folgen Frühstücksidee, Snacks zum Mitnehmen oder für Zwischendurch, One-Pot-Gerichte, Hauptgerichte für jeden Tag, Küchenklassiker in vegan und Nachspeisen. Jedes Kapitel hält eine große Vielfalt von Rezepten bereit, die bebildert und ausführlich beschrieben sind. Zusätzlich gibt es Informationen zur Zubereitungszeit und zu den Nährwerten der verschiedenen Rezepte. Die Zutatenliste ist übersichtlich gestaltet und die Zubereitungsschritte sind verständlich erklärt. Neben den Rezepten findet sich am Beginn jedes Kapitels eine kleine Warenkunde zu Nusssahne, Tofu und Co, was den Einstieg in ungewöhnliche Rezepte erleichtert.
Besonders gut gefallen hat mir die schiere Anzahl an Rezepte, die das Buch bereithält: In den knapp 400 Seiten gibt es viel zu entdecken und selbst wenn man sich auf eine Kategorie konzentriert ist die Auswahl dort immernoch beachtlich. Auch wird keine Mahlzeit des Tages ausgelassen, sodass man eigentlich zu jedem Anlass auf dieses Kochbuch zurückgreifen kann, um sich inspirieren zu lassen. Ein kleiner Nachteil dabei war für mich persönlich, dass viele der Rezepte etwas exotisch anmuten: Koriander, Minze und Chili werden sehr häufig verwendet, und auch in herzhaften Gerichten kommen oftmals süße Akzente wie Aprikosen, Äpfel oder Kokos vor. Generell freue ich mich über diese Vielfalt, allerdings kann ich mir auch gut vorstellen dass Leserinnen, die noch neu in der veganen Küche sind, sich auch über mehr simplere Gerichte gefreut hätten, um Zutaten wie Tofu, Seitan oder Hafersahne Schritt für Schritt kennen zu lernen. Auch beim Kochen für Kinder, die eine etwas simplere Geschmackspalette präferieren, müssen viele der Rezepte abgewandelt und angepasst werden. Vielleicht wäre hier statt drei verschiedenen Kategorien für Hauptgerichte noch eine Kategorie wie "Kochen für Kinder" oder "Das schmeckt allen" für richtige Publikumslieblinge besser gewesen.
Ein anderer Punkt der mir aufgefallen ist, war dass es keine Angaben zur Schwierigkeit der Rezepte gibt. Auch hier sollte man bedenken, dass die vegane Küche für viele noch neu ist und nicht jeder weiß was ihn erwartet, wenn er sich an ein unbekanntes Rezept heran wagt.
Trotz dieser zwei kleineren Kritikpunkte ist "Vegan! Das Goldene von GU" ein tolles Kochbuch, geeignet sowohl für Menschen die sich rein vegan ernähren als auch für solche, die es nicht tun. Ich nehme es gerne aus dem Regal um ein neues Gericht für die nächste Woche herauszusuchen und bin froh, dass ich es meiner kleinen Sammlung an Kochbüchern hinzu gefügt habe!

Bewertung vom 02.08.2020
Und auf einmal diese Stille
Graff, Garrett M.

Und auf einmal diese Stille


ausgezeichnet

Der Journalist und Autor Garrett M. Graff erzählt in "Und auf einmal diese Stille: Die Oral History des 11. September" die Geschichte eines Tages, der sich in das kollektive Gedächtnis der westlichen Welt eingebrannt hat. Oder vielmehr lässt er erzählen, indem über 500 Augenzeugen, Überlebende, Feuerwehrleute, Polizisten und deren Angehörige zu Wort kommen. Sie sprechen über ihre Erlebnisse in den Türmen, im Pentagon, an Board der entführten Flugzeuge, in den Einrichtungen der Flugsicherung und des Militärs, in der politischen Zentrale der Vereinigten Staaten, in der Air Force One und an vielen anderen Orten in den USA, die am 11. September eine besondere Rolle spielten. Dabei stehen nicht die politischen Hintergründe im Fokus; stattdessen wirken die Berichte der Augenzeugen wie ein Vergrößerungsglas, das ihre Erfahrungen, ihren Kampf ums Überleben und um Fassung in den Vordergrund rückt. Es geht dabei vor allem um ihre Wahrnehmung, ihre Ängste, die unglaubliche Zerstörung im Herzen New Yorks, aber auch um die Panik, die an diesem Tag um sich griff und um ein Land, das sich plötzlich im Außnahmezustand befindet, sowie um die Hoffnung, und einen gewissen Trotz, der das Räumen der Trümmer begleitete. Die Geschichten, die die vielen verschiedenen Menschen erzählen gehen einem nah und sind von einer Menschlichkeit geprägt, die ich nicht erwartet hätte. Obwohl die meisten Zeitzeugen sich bei ihren Berichten auf den Ablauf des Tages und ihre eigenen Erlebnisse konzentrieren, sind ihre Erzählungen alles andere als nüchtern oder emotionslos. Der 11. September hat nicht nur viele Menschenleben gekostet und viele Angehörige in Trauer zurückgelassen, er hat auch vielen Überlebenden klar gemacht, dass ihnen eine Zukunft geschenkt wurde, die vielen anderen nicht vergönnt war. Das macht das Buch unglaublich inspirierend, ohne dass dafür fiktive Elemente notwendig werden. Allein die Geschichten der Überlebenden erlauben dem Leser einen neuen Blick auf das eigene Leben, aber auch einen neuen Blick auf die Geschichte und die kulturelle Identität der USA, die durch 9/11 geprägt wurde.
Für mich ist das Buch dadurch auf zwei Weisen besonders wertvoll: Es ist eine detaillierte Erzählung der Ereignisse aus einer immensen Anzahl an Perspektiven, sodass kaum ein Detail unbeachtet bleibt. Damit bekommt auch eine Generation, die im Jahr 2001 noch zu jung war um eigene Erinnerungen zu formen die Möglichkeit, diesen historischen Tag minutiös zu durchleben. Darüber hinaus ist es ein Spiegel der amerikansichen Kultur: Während die Anschläge selbst von Eindringlingen verübt wurden, erzählen uns die Reaktionen in der amerikanischen Bevölkerung, die Gedanken der Zeitzeugen und auch die Bewertung der Ereignisse durch die Zivilbevölkerung sowie das Militär mehr über die amerikanische Kultur, als es ein Lehrbuch jemals könnte. Ein wirklich beeindruckendes Buch, das jedem ans Herz gelegt sei, der den 11. September mit ganz neuen Augen sehen will.