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Benutzername: 
iGirl
Wohnort: 
Bad Nauheim

Bewertungen

Insgesamt 147 Bewertungen
Bewertung vom 26.07.2022
Wir sehen uns zu Hause
Wünsche, Christiane

Wir sehen uns zu Hause


ausgezeichnet

2500 km durch den wilden Osten

Jahrzehntelang verheiratet und dann das! Nach dem Tod ihres Mannes Peter begibt sich Anne auf Spurensuche zur Vergangenheit Peters in der DDR. Mit Willi, ihrem alten Wohnmobil, und einem Karton voll alter Fotos, tourt sie 2500 km durch Ost-Deutschland. Dabei findet sie, neben einer Menge ganz besonderen Menschen, viele kleine Puzzleteile zum Leben ihres Mannes in der Vorwendezeit.

So mancher spezielle Charakter, dem die Protagonistin auf ihrer Reise begegnet, erfüllt manches Ost-Klischee perfekt. Allerdings entpuppen sich einige, zunächst eher unsympathisch wirkende Menschen, dann doch als tiefgründig und überaus hilfsbereit. Die Autorin schildert ihre Figuren lebhaft, bildhaft, vielleicht auch überzogen, aber gerade dadurch auch glaubwürdig. Die Geschichte entwickelt sich, über kurze Kapitel, aus der Sicht der handelnden Figuren (Anne, ihre Tochter Alina, Ronny und Peter). Den Schreibstil von Christiane Wünsche fand ich perfekt - er lässt keine Langeweile zu. Als Lesende begleiten wir eine Historie im geteilten Deutschland aus verschiedenen Blickwinkeln. Am Ende des Romans fügt sich alles zusammen, vielleicht nicht alles so, wie man es erwartet hätte, aber vollständig nachvollziehbar und glaubhaft. Da wir Verwandte in der DDR hatten, die selbst einige Repressalien erfahren mussten, finde ich in dem Buch eine durchaus denkbare Lebensgeschichte zu DDR-Zeiten.

Ich habe jedenfalls richtig Reiselust bekommen den beschriebenen Weg Annes nachzufahren und zu versuchen die jeweiligen Schauplätze aufzusuchen. Wer würde bei diesem Roadtrip keine Lust bekommen auf Urlaub im Osten Deutschlands – am besten mit einem weiteren guten Buch von Christiane Wünsche.

Bewertung vom 23.07.2022
Sturmrot / Eira Sjödin Bd.1
Alsterdal, Tove

Sturmrot / Eira Sjödin Bd.1


ausgezeichnet

Die Schatten der Vergangenheit

In klarer Sprache, detailreich und schonungslos wird die Geschichte erzählt. Alles dreht sich um das Verschwinden einer jungen Frau, das Jahrzehnte zurückliegt. Als der damals verurteilte Täter, damals 14 Jahre alt, zurück kehrt werden die langen Schatten der Vergangenheit ihre Dunkelheit in die Gegenwart und somit auch auf die beteiligten Figuren. So gerät die ermittelnde Polizistin und überzeugende Protagonistin, Eira Sjödin, in einen Strudel aus persönlichem involviert sein und beruflicher Abgrenzung. Auf der Suche nach der Wahrheit um das Verschwinden der jungen Lena verflechten sich scheinbar lose Ereignisfäden der Vergangenheit zu einem dichter werdenden Netz in dem Eiras Bruder Magnus eine undurchsichtige Rolle spielt.

Die Spannung in diesem Krimi war für mich nicht durchgängig „erlesbar“. Teilweise fand ich, dass sich der Fortschritt in der Erzählung zieht und die damaligen Geschehnisse etwas zu häufig hin und her überlegt und immer wieder aus einer anderen Perspektive beleuchtet werden. Für einen Krimi, der die Spannung konstant aufrecht erhält, hätten 100 Seiten weniger in diesem Buch vielleicht gut getan. Aber nichts desto trotz habe ich den Krimi, der für mich eher ein Roman ist, gerne gelesen. Daher schwanke ich bei der Vergabe zwischen der vollen Punktzahl oder dem Abzug von einem Stern. Da es sich bei Tove Alsterdal ja um eine sehr erfahrene Autorin handelt, hätte sie mit ihrem ersten Krimi „Sturmrot“, damit es ein Pageturner geworden wäre, eher etwas von ihrem bisherigen Romanstil abweichen sollen.

Nichtsdestotrotz fand ich die ProtagonistInnen überzeugend und mit klaren Profilen, die Erzählung schlüssig, variantenreich und mit einer überraschenden Auflösung. Die spezielle Stimmung des sozialen Lebens in einer dünn besiedelten Gegend Schwedens fand ich sichtbar und fühlbar beschrieben.

Mein Fazit: Ich habe das Buch gerne gelesen.

Bewertung vom 18.07.2022
Die Arena
Djavadi, Négar

Die Arena


ausgezeichnet

Die Spirale der Gewalt

'Die Arena' ist wahrlich keine leichte Kost. Handlung, Figuren und Schreibstil fordern höchste Aufmerksamkeit vom Lesenden, um all die kleinen Zwischentöne, die Verflechtungen, Ursache und Wirkung zu erkennen und durch die Geschichte verfolgen zu können. Hin und wieder habe ich den Faden verloren, wenn die Kettensätze sich über eine halbe Seite hinzogen und ich an der Gedankenwelt der Protagonist*innen teilnehmen durfte. Nicht immer konnte ich den Gedankengängen folgen, die plötzlich auftauchen und zwischen Vergangenheit und Gegenwart wechseln. Allen Figuren gemein ist eine Schwermut, die aus dem eigenen Erlebten und vielen kleinen Verletzungen resultiert. Die Zusammenballung migrierter Menschen auf engem, unwirtlichem Großstadtraum verschärft die alltäglichen Konflikte und das Gefühl der Ausweglosigkeit.

Es sind viele verschiedene Personen, die in der Geschichte und am Geschehen mitwirken. Da sind: Benjamin, der erfolgreiche Macher in der Filmbranche, seine schwangere Frau Ariane und Benjamins folgenreiche Begegnung mit dem allzu coolen Issa. Cathie, Benjamins Mutter und ihre Suche aus der Einsamkeit indem sie einen jungen Geflüchteten aufnimmt. Die junge Camille, die eigentlich nur ein wenig Anerkennung sucht und nach Followern lechzt. Die Polizistin Sam, mit Migrationshintergrund, die einmal in ihrem beruflichen Leben einen Fehler macht und social-media-befördert in einen Abwärtsstrudel gerät. Stephane Jahanguir, selbst mit migrantischem Hintergrund und nach öffentlicher Anerkennung heischend, der einen kleinen Funken zum Großbrand bringt … und da sind die vielen Jugendlichen in den Pariser Vierteln der Banlieue, hoffnungslos und gewaltbereit.

Ich finde, dass der Titel 'Die Arena' den Nagel auf den Kopf trifft – die Geschichte zeigt den stetigen Kampf der Migrant*Innen, der teils selbst gemacht durch Gruppenstrukturen, Zusammengehörigkeit und ungesundem Zusammenhalt, teils verursacht durch aufgezwungene Diskriminierung, Provokation, Chancenlosigkeit, Rassismus. Einmal mehr wurde mir sichtbar gemacht, wie wünschenswert und höchst notwendig es ist, ein gesellschaftliches integrierendes System zu errichten und die vorhandenen Knoten in den vielen Betonschädeln aller Beteiligten zu entwirren, um ein solidarisches Miteinander zu erreichen.

Mein Fazit: Der Autorin Négar Djavadi' ist es gelungen einen Einblick zu gewähren in die seit vielen Jahren vorhandenen und von allen zugelassenen Strukturen, die wir überall erleben. Sie zeigt in ihrem Buch die Anfänge, die Auswüchse, die Konsequenzen und die resultierende Gewaltspirale auf und regt zum intensiven Nachdenken an. Lesenswert!

Bewertung vom 04.07.2022
Das Letzte, was du hörst
Winkelmann, Andreas

Das Letzte, was du hörst


ausgezeichnet

Die Macht der sprechenden Monster

Gruselig geht es von Anfang an zu bei diesem Thriller. Eine unwiderstehliche Stimme lullt die meist weiblichen Zuhörenden ein und suggeriert ausschließlich auf ihre innere Stimme zu hören. Angefixt durch den kostenlosen Podcast 'Hörgefühlt' werden dann kostspielige Coachingseminare von einem ganz und gar nicht unwiderstehlichen sogenannten Lebenscoach angeboten. Und plötzlich wird eine weibliche Leiche gefunden, die noch die Lautsprecher im Ohr hat und eben gerade diese Podcasts hörte. Doch damit nicht genug, die Leichen folgen Schlag auf Schlag. Und über allem schwelt eine stetige latente Bedrohung.

Andreas Winkelmann ist ein durchwegs spannender Thriller gelungen mit bis zum Schluß undurchsichtigen und unerkannten psychopathischen Mördern. Stück für Stück entwickelt sich die verwickelte Geschichte, um am Ende einen kompletten nachvollziehbaren Handlungsstrang zu ergeben. Der Schreibstil ist gut: flüssig und spannungsgeladen gleichermaßen, die Dialoge nicht überfrachtet. Die ProtagonistInnen konnte ich mir gut vorstellen, wenn ich auch nicht immer deren Handlungsweise nachvollziehen konnte, aber das tat dem Lesevergnügen keinen Abbruch. Um das Schicksal der einen oder anderen Figur, z.B. Nathan und Roya, hatte ich mir sogar Sorgen gemacht – und zurecht.

Mein Fazit: wer hofft im Urlaub ein Buch mitzunehmen, weil endlich mal Zeit zum Lesen ist, sollte sich noch ein paar weitere Bücher einpacken. Diesen Thriller hat man in einem Rutsch durchgelesen und will einfach nach jeder gelesenen Seite wissen wie es weitergeht.

Bewertung vom 04.07.2022
Die Hennakünstlerin / Jaipur Bd.1
Joshi, Alka

Die Hennakünstlerin / Jaipur Bd.1


ausgezeichnet

Wie (über)lebt man als Frau in Indien?

Die Geschichte spielt im Indien der 50-er Jahre. Die Protagonistin Lakshmi hat sich aus den Schrecken ihrer Zwangsehe befreit, ist aus ihrer Heimat geflüchtet und begonnen sich ein Leben in Jaipur aufzubauen. Allmählich scheint für sie der Zugang zur indischen Kastengesellschaft zu gelingen und der Aufbau eines bescheidenen Wohlstands möglich zu werden. Doch jäh ändert sich alles als ihre 13-jährige Schwester Radhu und ihr Ehemann Hadi auftauchen.

Der Autorin, Alka Joshi , ist in ihrem Debütroman eine feinsinnige Hommage an eine starke Frau in einem gnadenlosen Umfeld gelungen. Dabei wird, uns Lesenden, das unbarmherzige gesellschaftliche System Indiens schonungslos vor Augen geführt. Über die Figur der blauäugigen Lakshmi, die die Kunst der Henna-Malerei neu interpretiert, erleben wir menschliche Schicksale, geprägt von Aberglaube, Religion, Kastensystem, Tradition, Beherrschung und Gewalt.
Richtig gut fand ich die Zwischentöne in der Kommunikation, die neben der sorgfältigen Wahl der Worte auch von Körperhaltung, Mimik und Gestik geprägt ist und in erster Linie ein gut gewähltes strategisches Vorgehen erfordert – wer schon mal eine Weile in Indien war wird sofort feststellen wie hervorragend der Autorin das gelungen ist! Ganz nebenbei erfahren wir einiges über die indische Küche und lernen etliche Worte in Hindi, die im Glossar nachzulesen sind. Wunderbar fand ich auch, dass die Autorin im Anhang zwei Rezepte aus der Geschichte zum Nachkochen aufgenommen hat.

Mein Fazit: 'Die Henna-Künstlerin' ist eine wunderbar geschriebene Geschichte, die uns einen kleinen Einblick in ein Gesellschaftssystem erlaubt, das wir als Europäer nur schwer verstehen können. Für den Lesenden bedeutet es ein exotisch anmutendes Lesevergnügen!

Bewertung vom 19.06.2022
Die dunkle Leidenschaft
Haller, Reinhard

Die dunkle Leidenschaft


ausgezeichnet

Mögliche Erklärung zu Putins Wahnsinn

Wissenschaftliche Bücher lesen sich ja nicht immer einfach. Dem Autor dieses Buchs ist es aber gelungen ein sehr komplexes, facettenreiches Thema sprachlich hervorragend aufzubereiten, so dass ich es am liebsten in einem Rutsch durchgelesen hätte.
Sehr klar differenziert der Autor zwischen verschiedenen äußerst starken Gefühlen, wie Ärger, Grausamkeit, Wut, Zorn und grenzt diese menschlichen Grenzbereiche ab zu dem Gefühl des Hasses. Noch nie habe ich so viel über mögliche Gefühle nachgedacht, habe überlegt was davon ich bei mir entdecken kann bzw. wen ich kenne, an dem ich derlei Gefühlsausbrüche schon beobachten/erleben konnte.

Sehr bildhaft fand ich die Beispiele zu Putin mit seinem unsäglichen Krieg, der Querdenker-Bewegung, zu Rassismus, Terror und Beziehungstaten. Auch die Auswüchse der Hasstiraden in den sozialen Medien sind allgegenwärtig und im Buch gut beleuchtet, jedoch stehen wir hier vermutlich erst am Anfang möglicher Auswirkungen. Es ist schon beängstigend, wie sich Hass als Gefühl im Menschen aufbaut und wie lange dieser Prozess dauert. Und wie schrecklich ist die Erkenntnis, dass es schier unmöglich scheint diese starke Emotion wieder abzubauen. Was bewirken Mobbing, Ausgrenzung, Liebesentzug, Missbrauch, Beschämung, Sadismus und welch entsetzlichen Lebensweg gehen Menschen, die dem ausgesetzt sind und schließlich bei Hass enden.

Fazit: Das Buch enthält eine hervorragende Analyse zu einem der stärksten menschlichen Gefühle. Mich hat es zum Nachdenken gebracht, darüber was jeder einzelne dazu beitragen kann, um Hass in unserer Gesellschaft zu verhindern.

Bewertung vom 11.06.2022
Die Widerspenstigkeit
Bonné, Mirko

Die Widerspenstigkeit


ausgezeichnet

Philosophische Reise ins Leben

Ein haptisch und farblich ansprechendes Büchlein begrüßte mich nach dem Auspacken aus der Klarsichtfolie. Dem schönen ersten Erleben des 'Begreifen' des Buchs schließt sich eine sprachlich ausgefeilte, märchenhafte Geschichte an, die sich zwischen den Dialogen von dem namenlosen Erzähler und dem Füchslein entspinnt und an die ungewöhnliche Geschichte des kleinen Prinzen anknüpft. Erwähnenswert finde ich auch die einzelnen s/w-Fotografien von Kathrin Hupe, die perfekt die Sahara-Stimmung vermitteln und daher hervorragend zur Erzählung passen.
Der Erzähler ist unterwegs in der Sahara auf der Suche nach dem abgestürzten Flugzeugs von Antoine de Saint-Exupéry. Am Fundort begegnet er dem jungen Wüstenfuchs, der, nachdem er dessen Vertrauen gewinnen kann, wunderbarerweise mit dem Erzähler spricht und diesem an der einen oder anderen Stelle die Augen für das nicht Offensichtliche öffnet. Im Dialog zwischen den beiden entstehen philosophische Gespräche über Widerspenstigkeit, Eigenartigkeit, Wahrhaftigkeit und das Leben schlechthin. Es gelingt dem Autor die Dialoge, die Gedanken und Handlungen seiner Protagonisten in wunderbare Lyrik zu überführen – ein wahres Lese-Wohlgefühl.

Von mir gibt es für dieses Buch eine 100%-ige Empfehlung als Geschenk für Freunde des kleinen Prinzen und vor allem für sich selbst.

Bewertung vom 05.06.2022
Die neue Wildnis
Cook, Diane

Die neue Wildnis


ausgezeichnet

Szenario einer nicht lebenswerten Zukunft
Es geht um eine Gruppe von Menschen, Teilnehmende an einer Studie zum Leben in der Wildnis, deren Leben auf das Wesentliche reduziert ist, nämlich dem Überleben. Ein Leben in der Steinzeit. Ein Leben in dem das Retten eines Seils wichtiger wird als ein Menschenleben. Ein Leben ohne Zukunft, da es keinen Weg zurück in ein lebenswertes Leben gibt. Das Leben der Wildnisgruppe wird von einer Gruppe von Rangern überwacht, die unbarmherzige Regeln umsetzen und Strafen festsetzen und die Gruppe ohne sichtbaren Grund von einem Ort zum anderen treiben. Ist es wirklich eine Studie oder eher ein Menschenversuch?

Der Autorin gelingt es sehr gut die ungewöhnlichen Emotionen der einzelnen Personen der Gruppe hautnah zu beschreiben. Es ist eine eigenartige Mischung von Unberührtheit, Grausamkeit, Verlässlichkeit und Vertrauen, basierend auf dem zusammen geschweißt sein in der Gruppe wohl wissend, dass man alleine keine Chance hat. Der Schreibstil spiegelt die Charaktere wieder, die fast emotionslos und teils gnadenlos ihr Schicksal dieses unerbittlichen Lebens in der Wildnis angenommen haben. Die Grenzen zwischen Menschsein und Tierwerden verschwimmen. Erzählerisch bildhaft begleiten wir Lesenden wie sich die Sinne der Protagonisten schärfen und sogar die Sprache in der Gruppe, speziell die der Kinder, sich anpasst an Beobachtungen aus dem tierischen Leben („Rudel“, „Junge“). Die soziale Interaktion in der Gruppe ist geprägt von Unterstützung, Rücksichtnahme, Arbeits- und Eigentumsteilung einerseits jedoch andererseits durch Machtstreben, Führungswille, gefühllosem Trennen, Zurücklassen und Tod.

Fortwährend hatte ich das Gefühl, dass etwas Unheilvolles über der Gruppe schwebt, dass der Schrecken hinter dem nächsten Baum lauert, dass es keine Gnade gibt, denn es geht um das Überleben des Einzelnen, so dass für Gefühl kein Platz ist. Und doch gibt es Momente des absoluten Zusammenhalts, der Zuneigung und des Sorgens. Sehr eindrücklich geschildert fand ich die heranwachsende Agnes, die einerseits um die Liebe ihrer Mutter Bea ringt und sich gleichzeitig versucht sich von ihr zu lösen. Es scheint ein schier unzertrennbares Band zwischen den beiden zu geben, das gleichzeitig aufgrund der gnadenlosen Umstände nicht sein darf, ja gar gefährlich wäre. Agnes ist ein Kind der Wildnis, einerseits stark, durchsetzungsfähig, eigenwillig, andererseits jedoch verletzlich und verunsichert, Halt und Bindung suchend (gut dargestellt durch das Umklammern des Knöchels ihrer Mutter). Ihre Mutter Bea nimmt ebenfalls eine besondere, bestimmende Rolle ein, sowohl in der Gruppe, also auch zu ihrer Tochter Agnes. Letztendlich war Agnes Gesundheitszustand als Kleinkind der Anlass für die Entscheidung zum Leben in der Wildnis. Der Charakter Beas ist facettenreich, sie ist sowohl hart und unerbittlich, teils abweisend gegenüber Agnes, jedoch ebenso sorgend, behütend, planend.

Sehr gut gefallen haben mir die Beschreibungen wie die Gruppe lernt die Natur zu beobachten und daraus Überlebenstechniken ableitet: wo ist Wasser, wie erkenne ich leicht erlegbare Beute, wie mache ich Lebensmittel haltbar, wie schütze ich mich vor Kälte, Wind, Wetter, wie finde ich meinen Weg, was brauche ich in der Wildnis und welche Zivilisationserrungenschaften sind in der Wildnis komplett sinnlos?

Mein Fazit: Diane Cook ist es hervorragend gelungen die Grenzen zwischen menschlichem und tierischem Verhalten verwischen zu lassen. 'Die neue Wildnis' ist für mich eine absolute Grenzerfahrung für einen Stadtmenschen, was mich angesichts der vorhandenen Klimaproblematik sehr nachdenklich gemacht hat. Daher gibt es von mir eine 5-Sterne-Bewertung mit absoluter Leseempfehlung.

Bewertung vom 23.05.2022
Lebenssekunden
Fuchs, Katharina

Lebenssekunden


ausgezeichnet

Die unglaublichen Leben zweier starker Frauen

Dieses Buch ist einfach klasse. Auf den ersten beiden Seiten dachte ich noch, ob das wohl etwas für mich ist, doch dann konnte ich nicht mehr mit dem Lesen aufhören. Die beiden 15-jährigen Mädchen Angelika und Christine sind die starken Protagonistinnen der Ende der 50-er/Anfang 60-er Jahre spielenden Geschichte. Angelika wächst in einer kulturell-intellektuell geprägten Familie in Westdeutschland auf, die ihrem Heranwachsen viele Freiheiten lässt. Christine, bei der sich alles um Drill im Leistungssport dreht, lebt mit Mutter, Bruder und Stiefvater in Ostberlin. Durch Zufall und aufgrund Angelikas Leidenschaft, dem Fotografieren, kreuzen sich die Leben der beiden Mädchen einige Male, jedoch unter dramatischen Umständen.

Der Autorin, Katharina Fuchs, ist ein nahe gehender, authentischer und sprachlich perfekter Roman gelungen, der durch die beiden Protagonistinnen und dem Zeitgeist der 50/60-er Jahre getragen wird. Es hat mich sehr berührt wie jedes der beiden Mädchen sich ihren persönlichen Weg erkämpft trotz massiver patriarchalischer Widerstände im beruflichen Umfeld bzw. der Ausbeutung des eigenen Körpers zugunsten des brutalen, menschenverachtenden Systems der DDR. Die Parallelen zum aktuellen damaligen Geschehen in Berlin und den politischen Anfängen Willi Brandts passen sich dabei perfekt in die Geschichte ein und verdeutlichen die Überraschung und politische Hilflosigkeit, als die DDR mit Unterstützung Russlands Fakten schafften und quasi über Nacht 'die Mauer' errichteten. Aktuell, angesichts des Ukraine-Krieges, würde ich sagen: 'und wieder einmal ist der Westen völlig überrascht und politisch hilflos; und wieder ist es der gleiche Aggressor'.

Mein Fazit: 'Lebenssekunden' kann ich ohne Einschränkung empfehlen zum Selbstlesen oder Verschenken. Dieses Buch enthält eine zu 100% spannungsgeladene Geschichte, die allen Frauen Mut macht ihre Träume und Ziele zu verfolgen, jede kostbare Lebenssekunde zu nutzen und sich niemals unterbuttern zu lassen.... YES, WE CAN!

Bewertung vom 18.05.2022
Morgen kann kommen
Kürthy, Ildikó von

Morgen kann kommen


ausgezeichnet

Zufall, Schicksal, Ende und Neuanfang

Besondere Menschen sind der Schwerpunkt dieses Buches. Da gibt es die Geschwister Ruth und Gloria, den dicken Erdal und die lebenslustige Fatma mit ihrer pubertierenden Tochter Leyla, dann den liebenswerten Rudi und den herzensguten Johann und leider auch 'Karl, der Große'. Selbst Dagmar, der riesigen Dogge kommt eine besondere Rolle in der Geschichte zu. Alles beginnt mit einem zufällig zurück gelassenen Foto und den darum rankenden Schicksalen jeder einzelnen Figur, die die Geschichte prägen. Wir als Lesende blicken aus der Sicht der handelnden Personen auf das Geschehen. An manchen Stellen wäre ich dabei am liebsten aus dem Fenster gesprungen vor lauter Wut auf den unsäglichen Karl, der in seiner perfiden Egomanie tiefe Wunden in die Leben der anderen schlägt.

Der Autorin gelingt es Leben zu skizzieren, die völlig anders hätten verlaufen können; Gefühle sichtbar werden zu lassen, die mich nicht unberührt ließen; Verletzlichkeit und Stärke durch Worte fühlbar werden lassen. Der Schreibstil ist leicht und dennoch präzise zugeschnitten auf jede/n Protagonist*in. Die Dialoge sind humorvoll und gleichermaßen tiefgründig. Für mich war es das erste Buch von Ildikó von Kürthy, die ich bisher in das Chance Romanzen und Liebesgeschichten einordnete – es wird auf alle Fälle nicht mein letztes Buch von ihr gewesen sein.

Mein Fazit: 'Morgen kann kommen' ist nicht nur ein Buch voller persönlicher Enden und Neuanfänge, voller Hoffnung, Zuversicht, Freundschaft und Vertrauen, sondern auch, aufgrund der wunderbaren Illustrationen von Peter Pichler, ein sehr schönes Buch. Von mir gibt es daher eine 5-Sterne-Lese-und-Kaufempfehlung.