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Benutzername: 
dj79
Wohnort: 
Ilsenburg

Bewertungen

Insgesamt 200 Bewertungen
Bewertung vom 13.09.2022
Isidor
Kupferberg, Shelly

Isidor


sehr gut

Interessanter Blickwinkel, Potenzial nicht ganz ausgeschöpft
Isidor ist ein jüdischer Lebemann im Wien der 1930er Jahre, der es, aus ärmsten Verhältnissen stammend, geschafft hat, mit Hilfe von Bildung und Zielstrebigkeit zu Reichtum und einem guten Leben zu kommen. Dafür war er schon in jungen Jahren bereit, einen Teil seiner Identität zu verschleiern beziehungsweise zu verbergen. Mit dem Aufstieg der Nationalsozialisten beginnt die grauenhafte Ära, die den schon viele Jahre vorhandenen Antisemitismus auslebt, die Neid und Missgunst eskalieren lässt.

In diesem Setting erzählt Shelly Kupferberg von ihrem Urgroßonkel Dr. Isidor Geller.
Sie beschreibt seinen Aufstieg, das Verlassen der Heimat. Die Autorin begründet sehr anschaulich die Notwendigkeit, den ursprünglichen Vornamen Israel einzudeutschen und daraus Variationen wie Innozenz, Ignaz oder eben Isidor abzuleiten. Gleichzeitig schildert sie die widersprüchliche Einstellung der hohen jüdischen Gemeinschaft, die vulgären Nationalsozialisten könnten ihnen nichts anhaben. Diesen Glauben an die eigene Überlegenheit finde ich sehr interessant und spannend, weil sie sich sehr gut auf unsere westliche Denke China und Russland gegenüber übertragen lässt.

Den Aufstieg Isidors hätte ich mir etwas liebevoller vom Schreibstil her gewünscht. Ich konnte keine Nähe zu Isidor entwickeln, alles erschien kühl dokumentarisch, irgendwie sachlich. Der Abstand zur Hauptfigur hat mir nicht so gut gefallen. Berührt wurde ich erst, als der Schrecken über Isidor, seine Familie und Freunde hereinbrach. Selbst zu diesem Zeitpunkt hatte ich mehr Mitgefühl für alle anderen als für Isidor. Das stimmt mich nachdenklich, weil es diesen Unterschied nicht geben sollte. Schließlich ist allen gleichermaßen immenses Unrecht widerfahren.

Als Highlight habe ich die Verbindung der Geschichte zu dem extravaganten Cover empfunden. Das Reh im Salon war der Grund, warum ich den Roman lesen wollte. Ebendiesem Reh wieder zu begegnen war sehr schön, ein Lichtblick innerhalb des Grauens.

Insgesamt ist der Roman thematisch keine leichte Kost. Ich spreche gern eine Leseempfehlung an alle historisch Interessierten aus, liefert er doch einen interessanten Blickwinkel auf das Geschehen.

Bewertung vom 24.07.2022
Die karierten Mädchen / Heimkehr-Trilogie Bd.1
Hennig von Lange, Alexa

Die karierten Mädchen / Heimkehr-Trilogie Bd.1


ausgezeichnet

Schleichender Verlust eines selbst bestimmten Lebens
Klara ist eine neunzigjährige, bereits erblindete Frau, die ihre Lebenserinnerungen festhält, indem sie unzählige Kassetten bespricht. Das ist eine ganz wunderbare Idee, lässt man die Familie nochmal die eigene Stimme hören und schenkt ihr die Lebensgeschichte, gibt vielleicht das ein oder andere Geheimnis preis. So kann möglicherweise manche Reaktion postum besser nachvollzogen werden.

Wir Leser:innen tauchen ab in Klaras Dasein als junge Frau zur Zeit der Weltwirtschaftskrise 1929 und begleiten sie bis in die späten 1930er Jahre. Zunächst erleben wir eine glückliche Frau, die unverheiratet und unabhängig ihr Leben gestaltet. Als Lehrerin ist es ihr sogar möglich, ihre Familie, deren Pension schwächelt, zu unterstützen. Bald übernimmt sie sogar für ein Findelkind, Tolla, die Verantwortung. Doch wenig später bekommt das Kindererholungsheim, indem Klara tätig ist, finanzielle Probleme. Eine Lösung könnte staatliche Unterstützung sein. Dazu müssen sich Klara und ihre Kolleginnen allerdings auf die Nationalsozialisten einlassen.

So entwickelt Alexa Hennig von Lange mit ihren „karierten Mädchen“ eine kluge und aus meiner Sicht faire Auseinandersetzung mit dem Aufkommen des Nationalsozialismus. Sie beschönigt nichts, macht aber auch die Nöte der einfachen Leute zur Weltwirtschaftskrise sichtbar. Sie transportiert sehr gut Klaras innere Ablehnung des Systems, das sie braucht, um weiterhin kranke Kinder pflegen und Haushaltungsschülerinnen ausbilden zu können. Die Autorin richtet gleichzeitig ihren Blick auf hundertprozentige Befürworter, Extremisten und die von ihnen verübten Gräueltaten.

Ich muss zugeben, ich mag Klara. Eine aus heutiger Sicht bessere Entscheidung ihrerseits hätte für alle Bewohner des Erholungsheimes ein schlechteres Leben bedeutet. Ihr Findelkind hätte sie ebenfalls nicht aufziehen können. Sympathie empfinde ich darüber hinaus, weil sie jede Lücke des Systems nutzt, um ihren Schützlingen ein Stück Selbstbestimmtheit zu vermitteln, auch wenn die Möglichkeiten dafür immer weniger werden.

Sprachlich sind „Die karierten Mädchen“ sehr eingängig. Der Roman liest sich flott, aufgrund der aufgebauten Spannung habe ich gern immer weiter und weiter gelesen. Zudem schwingen durchgehend die Gefühle der Protagonisten mit, so dass ich auch persönlich von Klara‘s Schicksal berührt wurde. Ich fragte mich direkt und nicht ohne Gewissensbisse, wie ich wohl entschieden hätte. Ein persönliches Highlight stellt das anhaltiner Setting, meine Heimat, dar.

Ich kann Euch diesen Roman nur ans Herz legen. Ich selbst fiebere jetzt der Fortsetzung entgegen, denn der vorliegende Roman ist der erste Band einer Trilogie.

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Bewertung vom 17.07.2022
Jahre mit Martha
Kordic, Martin

Jahre mit Martha


ausgezeichnet

Željko Drazenko Kovačević, genannt Jimmy, ist Kind von Einwanderern, die zum Arbeiten nach Ludwigshafen gekommen sind. Auf dem Bau und beim Putzen verdienen Jimmys Eltern gerade so viel, dass sie ihre fünfköpfige Familie versorgen und in einer Zweizimmerwohnung unterbringen können. Beim vierzigsten Geburtstag seiner Mutter lernt der 15-Jährige Martha Gruber, Professorin in Heidelberg, kennen. In seinen Sommerferien kümmert sich Jimmy um den Garten der Grubers. Marthas Anziehungskraft ist riesengroß. Željko verliebt sich.

Ich mochte Željko. Er ist klug, forscht Themen aus, die er nicht kennt. In der Bibliothek schlägt er Fremdwörter nach, wodurch er vermutlich mehr davon beherrscht als Gleichaltrige mit deutschen Wurzeln. Željko merkt schnell, dass ihm aufgrund seiner Herkunft Steine im Weg liegen, und weiß sehr genau, dass Bildung die Hürden überwinden kann.
In Martha konnte ich mich gut hineinversetzen. Mit beruflich erfolgreichem Werdegang, Mann und Kind steht sie mitten im Leben als sie Jimmy kennenlernt. Vielleicht ist dieses sorglose Leben mit Putzfrau, verwöhntem Kind und regelmäßig abwesenden Mann von einer gewissen Kälte durchdrungen, die durch eine Dankbarkeit und Zuneigung, die Jimmy ihr entgegenbringt, vertrieben werden kann.

So entwickelt sich eine Liebe zwischen den beiden, die manchmal kindlich in einem Rülpswettbewerb endet, die mütterlich wirkt, wenn Martha ihm Bücher schenkt, die aber vor allem von unterdrückter Leidenschaft und Entbehrung geprägt ist. Nur selten geben sich die Liebenden vollends hin. Das macht das Lesen sehr reizvoll und spannend.

Ganz nebenbei taucht man in das Schicksal der Gastarbeiterfamilien und ihren in Deutschland geborenen Kindern ein. Sie sind die Fremden, die mit Vorurteilen bedacht werden und sich doppelt anstrengen müssen, um sich zu bewähren. So tut Željko alles, um sich maximal zu integrieren und ein anerkannter Bürger zu sein. Dabei droht er sich selbst, seine Identität und seine Persönlichkeit, zu verlieren. Das hat mich stark berührt und lässt mich meine empfundene Toleranz neu reflektieren.

Martin Kordić verbindet gekonnt Liebesgeschichte, Gesellschaftskritik und Zeitgeist. Angenehm in Erinnerung bleiben wird mir die Einbettung seiner Geschichte in das Zeitgeschehen. Seine Ausführungen zu Michael Jackson und zur Fußball-WM in Deutschland haben mich selbst zurückversetzt und das jüngere Lebensgefühl wieder aufleben lassen. Kordićs attraktive, wunderbar lesbare Sprache bildet den perfekten Rahmen für seinen Roman.

Sehr gern empfehle ich die Lektüre.

Bewertung vom 05.06.2022
Amelia
Burns, Anna

Amelia


ausgezeichnet

Keine Zeit für Liebe
Zuletzt hatte ich „Milchmann“ von Anna Burns gelesen und war begeistert von der ungewöhnlichen Annäherung an ihre Figuren sowie der realistisch erscheinenden Härte der Ereignisse. Deshalb wollte ich auch unbedingt ihren neuen Roman lesen.

Mit „Amelia“ tauchen wir noch deutlicher, in meinen Augen maximal in den Nordirlandkonflikt ein. Die Brutalität, die „Milchmann“ vergleichsweise nur andeutet, wird hier filmreif herausgearbeitet. Die Leser*innen werden wirklich nicht geschont. Die Familien im Kontext des Romans sind arm und kinderreich. Allgegenwärtig ist zudem der Hass zwischen den Konfliktparteien. Die Troubles sind gekennzeichnet durch Straßenschlachten, Diebstahl und Hauszerstörung. Die Leute bringen sich gegenseitig um, Menschen verschwinden einfach, tauchen nie wieder auf. Männer wie Frauen verschanzen sich, kämpfen bis aufs Blut mit einfachsten Mitteln wie Knüppeln und Feuerhaken. Die britische Armee scheint nur zu kommen, um nach den Geschehnissen wieder aufzuräumen. Den Konflikt auseinanderhalten bzw. -treiben tut sie nicht. Über Allem schwebt die stete Sorge wie die Familie am Abend satt werden soll. Die permanente Angst wird mit Alkohol betäubt, der seinerseits die Probleme weiter anschürt.

Die geschaffene Atmosphäre ist düster, das Leben zur Zeit der Troubles erscheint lieblos. Dabei sehnt sich Amelia ihr ganzes Leben lang nach Liebe, Aufmerksamkeit seitens der Eltern, Unterstützung von Geschwistern, gegenseitiges Verständnis unter Freunden, echte Zuneigung vom anderen Geschlecht. Doch all diese Selbstverständlichkeiten sind unter die Räder gekommen. Jeder kämpft nur noch ums nackte Überleben.

Wie schon „Milchmann“ ist auch „Amelia“ ein fordernder Roman. Die Herausforderung liegt hier weniger in der Extravaganz des Schreibstils, mehr im Ertragen des Gelesenen sowie im Überwinden der Zeitsprünge. Die ausufernde Gewalt, der Alkoholkonsum rücken die Charaktere ins Befremdliche. Während „Milchmann“ für mich teilweise dystopische Züge hatte, weil ich mir gut vorstellen konnte, dass Selbiges in naher Zukunft auch möglich ist, ist meine Wahrnehmung hier rein historisch. Den behandelten Kriegszustand möchte ich mir für unsere Zeit nicht vorstellen, wohlwissend, dass viele Menschen dieser Erde unter ebendiesem Umständen leben müssen.

Besonders sensibel erarbeitet wurde der Einfluss von Konflikt und Krieg auf die Lebensläufe der Betroffenen. Dadurch wird deutlich, dass ein Waffenstillstand oder ein ausgehandelter Frieden längst nicht gleichbedeutend mit einem normalen Leben ist. Dieser Aspekt des Romans hat mir am besten gefallen. Insgesamt wieder ein hervorragender Roman von Anna Burns und bestimmt nicht mein letzter.

Bewertung vom 24.04.2022
Vertrauen
Mishani, Dror

Vertrauen


sehr gut

Kluge Auseinandersetzung mit Glaube und Organisation
Dror Mishanis neuer Krimi ist keine typisch actiongeladene Verfolgungsjagd, die Tathergänge sind auch nicht besonders beängstigend beschrieben, vielmehr geht es um die Ermittlungsarbeit an augenscheinlichen Bagatellfällen. Inspektor Avi Avraham wünscht sich eigentlich Fälle, wo das Ergebnis noch einen Nutzen für die Nachwelt hat. Was nutzt es einem Toten und dessen Hinterbliebenen, wenn der Mörder gefasst und verurteilt ist? Avi Avraham liebäugelt mit einem Wechsel zu einer anderen Ermittlungsbehörde oder zum Geheimdienst, um mehr bewegen zu können.

Doch zunächst muss er sich mit zwei Fällen, die wir Leser:innen abwechselnd weiterverfolgen, auseinandersetzen, ein vor einen Krankenhaus ausgesetztes Neugeborenes und ein verschwundener Schweizer Tourist beschäftigen ihn. Zwischen den Zeilen wird Mishani politisch. Er öffnet uns die Welt des jüdischen Glaubens, der in extremer Auslegung die Freiheiten des Lebens stark einschränkt. Mishani ist dabei ein Erzähler der leisen Töne, der mit Andeutungen arbeitet. So entsteht ein Gesamtbild von latenter Unterdrückung, die sonst anderen Glaubensgemeinschaften zugeordnet wird. Mishani lenkt seinen kritischen Blick auch auf den Geheimdienst und dessen Vorgehensweisen. In diesem Zusammenhang entsteht auch die Spannung im Roman, weil man unterschwellig spürt, wie sich Avi Avraham mit jeder weiteren Frage mehr in Gefahr begibt.

Vom Sprachniveau her liest sich der Roman flüssig, auch wenn es sich hier nicht um einen thrillermäßigen Pageturner handelt. Die Bezeichnung als ungemein dichten literarischen Kriminalroman finde ich passend. Er regt zu Nachdenken an, öffnet die Augen für andere Kulturen. Das hat mir hier sehr gefallen. Sympathisch fand ich zudem die kleinen Querverweise zu Orna, die wir schon aus „Drei“ kennen, und ihren Ermittlungen.

Allen, die auch gern im Genre Literatur unterwegs sind, empfehle ich diesen Kriminalroman sehr gern.

Bewertung vom 18.04.2022
Schallplattensommer
Bronsky, Alina

Schallplattensommer


ausgezeichnet

Melancholisch witzige Geschichte um Liebe und Familie
Maserati ist sechzehn, kellnert im Ausflugslokal ihrer Oma. Obwohl sie nicht regelmäßig genug zur Schule geht, scheint sie mit ihrem Leben zufrieden zu sein. Doch dann zieht nebenan in die alte, verfallene Villa eine reiche Familie mit zwei Jungen in Maseratis Alter ein. Nicht nur wegen der lärmenden Renovierungsarbeiten ist es jetzt mit der ländlichen Ruhe vorbei.

In dem Wunsch Maserati kennen zu lernen, stochern Caspar und Theo in ihrem Leben ohne Smartphone und Fernsehen herum. Als sie Maseratis Konterfei auf einer alten Schallplatte entdecken, manövrieren sie mit ihrer ewigen Fragerei Maseratis Leben ins Chaos. Sämtliche Konstanten kommen ins Wanken, das Zusammenarbeiten mit der Oma im Lokal, ihre Freundschaft zu Georg, einem ihrer Mitschüler.

Alina Bronsky führt uns in ein Feuerwerk aus widersprüchlichen Gefühlen, ergründet mit Maserati die Frage nach der Liebe und die Bedeutung von Familie. Gleichzeitig entwickelt sich ein Abenteuer für die jungen Leute zur Findung des eigenen Selbst. Immer wieder werden Maserati, Caspar und Theo fehlgeleitet durch Missverständnisse, die durch unüberlegte, cool sein wollende Kommentare entstehen.

Sprachlich bleibt sich die Autorin treu. Ich liebe ihren bittersüßen Tonfall, auch wenn er hier aus Richtung der Oma nicht ganz so spitz wie sonst rüberkam. So liest sich der Roman zügig, lässt einen hin und wieder schmunzeln. Ich mag Bronskys Art, schwierigeren Themen die negative Energie zu nehmen und gleichzeitig eine gewisse Ernsthaftigkeit mitschwingen zu lassen.

Ich habe diese turbulente Feriengeschichte genossen und empfehle sie gern weiter.

Bewertung vom 23.03.2022
Dschinns
Aydemir, Fatma

Dschinns


ausgezeichnet

Die Problematik des Schweigens
Als Gastarbeiter kam Hüseyin vor 30 Jahren nach Deutschland. Er hat jeden Job gemacht im Stahlwerk, später in der Papierfabrik, jede Überstunde durchgezogen, um seine Familie nachzuholen und sich jetzt zum Ruhestand den Traum einer eigenen Wohnung in Istanbul zu erfüllen. Doch leider hat er bis auf ein paar erste Eindrücke zur wuseligen Atmosphäre nichts mehr davon. Er stirbt an einem Herzinfarkt.

Hüseyins Ehefrau und Kinder begeben sich nun kurzfristiger als ursprünglich geplant ebenfalls nach Istanbul, um ihn zu beerdigen. Hüseyins Traum, die Wohnung rückt völlig in den Hintergrund, schien mir zwischendurch wie ein Fluch. Während der Anreise und des Aufenthaltes in der Wohnung lernen wir die Kinder schrittweise kennen, zum Ende hin auch Emine, Hüseyins Ehefrau. Jeder Person ist dafür ein eigenes Kapitel gewidmet. Durch das Lesen in den Gedanken der Protagonist:innen kennen wir die Familie am Ende besser als sie sich selbst. Denn Schweigen ist ihr Hauptproblem. Schicksalsschläge werden nicht thematisiert, Wünsche nicht adressiert. Alle sind gewissermaßen gefangen in dem Zwang, die Erwartungen der Vorgängergeneration zu erfüllen. So macht jedes Familienmitglied seine Probleme mit sich selbst aus.

Fatma Aydemir zeichnet sehr eindrücklich das Umfeld, mit dem sich die Familie früher in der Türkei und später in Deutschland auseinandersetzen musste. Die beengte Mietskaserne mit Blick auf die und Abgaswolken von der Fabrik ist in diesem Zusammenhang hervorzuheben, aber auch die Unterstützungsleistung, die Sevda, eine der Töchter, eine Zeit lang für ihre Großeltern in der Türkei erbringen musste. Trotz der Last, die auf jedem Charakter liegt, hatte der Roman für mich keinen deprimierenden Touch. Er ist mehr ein Augenöffner für viele Probleme, die in weiten Teilen nichts mit Migration zu tun haben. Besonders gefallen hat mir die an den jeweiligen Charakter angepasste Sprache. Die Studentin hat einen anderen Sprachgebrauch als der Autoliebhaber, die Eltern sind sprachlich klar von den Kindern abgegrenzt. Irgendwie erfrischend, weil damit der Lesefluss angetrieben wird, aber auch stark überzeichnet, finde ich die schiere Anzahl der Probleme. Das kratzt ein bisschen an der Glaubwürdigkeit des Romans, hat mich hier allerdings gar nicht gestört.

Insgesamt war Dschinns für mich ein Lesevergnügen, das ich sehr gern weiterempfehle.

Bewertung vom 23.03.2022
Der große Fehler
Lee, Jonathan

Der große Fehler


gut

Romanhafte Dokumentation
Jonathan Lee erzählt uns die Geschichte eines fast vollständig vergessenen New Yorkers, Andrew Haswell Green. Ich hatte vor der Lektüre noch nie von ihm gehört, obwohl er der Gestalter des Central Parks und vieler öffentlicher Gebäude war. Andrew wurde als Lehrling in einen Kaufmannsladen geschickt, wo er für einen Hungerlohn und eine unzumutbare Unterkunft schufften musste.

Schnell erkannte Andrew, dass Bildung der Schlüssel zum Erfolg ist, Bücher der Ursprung allen Wissens. Doch mittellos bleibt er lang ausgeschlossen. Erst sein Freund Tilden verschafft ihm Zugang zur Bibliothek.

Ich mochte Andrew, vor Allem den noch sehr jungen Buben vom Lande und den Lehrling. Erstaunlich, wie schnell er eine erste Vision seiner späteren Vorhaben im Kopf hatte. Insgesamt war mir die Lebensführung des Andrew Haswell Green zu pessimistisch, irgendwie deprimierend. Er ist unendlich einsam geblieben. Vielleicht auch dadurch bin ich irgendwie auf Distanz zu ihm geblieben.

Jonathan Lees Schreibstil machte mir zusätzlich etwas zu schaffen. Normalerweise mag ich mehrere Handlungsstränge sehr gern, aber hier hat mich der Erzählstrang um den Ermittler McClusky gestört. Mein Lesefluss war dadurch gehemmt, leider. Darüber hinaus war ein starker dokumentarischer Touch zu spüren. So wurde die Geschichte letztlich ganz schön zäh.

Insgesamt war das Kennenlernen einer früheren Berühmtheit interessant. Besonders spannend oder einfühlsam war es nicht. Deshalb kann ich nur eine eingeschränkte Empfehlung geben.

Bewertung vom 23.02.2022
Violas Versteck / Tom Babylon Bd.4
Raabe, Marc

Violas Versteck / Tom Babylon Bd.4


ausgezeichnet

Die Suche wird zur Jagd
Tom Babylon hat mir schon in den letzten Jahren immer mal wieder spannende Stunden geschenkt, der LKA-Ermittler, der seit vielen Jahren auf der Suche nach seiner Schwester Viola ist, der niemals aufgibt und auch nicht tot zu kriegen ist. Ich hab ihn lieb gewonnen und war deshalb sehr erfreut, als endlich sein neuer Fall „Violas Versteck“ angekündigt wurde.

Der Titel ist Programm, beschreibt genau, um was es im neuen Thriller gehen wird und verrät doch gar nichts. Alles beginnt mit einem Foto von Viola als erwachsene Frau, das Tom bei seinem Vater im Keller entdeckt. Es befeuert seine Suche. Er scheint kurz vor seinem Ziel zu sein. So tauchen wir mit ihm ein in die schon in den Vorgängerbänden angerissene Geschichte. Wir gehen tiefer und tiefer und landen in einem Moloch.

Unterstützt wird Toms Suche weiterhin durch seine Kollegin aus der Psychologie, Sita Johanns. Sita erweist sich als ähnlich leidensfähig, wächst in diesem Band einmal mehr über sich hinaus. Dabei wird ihr Vertrauen in Tom sowie ihre Bereitschaft, ihm weiter zur Seite zu stehen, auf eine harte Probe gestellt. Wo mich Sita mehr als begeistern konnte, haben mich die anderen Mitglieder des LKA charakterlich enttäuscht.

Wir begegnen auch einer ganzen Reihe alter Bekannter wieder. Dabei sind sowohl Opfer als auch Täter. Toms Vater stirbt bei einem mysteriösen Überfall in der Berliner U-Bahn. Hier hätte ich mir ein paar mehr Informationen zu Ermittlungen gewünscht. Sein Abgang kam mir etwas zu kurz, hatte ich ihn doch als sehr wichtige Figur der Serie gesehen. Auch von Bene hätte ich gern noch etwas mehr gelesen, weil latent die Gefahr besteht, dass es der letzte Band war. Dafür wird es wieder mega-gefährlich, Tom und Sita kämpfen um ihr Leben.

Etwas verwirrend fand ich die Zeitschiene, in der erzählt wird. Gerade in der ersten Hälfte wusste ich manchmal nicht genau, in welcher Reihenfolge die Dinge passiert sind. Mit Rückblättern zu den letzten Zeitangaben ging es dann wieder. Trotzdem hat die zeitliche Unsicherheit den Lesefluss etwas ausgebremst. Eine konkrete Zeitangabe wie in den Vorgängern hätte mir persönlich besser gefallen.

Insgesamt ist „Violas Versteck“ wieder ein sehr spannender Thriller aus der Feder von Marc Raabe. Er rundet die Serie um Tom Babylon gut ab. Aus meiner Sicht ist es günstig, wenn man die vorangegangenen Bücher auch kennt, sonst geht manche bedeutsame Szene einfach an einem vorbei. Deshalb lautet meine Leseempfehlung: Lest die ganze Serie! Es lohnt sich.

Bewertung vom 23.02.2022
Tell
Schmidt, Joachim B.

Tell


ausgezeichnet

Alte Geschichte im neuen Gewand
Kann interessante Literatur entstehen, wenn jemand die alte Geschichte um Wilhelm Tell nochmal neu aufbereitet? Ist es lohnenswert, eine Geschichte, die man glaubt zu kennen? Diese Fragen trieben mich um, als mir der Klappentext von Schmidts Tell begegnet ist. Da mir sein Roman „Kalmann“ gut gefallen hatte, lies ich mich auch auf dieses Leseabenteuer ein.

Nach wenigen Seiten versetzt uns Joachim B. Schmidt um Jahrhunderte in der Zeit zurück und verfrachtet uns in das beschwerliche Leben der Schweizer Bergbauern, wo kleine Kinder schon den Stall ausmisten und kräftig mit anpacken müssen. Familienväter wildern für ein bisschen Fleisch. Mit den alten Weibern sitzen wir auf der Bank vor der Hütte und genießen das bisschen Sonne, das die Berge freigeben. Die geformte Atmosphäre aus bedrohlicher Natur und Gottesfürchtigkeit hat mir sehr gefallen. Hervorragend war meinem Empfinden nach auch der sprachliche Support für die Zeitschiene. Die Artikulation und die Verhaltensweisen sowohl der Bergbauern als auch der Habsburger kamen wirklich glaubwürdig rüber.

Tell selbst schien mir lange Zeit unnahbar. Er wirkte auf mich, als wäre er überfordert vom Leben, als wäre Tell nie richtig erwachsen geworden. Ich schob es auf das harte Leben in den Bergen und wurde eines besseren belehrt. Geschickt ist dem Autor hier ein Querverweis ins aktuelle Zeitgeschehen gelungen ohne dass es aufgesetzt wirkt.

Die Geschichte selbst wird rasant erzählt. Prägnante Sätze lassen kurze Kapitel entstehen, die einzelnen Charakteren zugeschrieben sind. So wechselt ständig der Blickwinkel auf das Geschehen, das dadurch stark an Plastizität gewinnt. So sind die vom Autor gezeichneten Bilder stets deutlich, die Gefühlswelt der Protagonist:innen regt zum Mitfiebern an. Letztlich trägt diese alte Geschichte ein ganz neues thrillernes Gewand.

Mir hat das gefallen. Gern spreche ich eine Leseempfehlung aus.

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