Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
miss_atticos

Bewertungen

Insgesamt 46 Bewertungen
Bewertung vom 21.08.2020
Wilde Freude
Chalandon, Sorj

Wilde Freude


ausgezeichnet

Jeanne steht vor einem Scherbenhaufen. Ihre Ehe ist nicht mehr das, was sie einmal war und dann bekommt sie auch noch die Diagnose Brustkrebs. Wie soll sie das bewältigen? Wie soll sie mit diesen unerträglichen Schmerzen umgehen? Wie geht es zukünftig weiter?

In all dieser Dunkelheit sieht sie dann doch ein Licht auf sich zukommen. Im Kampf gegen den Krebs treten plötzlich drei Frauen in ihr Leben.

Wilde unbändige Freude herrscht unter den Frauen. Unermüdlicher Kampfgeist gegen den Krebs und ein verrückter und krimineller Plan wecken die Lebensgeister. Dieser Haufen ist so wild und einzigartig, ich bin froh, dass Jeanne nicht allein gelassen wird. Trotz Krebs gibt es Liebe, Freude, Freundschaft und Heiterkeit - ja auch so etwas wie Hoffnung, ein gemeinsamer Plan, ein gemeinsames Ziel. Den größten Juwelier Paris' auszurauben.

Sorj Chalandon hat mich von der ersten Seite an überzeugt. Er gibt anfangs einen kurzen Einblick, was die Frauen zukünftig anstellen. Danach widmet er sich der Hauptfigur Jeanne und ihrer Diagnose. Der Autor hat die Gefühle und Gedanken seiner Hauptprotagonistin so echt rübergebracht: Jeder Satz war so tief verletzlich, als hätte er selbst Ähnliches durchlebt. Ich hab ihm alles abgenommen. Gefühlt fällt dem Autor das Schreiben leicht. Er hat sich nicht abgemüht. Jeanne wandelt sich im Laufe der Seiten. Erst das kranke graue Mäuschen, dann ist sie am Ende stärker und selbstbewusster als zuvor. So nach dem Motto "Who cares?" rauben die Frauen einen Juwelier aus ohne mit der Wimper zu zucken. Ich war gespannt, habe gelacht. Ich liebe "Wilde Freude". Diese verspürte ich selbst beim lesen. Am Ende bin ich wirklich begeistert.

Mich hat das Buch berührt, mitgerissen und sehr gut unterhalten. Es gehört definitiv in die Kategorie "Lieblingsbücher".

Bewertung vom 18.08.2020
Am Rand der Dächer
Just, Lorenz

Am Rand der Dächer


sehr gut

"Am Rand der Dächer" erzählt die Geschichte von Andrej und Simon, vom Berlin zur Wende und von Berlin im Wandel bis zur Jahrtausendwende.

Detailliert und sprachgewandt katapultiert uns Lorenz Just nach Berlin. Ich sehe Andrej mit Simon spielen, sehe ihn die Welt beobachten. Die Hinterhöfe, die offenen Fenster. Ich schnuppere Berliner Luft. Sie riecht ungewohnt, aber gut. Sie riecht neu und nach Abenteuerlust. Feuerchen. Schneebälle. Nichtssagende Sätze in einem Tagebuch. Einschlusslöcher und unbewohnte Häuser sind Zeugen vergangener Zeit, individuelle Abenteuerspielplätze.

Was anfangs noch unbekümmert scheint, wird im Laufe der Zeilen ernster, unnahbarer und gefährlicher. Die Kinder verändern sich, wachsen heran. Neue Bekanntschaften und Freunde kommen hinzu. Jeder für sich eigen. Die einst fantasievoll aufgebaute Legowelt weicht dem Erwachsenenleben. Erste Kontakte zu Mädchen, erste kriminelle Energien. Aus Kindern werden Jugendliche, die so einiges ausprobieren.

Lorenz Just verschafft "Am Rand der Dächer" so unglaublich viel Authentizität, er hat ein unfassbares Talent die Situationen und Gefühle seiner Figuren rüberzubringen. Als hätte er seine eigene Kindheit und Jugend niedergeschrieben. Plötzlich war auch ich zurück in meine Vergangenheit gereist, weil mir vieles so bekannt vorkam. Noch dazu ist es ihm gelungen, in mir eine Reiselust zu entfachen. Am liebsten wäre ich sofort nach Berlin, um alles zu erkunden. Einziger Kritikpunkt, mir fehlte irgendwie noch etwas mehr Spannung, etwas mehr Nervenkitzel.

Ich bin begeistert, ergriffen und irgendwie sentimental. Es ist bitter. Bitter, dass nichts so ist wie es scheint. Dass es nie mehr so sein wird wie es war.

Wer Coming-of-Age-Romane mag, kommt hier voll auf seine Kosten, wer Berlin mag sowieso. Eine Lektüre, die man nicht nur einmal zur Hand nimmt, weil man immer wieder gerne diese ausdrucksstarke Sprache in sich einsaugen möchte. Ich empfehle das Buch sehr gerne weiter.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 28.07.2020
After the Fire - Ausgezeichnet mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis 2021
Hill, Will

After the Fire - Ausgezeichnet mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis 2021


gut

Feuer, Rauch, Schüsse und viele Tote. Die 17-jährige Moonbeam ist eine der wenigen Überlebenden der Gotteslegionäre. Sie und die anderen Überlebenden finden sich in einer Klinik wieder. Moonbeam erzählt einem Psychologen und dem FBI, was sie in der Sekte erlebt hat, wie sie abgeschottet in einem Lager lebten. Zwei Erzählstränge erzählen vom Davor und Danach der schrecklichen Brandkatastrophe. Harter Tobak für einen Jugendroman. Erschreckend, fürchterlich, brutal.

Die erste Hälfte des Buches empfand ich als sehr langatmig. Kämpfen war angesagt, aber ich habe mich durchgebissen. Es hat mich wirklich Nerven gekostet. Puuuhhh... Ich habe die Dynamik vermisst und ich habe nicht viel gefühlt dabei. Nur Unverständnis und Wut. Vielleicht gar nicht schlecht, wenn ein Jugendbuch weniger rasant beginnt. Schließlich muss das Gelesene auch erst verdaut werden. Ich finde es gut, dass so ein ernstes Thema für Jugendliche gewählt wurde. Es ist immer wichtig, sich kritisch mit allem auseinanderzusetzen und andere Meinungen zu akzeptieren und Andersdenker zu respektieren.

Erschreckend: Die Kinder und Jugendlichen erfahren nur eine Wahrheit und ihr Horizont wird so begrenzt und klein gehalten, dass die meisten von ihnen, ein Leben außerhalb der Legion gar nicht kennen und es durch systematische Gehirnwäsche sogar verteufeln. Ein Lügenkonstrukt. Ihnen bleibt nichts anderes übrig, als all die Geschichten zu glauben, die ihnen erzählt wurden.

Die Macht einer Sekte, einer eigenen Glaubens- und Wertevorstellung. Isolation. Manipulation und Gewalt - physisch und psychisch. Toxisch.

Ab der Hälfte hat dann das Buch Fahrt aufgenommen. Die jungen Leute wurden mir zunehmend sympathischer. Es hat sich ein Wandel in ihnen vollzogen. Ein Wandel, selbstständig zu denken. Das hat mir sehr gut gefallen und endlich habe ich auch was gefühlt. Mitleid und Mitgefühl. Es hat mich nicht kalt gelassen.

Meins war es nicht ganz. Erst der Schlussteil konnte mich richtig überzeugen. Ich gehe aber davon aus, dass es viele begeisterte Leser für sich gewinnen wird.

Bewertung vom 21.07.2020
Das Gartenzimmer
Schäfer, Andreas

Das Gartenzimmer


ausgezeichnet

"Das Gartenzimmer" erscheint so harmlos, so bunt und blühend. Mein erster Eindruck. Dass ich damit so komplett falsch liege, hätte ich nicht erwartet.

Das von Max Taubert 1909 für die Eheleute Rosen entworfene Landhaus übt auf jeden Menschen, der darin wohnt oder sich näher damit beschäftigt eine ganz besondere Macht aus. Max Taubert verliert sich in der Architektur und verliert dabei Frau und Kinder, Frau Rosen betet das Haus an wie einen Heiligenschrein und Frau Lebekusch ereilt rund 90 Jahre später ein ähnliches Schicksal wie Frau Rosen. Beide Frauen sind auf ihre Art und Weise vernarrt in das Haus. Die Männer bzw. Kinder und Mitmenschen sind die Leidtragenden und ertragen dies fast ohne Widerstand. Beide Frauen richten Veranstaltungen aus, stellen das Landhaus der Öffentlichkeit vor. Präsentieren es in all seinem Glanz. Dass sich hinter all dem Glanz auch viel Dunkles, viel Böses verbergen kann, ist weder den Rosens noch den Lebekuschs bewusst. Es geht nicht nur um diese Familiengeschichten und nicht nur um Architektur, sondern auch um Macht und Politik und Wahn. Ein Haus im Wandel der Zeit. Ein Haus, das beständig aufwühlt. Ein Haus, welches vereint und entzweit. Ein Reissen, ein Hin und Her. Wie Perfektionismus in fast jeder Nische Menschenleben systematisch zerstören kann. Am Ende war ich geschockt und hatte Gänsehaut. Ein stummer Schrei machte sich in mir breit. Figuren entwickelten sich anders als erwartet, nahmen völlig andere Positionen und Rollen ein. Anfangs stabile Persönlichkeiten zeigten ihre labile und zerbrechliche Seite. Ein überraschend gutes Buch, dramatisch, emotional, theatralisch, böse und spannend. Der Autor hat eine herausragende Geschichte geschrieben. Die Sprache entführt sofort in die Szene als Max ein kleiner Junge war. Sprachgewaltig und lebhaft. Auch wenn ich mir weniger von Luis und Ana gewünscht hätte und dafür mehr Lebensgeschichte von Max und allgemein mehr Historisches, kann ich nur meine vollste Leseempfehlung aussprechen.

Bewertung vom 16.07.2020
Writers & Lovers
King, Lily

Writers & Lovers


ausgezeichnet

Als Casey ihre Mutter verliert und Luke sich von ihr abwendet, weiß Casey nicht wie ihr geschieht. Sie beginnt ein neues Leben in Boston. Ihr Traum ist es, ihren Roman fertig zu schreiben und zu veröffentlichen. Sie kellnert, um sich über Wasser zu halten und ihre im Studium angehäuften Schuldenberge nicht wachsen zu lassen.

Ein Buch über die Liebe - erfüllt und unerfüllt, die Liebe zu Menschen und zur Schriftstellerei, zu gutem Essen, zu Genuss und Intensität. Ich werde unweigerlich in einen Sog gezogen. Jedes Wort, jede Beschreibung lässt mich eintauchen in die Geschichte, in das Leben von Casey. Sie wird ein Teil von mir. Es ist so intensiv, ich möchte aufhören - nein nicht jetzt. Später. Ich lese weiter. Ein Buch, von dem ich lerne, ein Buch mit Geschmack und Musik.

Und dann ist da Trauer. Es erdrückt mich. Eine Blase umgibt mich. Wie aus weiter Ferne lausche ich Casey's Worten. Die Wellen umschliessen mich. Ich ertrinke. Ein riesiger Stein legt sich auf meine Brust. Hilflosigkeit.

Wut. Wut auf Menschen, die sie erniedrigen, Menschen, die ihr nichts zutrauen, sie wie Fleisch behandeln. Trockener Humor oder Verbitterung? Abgebrüht. Sarkasmus. Sie hat sich mit ihrem Schicksal vorerst vermeintlich abgefunden.

Der Roman geht unter die Haut und brennt sich ein. Sämtliche Emotionen werden abgerufen. Auch wenn Casey ihr Leben so klar und nüchtern betrachtet, die Abwärtsspirale ist spürbar. Während ihre Freundinnen ein geregeltes Leben führen, festes Gehalt verdienen und heiraten, läuft bei Casey so gar nichts rund - und dann schleichen sich auch noch zwei komplett unterschiedliche Männer in ihr Herz. Ein Buch mit Gewissenskonflikten.

Glück und Freude lassen auf sich warten. Eine spannende, fesselnde, berührende Geschichte mit ungewissem Ende. Writers & Lovers ist eine tiefgehende Story mit Narben. Keine leichte Kost, dennoch auch nicht schwer. Anders schwer. Facettenreich, bunt, von hell bis dunkel. Nuancen.

Beim Lesen wird einem relativ schnell klar, warum die Autorin bereits so viele Preise gewonnen hat. Ich bin begeistert, welche Atmosphären sie geschaffen hat. Ein genialer Kosmos voller Überraschungen und Wendungen. Wie schnell ich mich in Boston befand. Wie schnell ich das Leben einer Kellnerin fühlte. Sehr lesenswert.