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Benutzername: 
MarcoL
Wohnort: 
Füssen

Bewertungen

Insgesamt 147 Bewertungen
Bewertung vom 15.02.2024
153 Formen des Nichtseins
Roschal, Slata

153 Formen des Nichtseins


ausgezeichnet

Heimatfindung, Herkunftssuche, sprachlich interessant aufgearbeitet

Herkunft und Ankunft, verfremdete alte Heimat und zur Gewohnheit gemachte neue Heimat. Es sind zwei Welten, in welchen sich die Ich-Erzäherlin Ksenia Lindau nicht zurecht findet.
Ksenia kam, genauso wie die Autorin selbst, im Kindesalter von Russland nach Deutschland. Hier gelten sie als Russen, dort als Deutsche. Eine eigene Identität zu finden ist schwierig. Zu alle dem kommen noch religiöse Verwirrungen hinzu. Ihre Großvater ist Jude, und übt diesbezüglich einen nicht unerheblichen Einfluss auf das Mädchen aus. Ihre Eltern hingegen bekennen sich als Hardliner der Zeugen Jehovas.
Die Erziehung ist streng, Züchtigungen gehören genauso dazu wie das Entsagen von gewissen Freuden, wie etwa das ein Weihnachtsfest oder gar Geburtstage. All dies macht Ksenia in Deutschland neben ihrer Herkunft nur noch deutlicher zu einer Außenseiterin.
Die Jahre gehen dahin, ihr Leben wird eines Tages eigenständig, aber gewisse Lücken bleiben. Und sie hinterfragt immer wieder all die erzwungenen Schranken und Normen – sie fühlt sich oftmals fehl am Platz, auch wenn sie versucht zu verstehen. Sie erfasst, was sie nicht ist oder nicht sein will, viel mehr als jene Fakten, welche sie im Leben verankern (könn(t)en).
Und so wie das Seelenleben Ksenias nach außen hin ein Durcheinander darstellt, hat die Autorin die Schreibart angepasst. Es sind meist nur kurze Kapitel, titelgebend 153 Stück, in verschiedensten prosaischen Stilen. Kurzprosa, Briefe, Ebay-Suchergebnisse, Mails, Tagebucheinträge, Gedichte oder sogar Gottesdienste dienen als Botschafter einer Suche, welche die Autorin in nicht chronologischer Reihenfolge aufs Papier bannt und somit die Unschlüssigkeit Ksenias an die Leser:Innen weitergibt.
Die Autorin bedient sich der vielen prosaischen Stilmitteln, um ihr Anliegen und ihren inneren Kampf der Leserschaft plastisch darzulegen. Für mich unterscheidet sich dieser Roman somit sehr von den meisten anderen Büchern. Die Zahl 153 besitzt eine sehr tiefe Symbolik, vor allem in der Religion. Die Autorin hat mit ihren Ausführungen, was explizit ihre Berührungen zu Judentum und Zeugen Jehovas anbelangt, mit dieser mystischen Zahl und der Art der erzählerischen Herangehensweise, ein einzigartiges Werk geschaffen.
Für mich ist das ein sehr gelungenes Stilmittel, wenn auch nicht immer leicht zu lesen oder nach zu vollziehen. Dennoch gebe ich hier sehr gerne eine Leseempfehlung für dieses außergewöhnliche Buch.
Der Roman war auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis 2022

Bewertung vom 10.02.2024
Der Aschenmensch von Buchenwald
Ivanji, Ivan

Der Aschenmensch von Buchenwald


ausgezeichnet

Geniale Aufarbeitung gegen das Vergessen

Ein Dachdecker fand 1997 bei Renovierungsarbeiten der Gedenkstätte Buchenwald 701 Urnen, gefüllt mit der Asche von unbekannten Häftlingen des ehemaligen Konzentrationslagers. Nachdem Weimar 1999 Kulturhauptstadt Europas werden sollte, bereitete sich die ganze Umgebung darauf vor, und dieser Fund wirkte befremdlich bei den Verantwortlichen. Die Ratlosigkeit, was damit zu tun sei, war groß. Es wurde schließlich beschlossen, die Asche in einem Gemeinschaftsgrab beizusetzen, unter der Leitung von Würdenträgern von vier großen Religionen
Der Autor, geboren 1929, war selbst Inhaftierter in Buchenwald, und hat aus diesen schrecklichen Erfahrungen einen eindrücklichen Roman erschaffen, der viele der Schrecken der Shoa zur Sprache bringt.
Aus der zusammengeworfenen Asche formte sich ein Wesen, einer ätherischen Wolke gleich, kaum sichtbar für Menschenaugen, dennoch als Beklemmung wahrnehmbar (denn auch die Vögel verstummten), die fortan über dem ehemaligen KZ, und jetzt Gedenkstätte, schwebte. Es entstand der Aschenmensch, mit ihm erwachten alle seine 701 Seelen.
Sie unterhielten sich untereinander, erzählten von ihren Leben. Und vor allem von ihrem Sterben und den Grausamkeiten im KZ. Sie suchten untereinander nach Gemeinsamkeiten, kamen aber sehr rasch zum Schluss, dass dies kaum möglich war. Ihr einziger Nenner sind und waren die Gräuel der Naziherrschaft.
Ivanji blickt zurück, sucht während des Schreibens seinerseits für Erklärungen, und lässt diesen fiktiven Aschemenschen stellvertretend denken und sprechen, und präsentiert der Leserschaft die grausamen Tatsachen. Er macht dies ohne Hass und Verurteilungen, bindet auch die Rolle des Ettersberg und der nahegelegenen Stadt Weimar (samt ihrem Goethe) ein, und schafft somit ein eindrückliches literarisches Mahnmal gegen das Vergessen.
Gerne gebe ich hier eine absolute Leseempfehlung – das Buch kann ich wirklich nur jedem ans Herzen legen. Auch wenn manche Inhalte nichts für empfindliche Mägen sind, das Buch, zum ersten Mal 1999 veröffentlicht und jetzt neu aufgelegt ist, ist aktueller denn je.

Bewertung vom 01.02.2024
Lucy Gayheart
Cather, Willa

Lucy Gayheart


ausgezeichnet

Ein literarisches Kleinod voller Sprachgewalt!

1933 begann die sechzigjährige Schriftstellerin diesen Roman. Von sich selbst behauptete sie damals, kraftlos und müde zu sein. Ihre Protagonistin Lucy Gayheart zeichnete sie dann als lebensfroh und munter. Ein Mädchen, das die Welt erobern möchte mit all seinen Sinnen.
Lucy lebte in Haverford, zusammen mit ihrem Vater, der nur das Beste für sie wollte, und ihrer älteren Schwester Pauline, welche in gewissem Maße die Mutterrolle übernahm.
Lucy war überall beliebt, und besonders war ihr Harry Gordon, Sohn reicher Geschäftsleute, zugetan. Er sah Lucy schon als seine zukünftige Braut.
Lucys Vater förderte ihre musikalische Ausbildung am Flügel. Dazu bekam sie auch die Chance, von der Provinz zu fliehen, um in Chicago "wo die Luft vor ungeahnten Möglichkeiten wie eine Stimmgabel erzitterte" ihrer Ausbildung nachzugehen, und nebenher ein paar Dollar als Musiklehrerin zu verdienen. Ihr Mentor brachte sie mit dem Sänger Sebastian Clement zusammen. Dieser suchte für seine Gesangsproben eine Begleitung am Klavier. Lucy verfällt in ihrem jugendlichen Überschwang dem Sänger. Dieser distanziert sich, denn er ist über fünfzig Jahre alt, könnte ihr Vater sein, und außerdem verheiratet. Chicago sei auch nur eine Zwischenstation während seiner Tournee. Aber er versprach, nach seine Rückkehr aus Europa, sie wieder zu engagieren (und vielleicht noch mehr).
Das klang für Lucy alles wie ein Märchen … und wäre dann nicht noch Harry … und ihr Vater … und ein Unglück … mehr wird nicht verraten.
Man kann allerdings die Tragik darin erahnen, auch wenn die Autorin geschickt mit den Erwartungen/Vermutungen der Leser:Innen spielt. Man lebt und freut sich mit der überschwänglichen Lucy, und man lässt genau wie sie den Kopf voller Traurigkeit hängen.
Die Sprache ist brillant, die Geschichte in wunderschöne Sätze verpackt, und das Buch ist ein wirkliches Kleinod der Literaturgeschichte. Nicht zuletzt erhebt sich die Sprachgestaltung auf dieses sehr hohe Niveau durch die wunderbare Übersetzung. Die klassische Musik spielte im Buch eine wichtige Rolle.
Dieser wunderbare Roman, das Buch herrlich in Optik und Haptik vom Verlag gestaltet, ist eine sehr lohnende Wiederentdeckung der Autorin. Ein sehr informatives Nachwort von Alexa Hennig von Lange rundet das Werk perfekt ab.
Sehr gerne gebe ich eine absolute Leseempfehlung für diesen Klassiker der amerikanischen Literatur.

Bewertung vom 15.01.2024
Lichtungen
Wolff, Iris

Lichtungen


ausgezeichnet

Sprachmagie vom Feinsten

Lange erwartet, heiß ersehnt, die Erwartungen hoch … und wurden erfüllt. Voll und ganz. Iris Wolff übt auf ihre Leserschaft eine ganz besondere Sprachmagie aus. Sie schafft es mit ruhigen Worten ihre beschriebene Welt derart darzustellen, als wäre man mitten drin. Ihre Protagonist:innen erwachen zum Leben, man begleitet sie, als wären es reale Personen, welchen man auf Schritt und Tritt folgt.
Auch die Chronologie der Erzählung ist hier sehr besonders. Sie beginnt in der Gegenwart und tastet sich mit jedem der neun Kapitel in die Vergangenheit. Die Kapitel selbst beginnen mit einem ausgewählten Zitat in der Originalsprache (mit Übersetzung im Anhang).
Lev und Kato kennen sich von Kindheit an. Es entwickelt sich eine innige Freundschaft, zuerst wider ihrer beider Willen, die die Jahre und spätere geographische Trennung überdauert.
Die Handlungen spielen hauptsächlich in Rumänien, im Banat und in Siebenbürgen, statt. Land und Leute sind geprägt von dem Regime, erdulden und erleiden es bis zu dessen Ende. Sie bleiben das, was sie sind, sprechen Deutsch in ihrer ausländischen Heimat. Der Wunsch, der Diktatur zu entfliehen in den gelobten Westen ist omnipräsent. Aber wehe die Mauern fallen, dann scheint sich eine andere Art von Ohnmacht einzuschleichen.
Mit viel Feingefühl zeichnet Wolff ihre Figuren, ihre Rituale und Lebensumstände. Der Fall des Regimes in Rumänien verändert vieles, auch die Beziehung zu Lev und Kato. Während Levs Großvater die Flucht nach Wien schon früher gelang (und sich als Vielvölkermischling sieht), nutzte Kato erst nach dem Öffnen der Grenzen die Möglichkeit, um „zu verschwinden“. Mit dem Fahrradtouristen Tom machte sie sich auf und davon. Sehr zum Leidwesen von Lev. Dieser verharrte an Ort und Stelle, verfiel in eine Art nostalgische Melancholie. Erst eine Aufforderung von Kato, sie in Zürich zu besuchen, löste ihn von seiner Ortsverbundenheit.
Viel mehr kann und will ich über den Inhalt nicht verraten, jedes erwähnte Detail wäre zu viel. Also selber lesen, denn es lohnt sich allemal. Ganz große #Leseempfehlung für diesen wirklich sehr gelungenen Roman. Sprachpoesie vom Feinsten.

Bewertung vom 22.12.2023
Die Partie seines Lebens
Tevis, Walter

Die Partie seines Lebens


ausgezeichnet

Ein Pool-Spieler auf dem Weg zum Sieg. Ein Pageturner!

Nachdem ich den Roman „Das Damen-Gambit“ des Autors mit viel Freude gelesen hatte, waren die Erwartungen an diesen Roman natürlich sehr hoch. Und was soll ich sagen, sie wurden erfüllt.
Erneut beschreibt Tevis den Weg eines äußerst talentierten Menschen durch Täler und über Hügel auf den Weg zum Gipfel.
„Fast“ Eddie Felson war ein Pool-Hai. Er tingelte mit seinem Partner Charles durch das Land, und zockte in kleinen Billardhallen die Spieler ab. Was immer als harmlose Partie begann, beide gaben sich schlechter als sie waren, endete in einem Spiel um Geld mit einem wahllosen Billardspieler, der glaubte, Eddie gewachsen zu sein.
Fast Eddie machte sich einen gewissen Namen damit. Er beschloss, nach Chicago zu gehen um auf den legendären Spieler Minnesota Fats zu treffen. Er war fest gewillt, ihn zu schlagen. Doch sein Gegner war stark, und Eddie verlor all sein Geld.
Aber er gab nicht auf. Mittellos, wie er war, verließ er seinen Partner Charlie, blieb in Chicago und versuchte es auf eigene Faust. Für kurze Zeit kam er bei der Zufallsbekanntschaft Sarah unter, einer Alkoholikerin. Beide schienen sich einander zu brauchen.
Sein größtes Glück auf seinem Weg zurück war die Begegnung mit dem Geschäftsmann Bert. Dieser war mit allen Wassern gewaschen, und natürlich auch nur auf den eigenen Vorteil bedacht. Aber er hatte das nötige Kapital, und sah seinerseits eine gute Geldquelle in Fast Eddie.
Mehr wird nicht verraten, denn ob Eddie zu seinem Ziel (und Geld) kam oder nicht, … selber lesen (Spoiler: Verfilmung von 1961 „Die Haie der Großstadt“ mit Paul Newman).
Die Sprache ist (für mein Empfinden typisch Amerikanisch) direkt, schnörkellos und sehr schnell. Man kommt kaum mit dem Blättern nach. Die Szenen sind authentisch, man fühlt die Stöße der Billardkugeln, riecht die verqualmten Spielhallen, und glaubt, den in Strömen konsumierten Whiskey zu schmecken. Der Roman ist ein Pageturner mit hohem literarischen Wert. Man muss nicht unbedingt ein Freund des Billardspiels zu sein, um dieses Buch zu mögen. Absolute Leseempfehlung!

Bewertung vom 19.12.2023
Sich lichtende Nebel
Haller, Christian

Sich lichtende Nebel


ausgezeichnet

Geniale Erzählung über Werner Heisenberg und die Erfindung der Quantenphysik

Kopenhagen 1925. Ermüdet vom Tag setzt sich der Beobacher (Werner Heisenberg) am Abend auf eine Parkbank. Er sieht einem Mann zu, der in den Schein einer Laterne eintaucht, den Lichtkegel passiert und dann von der Dunkelheit verschluckt wird. Das Spiel wiederholt sich, und regt einen folgenschweren Denkprozess im Beobachter an. Die Berechnungen und Diskussionen mit dem Professor (Nils Bohr) führten immer ins Leere. Mathematisch konnte bislang kein Beweis dafür erbracht werden, was Experimente zu Tage förderten.
Der Mann im Lichtkegel ist Helstedt, 69, ein emeritierter Professor, ebenfalls müde und leicht erzürnt von seinem Abend bei Sörensen. Zuviel Wein und die manchmal ungute Art des Gastgebers machen die Abende immer seltener zu einem Vergnügen.
Beide Herren gehen ihre Wege. Helstedt versucht sein Leben zu meistern. Der Universität den Rücken gekehrt, denkt er oft an seine verstorbene Frau. Einsamkeit und Trauer bestimmen oft seinen Alltag, für Neues ist wenig Platz. Gedankengespinste suchen ihn heim, er kann diese Visionen aber schwer mit Worten binden. Weder die „Zufallsbekanntschaft“ Linn, noch Sörensen, kann er überzeugen, zeigten doch seine Gedankensplitter ein wesentliches Merkmal des damals noch unbekannten Welle-Teilchen-Dualismus. Aber er kann damit nichts anfangen.
Der Beobachter währenddessen flieht vor seinem Heuschnupfen nach Helgoland. Nach ein paar Tagen geht es ihm besser, sein Gedankenapparat nimmt erneut Fahrt auf, und die Erinnerung an den Mann im Lichtkegel beflügelt ihn zu neuen mathematischen Heldentaten. Er muss alte Gedankenstrukturen abwerfen, um Neues zuzulassen. Nur so gelingt es ihm letztendlich eine neue Ära in der Wissenschaft einzuläuten. Es ist die Geburt der Quantenphysik.
Beide Männer wissen nichts von einander. Ein geschickter Zug des Erzählers, der kapitelweise von den Erlebnissen der Beiden berichtet. Welle, Teilchen, umgekehrt. Altes versus Neuem.
Mit einer sprachlichen Leichtfüßigkeit schafft es Haller, die komplexen Gedankengänge darzustellen, geradlinig und präzise. Dabei bleibt die ganze Novelle das, was sie ist. Eine literarische Erzählform, ohne nur im Ansatz den Anspruch auf einen wissenschaftlichen Text besitzen zu wollen. Das Wort „Unterhaltung“ würde zwar das Werk herabsetzen, aber ich fühlte mich dabei wirklich gut unterhalten, wurde in Wellen von Kapitel zu Kapitel gespült, um letztendlich in Teilen den Blick auf das Ganze werfen zu können.
Mit dieser großen Erzählkunst gewann der Autor den Schweizer Buchpreis 2023. Gerne gebe ich eine Leseempfehlung ab.

Bewertung vom 05.12.2023
Miss Peregrines Museum der Wunder. Aus der Welt der besonderen Kinder
Riggs, Ransom

Miss Peregrines Museum der Wunder. Aus der Welt der besonderen Kinder


ausgezeichnet

Ein phantastischer Ratgeber über die Welt der „Besonderen Kinder“

Aus der Welt der besonderen Kinder: Ein unentbehrlicher Leitfaden zu den Gefahren und Freuden der Besonderenwelt für die Unterweisung von Neuankömmlingen

Dieses wunderbar gestaltete Buch ist ein Muss für alle Fans der Reihe der „Besonderen Kinder“. Keine Geringere als Miss Peregrine selbst hat dieses umfassende Werk verfasst. Es führt tief in die Geheimnisse dieser phantastischen Welt hinein und bietet umfassendes Wissen über wichtige, noch wichtigere, oder vielleicht nicht ganz so wichtige Dinge.
Das Buch ist herrlich gestaltet, mit vielen Fotografien und Skizzen – ein wahrer Schatz an Informationen. Man kann durchaus „Sachbuch“ dazu sagen, denn neue Geschichten (bis auf ein paar wenige, sehr kleine Prosastücke) sucht man vergeblich.
Über den Inhalt ist ob der sehr zahlreichen Themen schwer etwas zu schreiben. Erwähnenswert ist auf jeden Fall das Mysterium der Zeitschleifen. Vor allem bei den Zugangswegen muss der gewillte Reisende über ein fundiertes Wissen verfügen, denn diese Wege können auch gefährlich sein.
Miss Peregrine versucht sich auch in einer Klassifizierung der Besonderen-Fähigkeiten, wobei dies natürlich nur ein grober Abriss sein kann, eher eine Art Kompendium als ein umfassendes Gesamtwerk. Das würde den Rahmen des Buches bei weitem sprengen.
Ein weiteres Kapitel widmet sich den Ymbrynen. Das sind Frauen, welche eine Vogelgestalt annehmen können. Miss Peregrine schreibt sehr gerne darüber, ist sie selbst doch eine, und sehr stolz darauf.
Verhaltensweisen, wie man sich in der Gegenwart verhält inklusive lehrreicher Rollenspiele dürfen da natürlich auch nicht fehlen, genauso wie eine Liste der Feinde der Besonderen.
Dieses und noch vieles mehr, zu zahlreich, um über alles hier zu berichten, beinhaltet dieses ausführliche Werk. Man bekommt eine gute Übersicht über das Universum von Ransom Riggs, und sollte man bei der Lektüre seiner Romane mal ins Stolpern kommen, kann man hier dank des großzügigen Indexes schnell mal nachschauen.
#Leseempfehlung für alle Freunde der „Besonderen Kinder“, sehr gut übersetzt von Silvia Kinkel.

Bewertung vom 30.11.2023
Land der vielen Wahrheiten
Seierstad, Åsne

Land der vielen Wahrheiten


ausgezeichnet

Drei Schicksale aus Afghanistan, dazu eindrückliche Beschreibungen des Landes.

Ein Land, drei Schicksale. Die Autorin erzählt in diesem sehr bewegenden Roman über das Leben von drei Menschen in Afghanistan.
Jamila, geboren 1976, als Kleinkind an Kinderlähmung erkrankt, blieb in ihrer Familie das unliebsame Anhängsel. Sie hatte mit ihrer Krankheit schon als Kind keinen wert mehr. So konnte sie niemandem für die Heirat versprochen werden. Denn es ist und war üblich, Kinder schon im Säuglingsalter zu vergeben. Als Kind kämpfte Jamila gegen ihre Krankheit an. Halbseitig gelähmt lernte sie selbst eines Tages mit Krücken zu gehen. Sie erbettelte von ihrem Vater den Zugang zu Bildung, jedes Jahr aufs Neue. Letztendlich wurde ihre Hartnäckigkeit belohnt, sie schaffte einen Abschluss, und wurde sogar kurzzeitig Ministerin in der Ghani-Regierung. Doch der Kampf war immens. Sie musste sich tagtäglich gegen das Patriarchat stemmen. Ihre schlimmsten Gegner waren ihre Brüder und Cousins, denn ihr Verhalten bringe nur Schande über die Familie.
S.11: Bildung war gefährlich. Sie würde nur ihren Wert auf dem Heiratsmarkt vermindern, und darum ging es schließlich bei Töchtern – um den Marktwert.“
Baschir war 12, als er erstmals von zu Hause ausbüxte und Krieger werden wollte. Und das wurde er dann auch unter den Taliban, hatte viel Einfluss und war stets auf den Kampf gegen die Ungläubigen fixiert. Das geschah alles unter dem fanatischen Deckmantel der Religion. Die Autorin beschreibt sein Leben sehr detailreich, mit seiner Rolle in der Familie, mit vielen seiner Stationen in den Camps und bei den Angriffen.
Ariana wuchs in der Zeit zwischen den Talibanherrschaften in Kabul auf. Das Leben war moderat, den Mädchen und jungen Frauen stand der Weg zur Bildung wieder offen. Das Leben in der Stadt war von westlichen Einflüssen geprägt. Zumindest solange, bis die Amerikaner abzogen und das Land den Taliban überließen. Danach änderte sich das Leben, vor allem für die Frauen, schlagartig. Ariana war nur mehr ein Semester vor ihrem Jura-Abschluss entfernt, als ihr der Zugang zur Universität von der neuen Taliban-Regierung verwehrt wurde.
Rund um diese drei Einzelschicksale, welche stellvertretend für die Bevölkerung des Landes sprechen, baut die Autorin einen kompletten Geschichts- und Ethikunterricht über Afghanistan auf. Das Land funktioniert aus den Familien und Clans heraus. Es sind diese patriarchalischen Strukturen, die das Land regeln und beherrschen. Seierstad versteht es sehr gut, die Landesgeschichte in ihren Roman einzubauen. Auch die Rolle der al-Qaida unter BinLaden kommt nicht zu kurz. Es wächst während der Lektüre allmählich ein Verständnis, wie es im Land läuft, und auch warum. Im Prinzip ist sich jeder selbst der Nächste. Korruption und Denunzierungen sind an der Tagesordnung. Es geht den Männern und Familienoberhäuptern nur darum, für sich selbst den größtmöglichen Vorteil zu erschaffen. Wer gestern noch Verbündeter war, konnte heute schon ein Todfeind sein, wenn es zum eigenen Vorteil gereicht. Und so funktionierte auch die Ghani-Regierung von 2014-2021. Der Westen pumpte Milliarden von Dollars in das Land. Beim Volk kam es nie an. Es verschwand in den Kanälen der Korruption, die bis in die oberste Regierungsebene reichte.
„Solange wir die afghanische Familie nicht verstehen, können wir Afghanistan nicht verstehen.“ ÅSNE SEIERSTAD
Das Buch ist sehr vielschichtig, äußerst informativ, und erweckte mir beim Lesen beinahe schon ein Dauerkopfschütteln ob all der Ungerechtigkeiten. Und trotz des Inhaltes war es leicht und flüssig zu lesen. Es ist eine ganz große Erzählkunst, diesen sehr umfassenden Inhalt derart leicht in Worte zu fassen. Ganz große Leseempfehlung , und für mich ein ganz wichtiges Buch für das Verständnis des Landes.

Bewertung vom 25.11.2023
Der Weg der Wünsche
Rothfuss, Patrick

Der Weg der Wünsche


ausgezeichnet

Fantasy vom Feinsten, eingepackt in eine Sprache voller Anmut und Magie

Patrick Rothfuss is back! Mit einer wunderbaren Novelle aus seiner Königsmördertrilogie (deren Abschlussband sehnsüchtigst erwartet wird). In wunderbaren Sätzen voller Anmut und Poesie erzählt uns der Meister der Fantasy von einem Tag im Leben des Fae Bast.
Dieser arbeitete abends in der Wirtschaft seines Herren Kvote. Aber tagsüber streifte er draußen herum, hatte seine eigenen magischen Plätze, an welchen er sich wohlfühlte.
Und er liebte Tauschgeschäfte. Das hatte sich natürlich längst herumgesprochen, und so kamen immer wieder Personen zu ihm, meist Kinder, die einen Rat von ihm benötigten. Aber ist gab nichts ohne Gegenleistung. Manchmal wurde es ziemlich knifflig, Bast schien sich manchmal in ziemliche Schwierigkeiten hinein zu manövrieren. Mit viel Geschick und Anmut schwindelte er sich wieder aus diesen kleinen Fallen. Denn die Fragesteller, die zu ihm kamen, konnten ebenfalls sehr listig sein.
Es war ein Spaß, ihn den ganzen Tag zu begleiten, von seinen Ritualen am Blitzbaum, oder an einem versteckten Weiher. Die ihm anvertrauten Geheimnisse wusste er gut zu seinem Vorteil auszunützen. Oder er benützte sie, um manche Dinge ins rechte Licht zu rücken und um zu helfen.
Der Junge Rike hatte es ihm angetan, denn dieser kam mit einem sehr besonderen Anliegen zu Bast. Dieses Problem zu lösen erforderte einiges an Scharfsinn und Energie, und der Lohn, den Bast dafür verlangte, war nichts anderes als die komplette Unterwerfung Rikes.
Doch Basts Herz war groß und leitete ihm oft andere Wege, als er sie eigentlich beschreiten wollte. Die Lösung war genial wie anrührend …
Und bevor ich jetzt zu viel verrate und noch mehr ins Schwärmen komme: Lest das Buch! Es ist so wunderbar geschrieben, voller Sanftmut und Melodie. Von den ersten Zeilen an schwebt man mit in dieser Welt, hört das Gras unter den Füssen rascheln, den Bach plätschern, die Bienen summen oder den Wind durch das Blätterwerk rauschen.
Rothfuss besitzt eine eigene Magie des Schreibens, welche einen sofort verzaubert und mitnimmt. Dieses Buch ist Fantasy vom Allerfeinsten. Und ich bin mir sicher, seine Zeilen verzaubern nicht nur Fantasy-Fans. Absolute Leseempfehlung für diese Kostbarkeit in Buchform.
Ein Riesenlob gehört natürlich auch dem Übersetzer Jochen Schwarzer, der das schier Unmögliche möglich gemacht hatte und die wunderbaren Worte des Autors für uns übersetzte, sodass wir mitfliegen können durch diese Welten.

Bewertung vom 22.11.2023
NACHT
Sigurdardóttir, Yrsa

NACHT


ausgezeichnet

Nordisch düster. Spannend bis zum Abwinken.

Das Setting ist perfekt für einen Thriller. Ein abgelegener Fjord in Island, das Wetter schmuddelig bis stürmisch. Eine Familie, welche sich einen Bauernhof zu einem modernen Domizil umfunktioniert hatte, gab seit einer guten Woche kein Lebenszeichen von sich. An und für sich war das dort nicht besonders ungewöhnlich. Der Nachbar schaute dann doch vorbei und entdeckte ein grausames Blutbad.
Ein Ermittlerteam wurde abgestellt, darunter auch Karo und Tyr, welche zur Unterstützung aus der Hauptstadt angereist waren. Sie hatten zwar nicht die Befugnis, den Fall im Alleingang zu lösen, sondern mussten sich jeden Schritt von ihren Vorgesetzten absegnen lassen, aber sie kamen langsam hinter gewisse Geheimnisse, zögerlich …
In Rückblenden erzählt die Autorin vom Leben der Familie, und was in den Tagen vor der Tat geschah. Hauptprotagonistin ist die Hausangestellte Soldis. Sie kümmerte sich ums Essen und vor allem um das Wohl und den Unterricht der beiden Mädchen (15 und 8). Wohl war ihr auf dem Anwesen nie so richtig. Ein unbestimmtes Grauen baute sich auf. Kleine Dinge, unbedeutend könnte man meinen, passierten. Dinge verschwanden, tauchten wieder auf. Undefinierbare Geräusche, Schritte, und dazu das oft sehr eigenartige Verhalten der Hausherren. Die Frau, Asa, war sehr resolut, schien alles im Griff zu haben. Ihr Mann Reynir litt an den Folgen eines Gehirntumors, und war nach dem Massaker zugleich der einzige … und einen massiven Streit mit einem Nachbar gab es auch ... und wo war eigentlich Soldis Vorgänger … und …
Das sind alles wunderbare Zutaten für einen meisterhaften Thriller, nordisch düster bis zur Perfektion.
Was mich ein klein wenig gestört hatte, war, dass keine einzige der handelnden Personen für mich so richtig authentisch rüberkam. Besonders beim Polizisten Tyr hatte ich so meine Zweifel. Denn seine Vergangenheit, die er während der Ermittlungen in Erfahrung brachte, machte für mich den Roman ein wenig holprig – und ich denke: vielleicht etwas zu viel des Guten.
Trotzdem: gerne gebe ich eine Leseempfehlung, den Spannung kann die Autorin.