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Benutzername: 
MarcoL
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Füssen

Bewertungen

Insgesamt 181 Bewertungen
Bewertung vom 16.06.2024
Die Tage des Wals
O'Connor, Elizabeth

Die Tage des Wals


ausgezeichnet

Bildhafter Roman über das karge Leben auf einer Insel. Große Leseempfehlung!

Das Leben auf der Insel vor der walisischen Küste ist hart und entbehrungsreich. Wenige Familien leben dort. Es sind fast ausschließlich Fischer, die der rauen See mühsam ihr täglich Brot abringen. Keiner kann Schwimmen, nur so behält man den Respekt vor dem tosenden Meer. Selten kommt ein Versorgungsschiff vorbei, meistens müssen die Männer und Frauen selbst ans Festland rudern, um ihre Fänge zu verkaufen.
Die achtzehnjährige Manod lebt auf dieser (fiktiven) Insel, vom Alltag geprägt, der Tod lauert immer in der Nähe. Sie bewohnt mit ihrem Vater und ihrer jüngeren Schwester ein kleines Häuschen. Sie träumt von einem guten Leben am Festland, doch vorerst muss sie sich um ihre Schwester kümmern. Ihre Sehnsüchte und Begehren, das Reifen der Frau in ihr muss warten.
Die jungen Männer, keine zwanzig Jahre alt, zieht es einem nach dem anderen fort. Es ist 1938/1939 – der Krieg steht vor der Tür, und manche melden sich freiwillig.
In dieser Zeit wird ein Wal an die Küste vor dem Dorf gespült. Zuerst versuchen die Anwohner noch, das Tier zu retten und ins Meer zu ziehen. Doch der Wal schafft es nicht mehr, verendet am Strand und beginnt zu verwesen – eine schleichende Zersetzung – symbolhaft für das Leben auf der Insel.
Fast zeitgleich erscheint ein Forscherpaar auf der Insel. Sie machen Erkundungen über das Leben der Einheimischen. Alles soll festgehalten, dokumentiert, archiviert werden. Studien am lebenden Organismus namens Mensch. Gesänge und Stimmen werden aufgezeichnet, Manods Stickereien (hochgelobt) einkassiert.
Da Manod halbwegs gut Englisch spricht, und die beiden Forscher, Edward und Joan, kein Wort walisisch verstehen, wird sie als Gehilfin und Übersetzerin eingestellt. Der Lohn sind ein paar Münzen. Es entwickelt sich eine Art Dreiergespann – locker, unzusammenhängend. Die Forschungen gehen weiter, während Kriegsgeschrei und Faschisten (auch dort, wo man sie nicht vermutet) lauter werden.
Die Autorin erzählt ungeschönte Bilder von einer kargen, sterbenden Welt. Von der Einsamkeit, die Fluch und Segen sein kann.
Die Kapitel sind kurz, haben manchmal den Charakter eines Berichtes, um dann wieder in eine dichte Prosa zu wechseln. Es ist ein gekonnter Mix, komplett ohne Pathos, mit drüben Farben und wenig Lichtblicken. Der Sprachstil ist geschickt gewählt, um die Kargheit des Insellebens auf die Leserschaft zu projizieren. Im Nachwort klärt uns die Autorin über einige Inseln auf, welche sie stellvertretend in ihrem fiktiven Eiland zusammengefasst hat.
O'Conner schafft es perfekt, die Stimmung, das raue Klima, die Farben des Meeres, und vor allem das Leben der Menschen einzufangen. Man glaubt nach dem Buch wirklich, lange auf der Insel gewesen zu sein, spürt die Kälte und den drohenden Untergang am eigenen Leib.
Ganz große Leseempfehlung für diesen herausragenden Roman. Großes Lob auch an die Übersetzerin Astrid Finke.

Bewertung vom 13.06.2024
Die allerletzte Kaiserin
Diwiak, Irene

Die allerletzte Kaiserin


ausgezeichnet

Ein raffinierter Mix aus historischen Fakten und Fiktion, mit viel Charme verpackt.

Was für ein toller Ritt durch die letzten einhundert Jahre doch dieses Buch ist. Amüsant, skurril, voller Charme. Und auf das Genaueste recherchiert!

Claudia Hendl strotzt nicht gerade vor Selbstbewusstsein. Ihr Äußeres findet sie unattraktiv, ihrem Intellekt traut sie auch nicht viel zu, was sie ihrer Deutschlehrerin von damals zuschreibt. Denn immer diese Aufsätze nach dem Ferienende … Sie jobt im Wirtshaus ihrer Eltern, das seit dem siebzehnten Jahrhundert von Mutter zu Mutter weitergegeben wurde, also wird wahrscheinlich auch Claudia in diesen Genuss kommen, denkt sie sich.
Ihr ganzes Leben ändert sich, als plötzlich eine alte Dame in der Wirtschaft auftaucht. Johanna Fialla. Sie trinkt und isst jeden Tag das selbe, und vom ersten Tag an lässt sie sich immer an den gleichen Tisch „geleiten“. Mantel und Hut müssen ihr abgenommen werden, denn die Dame, die sich ziemlich herrschaftlich gibt, ist niemand anderes als die Enkelin von Kornprinz Rudolf - der sei nämlich damals in Mayerling gar nicht gestorben, alles nur fingiert. Sie ist somit die Urenkelin der Kaiserin Elisabeth und des Kaisers Franz Joseph.
Johanna erzählt nun Claudia ihre komplette Lebensgeschichte. Die Worte werden am Smartphone aufgezeichnet, Claudia tippt sie ab, die Chance, diese Geschichte als Buch zu veröffentlichen, ist riesengroß. Auch ihre ehemalige Schulfreundin, die in einem Verlag arbeitet, wittert eine Sensation. Also wird erzählt und getippt und gesprochen. Vom Hofe, über viele historische Personen, aber vor allem von Frau Fiallas Leben, das sich 90 Jahre lang über die Zeitgeschichte spannt und tiefe Einblicke in die Gesellschaft dieser Zeit gibt. Auch berichtet sie viel Privates. Vor allem mit der Wahl ihrer Männer hatte sich nicht immer so ein gutes Händchen. Diese waren allesamt … naja … Männer eben, wie sie halt so sein können und nicht wie sie sein soll(t)en.
Claudia zweifelt natürlich an den Ausführungen, doch es bedarf nur einiger Clicks im Internet, um all die erzählten Details bestätigt zu bekommen. Also was steckt wirklich dahinter?
Ist Frau Fialla einfach nur eine alte, resolute Dame, die das Leben gezeichnet, teilweise verbittert hat, und nur ein wenig Fantasie das triste Leben lebenswerter macht? Was machen Hoffnungen und Wünsche mit Menschen? Können die gebauten Luftschlösser einmal der langersehnte Palast werden?
Mit viel Charme, österreichisch geprägten Ausdrücken und Wortspielen überzeugt Diwiak mit diesem herrlich konstruierten Roman voller historischer Begebenheiten und fiktionalen Freiheiten. So wie Frau Fialla alles erzählt hätte es durchaus sein können. Warum auch nicht, und wer weiß? Obwohl die Autorin am Ende schon zugibt, die künstlerische Freiheit ziemlich ausgelebt zu haben.
Der Roman beinhaltet eine spannende Adaption der Tragödie von Mayerling. Verschwörungstheorien gibt es derer viele. Diese hier klingt, wenn es denn eine wäre, plausibel.
Sehr gerne gebe ich eine ganz große Leseempfehlung für diesen raffinierten Mix aus historischen Fakten und Fiktion.

Bewertung vom 11.06.2024
Seltsame Sally Diamond
Nugent, Liz

Seltsame Sally Diamond


ausgezeichnet

Spannung pur! Ein Thriller der literarischen Extraklasse!

Sally wächst behütet, beinahe versteckt am Rande einer irischen Ortschaft auf. Ihre Eltern schützten, verstecken sie beinahe, denn bis zum Alter von sechs Jahren war Sallys Leben eine Katastrophe von ungeheuerlichem Ausmaß. Ihr Vater Tom, Psychologe, verbarg sie mehr oder weniger vor der Gesellschaft, war selbst ein wenig weltfremd, während seine Frau es lieber gehabt hätte, wenn Sally ihr großes musikalisches Talent auf einem College erweitert hätte. Als ihre Mutter starb blieben nur mehr Tom und die Ärztin Angela ihre einzigen Bezugspunkte zur Welt. Ihr Vater hatte immer beteuert, wenn er sterbe, so soll Sally seinen Körper einfach wie Müll entsorgen. Sie nahm das dann wörtlich und versuchte den toten Körper in der Feuertonne zu verbrennen. Damit nahm alles weitere seinen Verlauf. Sallys Leben und Vergangenheit, an die sie selbst keinerlei Erinnerung hatte, geriet erneut in die Schlagzeilen und den Fokus der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit.
Sie war 42 Jahre alt, als dies passierte – und nun musste sie das Leben neu erlernen. Sie selbst beschrieb sich als „sozial defizitär“, hasste Menschen, ließ sich nicht gerne anfassen, hatte ein Wut-Problem, riss sich in Stresssituation die Haare aus. Kurzum: Sally war zu tiefst traumatisiert.
Woher das kam: das kann hier natürlich nicht verraten werden. Auch alle weiteren Inhaltsangaben wären nur gespoilert, trotz der sehr komplexen und vielschichtigen Geschichte.
Die Autorin baut hier einen Plot auf, der spannender wohl kaum sein kann. Im Mittelpunkt natürlich die „neue“ Sally, die ihre Vergangenheit weder in Ruhe lässt noch von ihr loskommt.
Der Storyaufbau ist brillant inszeniert, über Briefe ihres „
Dad erfährt die Leserschaft sehr bald, was Sache ist und war, aber der ganz Ballon an Handlung geht weit darüber hinaus.
Das ist Spannungsliteratur der Extraklasse. Ganz große Leseempfehlung für diesen ausnehmend guten Thriller.

Bewertung vom 08.06.2024
Die erste Attacke
Pretterhofer, Jakob

Die erste Attacke


ausgezeichnet

Herrlich konstruierter Roman über familiären Kontrollwahnsinn mit perfekter Situationskomik

Drei Familien verbringen ihren gemeinsamen Urlaub in den Bergen. Eine Selbstversorgerhütte in den Bergen soll den sechs Erwachsenen und fünf Kindern als Feriendomizil dienen. Punkt zehn Uhr war ausgemacht. Die Bründlmayers waren dann doch schon früher da, Karrieremenschen eben, haben auch alles organisiert, dann nehmen sie es sich eben heraus, das beste Zimmer für sich auszusuchen.
Erwin, der Ich-Erzähler dieser Geschichte, war mit Frau Judith und seinen beiden Kindern pünktlich. Sie nahmen sich das kleinste Zimmer um den unpünktlich eintreffenden Riedls nicht irgendwie vor den Kopf zu stoßen. Die Kinder wurden ja eh allesamt ins Matratzenlager unter dem Dach verfrachtet.
Erwin suchte sich die Familien für den gemeinsamen Urlaub sorgfältig aus, denn nichts war ihm wichtiger als eine solide Erziehung seiner Sprösslinge Klara und Elias. Vor allem die Schlafgewohnheiten und rigorose Einschlafrituale waren ihm wichtig, und die Bründlmayers und Riedls tickten da ähnlich.
Nebenbei waren die Kinder der drei Familien allesamt perfekt instruiert und programmiert, was bei so manchen Gefahrensituationen zu tun sei. So gab es überraschende Feueralarme – die Kinder reagierten nach Bilderbuch. Allesamt. Auch eine vorgetäuschte Autopanne mit brennendem Motor wurde von Klara und Elias mit Bravour gemeistert. Erwin war eben ein Macher, hatte alles fest im Griff. Außer vielleicht sich selber nicht so ganz, schlürfte gerne mal ein Bierchen zuviel, und was unter anderen Röcken sein mag, interessierte ihn auch, aber fremdgehen würde er natürlich niemals.
Was er allerdings gar nicht unter Kontrolle hatte, waren die Alpträume seiner Tochter Klara. Die raubten der Familie für lange Zeit den Schlaf. Die anderen wussten natürlich von dieser Krise, und so wurde dann schon mal etwas schief in Richtung von Erwins Familie geschielt.
Als aber dann just ab der ersten Urlaubsnacht regelmäßig Konstantin Riedl mit angsterfülltem Geschrei aus einem Alptraum aufwachte und alle Personen zusammentrommelt, war es mit der gut ausgedachten und erhofften Idylle vorbei.
Konstantin war nebenbei noch ziemlich schüchtern, versteckte sich lieber hinter Mamas Rockzipfel.
Doch nach der ersten Alptraumnacht änderte sich einiges. Die Kinder schweißten sich zusammen, lösten sich aus den streng getakteten Urlaubstagen und hinterließen ihre Eltern zunehmend ratlos. Die Erwachsenen drifteten auseinander ...
Mit viel Humor und Situationskomik zeichnet Pretterhofer ein klares Bild von Eltern, denen sehr viel an Perfektionismus in der Kindererziehung liegt. Kein Wunder, dass Alpträume daherkommen, könnte man meinen. Im Laufe der Geschichte erfahren wir etwas über die Träume der Kinder (wird jetzt natürlich nicht verraten). Manchmal erweckt es den Eindruck, als wären die Kinder fremdgesteuert, weil sie geschlossene Einigkeit demonstrieren.
Die Situationen, und auch die Ich-Erzählungen von Erwin, regen beim Leser starke Bilder an. Die Figuren bewegen sich, werden plastisch.
Es bleiben beim (und auch nach) dem Lesen starke Eindrücke hängen. Der Roman von Jakob Pretterhofer ist für mich eine gekonnte Persiflage auf das Getue und Gezeter auf den Perfektionismus-Wahnsinns, dem wohl so manche Familien verfallen. Das man Kinder einfach Kinder sein lassen kann und soll, entzieht sich wohl so manchem Alpha-Elterchen. Der Kontrollverlust über ihre Schützlinge lässt sie die Kontrolle über sich selbst verlieren. Oder ganz modern ausgedrückt: man stelle sich vor, ein Programmierer verliert die Kontrolle über seine geschaffene KI.
Gerne gebe ich eine sehr große Leseempfehlung für diesen besonderen Roman, der noch lange nachhallen wird und ganz gewiss einen besonderen Platz in meiner persönlichen literarischen Hall-of-Fame bekommt.

Bewertung vom 05.06.2024
Findet mich
Wirth, Doris

Findet mich


ausgezeichnet

Brillant inszenierte Familiengeschichte. Und wie sich Psychosen auswirken können.

Es hätte schön sein können für den Rest ihres Lebens. Harmonisch, erfolgreich, gut situiert. Theoretisch. Doch das Leben spielt auf seiner unendlichen Klaviatur so manche Misstöne, die das Lied vom Dolce Vita in gesellschaftlichen Disharmonien verwandelt. Liegt es an den einzelnen Personen? Angeboren? Oder verrückt der Druck der Umwelt die Denkweise von so manchem Zeitgenossen?
Erwin und Maria haben sich gefunden, verliebt, eine Familie gegründet. Sie wohnen im Großraum Zürich, die Kinder Lukas und Florence wachsen behütet auf, stürzen in die Pubertät und bringen damit auch das Familiengefüge ins Wanken. Während Maria stets versucht, den Weg der Liebe zu gehen, wird Erwin immer unbeherrschter. Wutausbrüche seinen Kindern gegenüber sind nur der Anfang. Florence verfällt in die Bulimie und leidet jahrelang daran. Lukas geht und findet andere Wege, beginnt zu kiffen.
Mit Erwins Jobs und Selbständigkeit läuft es nicht mehr gut. Sein Vater war ihm nie ein Halt. Im Gegenteil, was auch Erwin machte, er bekam nie die Anerkennung, die er sich wünschte.
Mit Mitte Fünfzig geht es dann so richtig rapide bergab. Erwin, der ein Freigeist war, bricht aus dem Gefüge aus. Sein Realitätsverlust läuft Amok und lässt ihn in die Natur flüchten, fort von allem. In seinen Hirngespinsten malt er sich die schönsten Situationen aus, wie er in und mit der Natur lebt, keinerlei Zivilisation mehr benötigt. Er verschwindet, hinterlässt ein paar wenige Spuren, denn schließlich ist es ein Spiel. Er möchte, dass er gesucht wird. Er will, dass die, die ihn immer noch lieben, leiden. Doch viel Liebe von seinen Kindern gibt es nicht mehr – die hat er sich mit Geltungs- und Kontrollzwang verscherzt.
Erwin sieht sich als Opfer, was in gewissem Maße stimmen mag. Aber vor allem ist er Täter. Durch seine von je her sehr bestimmende Art hat er Mauern um sich gebaut. Denn er ist es doch, der das Geld nach Hause bringt, mühsam erwirtschaftet. Dann können die anderen doch spuren und nach seiner Pfeife tanzen. Besonders seine Kinder. Überhaupt dann, wenn deren Motivation zur häuslichen Mithilfe wieder mal etwas schwankt.

S.173: „Die Antwort lautet stets: nein. Nein, sie [Anm.: Florence] hat nicht genug getan. Was sie auch macht, wie sie sich auch Mühe gibt: Es reicht nicht. Es ist nicht genug. Nein, sie ist nicht genug.“

Erwin, der sich vieles erlauben darf, auch Seitensprünge, denn das läge einfach in seiner Natur, gewährt anderen kaum einen Millimeter persönliche Freiheit. Es kommt, wie es kommen muss und eskaliert eines Tages.
Sprachgewaltig erzählt Doris Wirth diese Familiengeschichte. Die erzählende Gegenwart ist Erwins „Flucht“. In Rückblenden wird die Familienchronik peu a peu aufgearbeitet. Man bekommt ein sehr deutliches Bild der handelnden Personen, lernt die Familie kennen. Man lebt und leidet mit ihr, spielt alle Facetten des täglichen Lebens mit ihr durch.
Erwins Psychose wächst und wächst, seine verbale Gewalt manifestiert sich auf andere Art. Sein Umfeld hat Angst vor ihm.
S.276: „ ...Florence sieht die Scheinwerfer über ihre Wand kriechen. Jedes Mal schlägt sie die Augen auf und hält still. […] Was, wenn er kommt und sie findet? Sie weiß nicht, wozu er fähig ist im Moment.“
Es stellt sich vermehrt die Frage nach den Ursachen für diese psychische Erkrankung. Gesellschaftlicher Druck? Arbeit? Leistungserwartung? Oder einfach von Haus aus ein paar Synapsen zu locker?
Virtuos leitet uns die Autorin durch diese Fragen, packt sie sehr geschickt in die Familiengeschichte ein und verwebt sie zu einem spannenden, äußerst gut und angenehm zu lesenden Roman. Ganz große Leseempfehlung.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 02.06.2024
Babas Schweigen
Çimen, Özlem

Babas Schweigen


sehr gut

Auf der Suche nach den eigenen Wurzeln, der eigenen kulturellen Identität.

Die Autorin erzählt in drei Erzählsträngen über ihre Reisen nach Ostanatolien, das Land ihrer Wurzeln. Sie hat ein gefestigtes, gutes Leben in der Schweiz, und möchte ihre Erinnerungen an ihre Kindheit bei ihren Großeltern festhalten. Es sind unbeschwerte Kindheitstage mit einer fürsorglichen Großmutter, einen manchmal schimpfenden Großvater, einer Tante, die aus dem Kaffeesatz die Zukunft liest. Sie stehlen Melonen und baden im Fluss Firat. Es ist eine heile Kindeswelt.
Jahre später ist sie mit ihrem Mann wieder dort. Sie werden in der Verwandtschaft herumgereicht, jeder will sie sehen und sprechen. Eines Tages lässt ihr Onkel, zugleich ihr Chauffeur und Fremdenführer, eine Bemerkung los, dass das Land einst den Armeniern gehörte.
Özlem wusste nichts davon und beginnt mit Recherchen. Die stößt an ihre eigenen Wurzeln und stellt fest, dass ihre Familie Zaza sind, eine kurdische Minderheit. Irgendwann wurden sie einfach als Türken assimiliert.
Erst als sie ihren Vater darauf anspricht, erzählt dieser alles, was er darüber weiß.
Leider war mir das viel zu wenig. Der im Klappentext angesprochene Genozid an die Armenier lässt einen zunächst mehr erwarten, ein tieferes Eintauchen in diese dunkle Geschichte der Türkei. Doch leider bleiben hier die historischen Begebenheiten außen vor. Lediglich ein kleines Kapitel widmet Cimen den Berichten ihres Vaters (die Großeltern längst verstorben), wie es sich damals mit der Umsiedlung zugetragen hat, und welches Leid die Menschen erfahren mussten.
Der Großteil der Erzählungen widmet sich aber tatsächlich um die Urlaubsaufenthalte und Einblicke in die Kultur ihrer Ahnen.
Die Erzählerin bekommt somit eine neue Identität als Zaza, der Massenmord an den Armeniern und Kurden wird nur am Rande erwähnt.
Gerne wäre ich mehr in die Geschichte eingetaucht, habe mir Hintergrundwissen erwartet. So bleiben viele Fragen für mich als Leser unbeantwortet und hinterlassen einen etwas dünnen Geschmack.
Erzählerisch möchte ich das Buch dennoch loben, es sind nette, unterhaltsame und auch nachdenklich machende Geschichten dabei, die ich gerne gelesen habe.

Bewertung vom 31.05.2024
Heiligenbilder und Heuschrecken
Martínez, Layla

Heiligenbilder und Heuschrecken


ausgezeichnet

Eine feministische Rachegeschichte der besonderen Art! Schnell, skurril, grob – mit magischem Realismus als würzige Beilage. Erzählkunst vom Allerfeinsten!

Eine feministische Rachegeschichte der besonderen Art! Schnell, skurril, grob – mit magischem Realismus als würzige Beilage. Erzählkunst vom Allerfeinsten!

In einem abgelegenen Dorf in Südspanien haust eine Enkelin zusammen mit ihrer Großmutter in einem alten Haus. Sie sind Außenseiterinnen, werden von den Dorfbewohner:Innen gemieden und schief angeschaut (wenn überhaupt).
Das Haus selbst scheint eine Zuflucht zu sein für verlorene Seelen. Es knarzt und rumpelt, hat seinen eigenen Willen, die Verstorbenen gehen ein und aus.
S.7: „Sobald ich über die Schwelle war, hat sich das Haus auf mich gestürzt. Das passiert immer so mit diesem Haufen Ziegel und Dreck, er fällt alle an, die über die Schwelle kommen, und dreht ihnen den Magen um, bis die Luft wegbleibt.“ (Eröffnungssatz)

Die Enkelin und ihre Großmutter erzählen in abwechselnden Kapiteln von sich, über ihr Leben.

Die Enkelin versucht vom Haus wegzukommen, möchte gerne studieren, aber das Schicksal lässt sie am Haus kleben wie eine Fliege im Netz. Sie hatte Arbeit als Kindermädchen in einer wohlhabenden Familie, die schon seit Generationen die Armen ausbeutet. Auch ihrer Vorfahren arbeiteten dort, wurden klein gehalten von der oberen Schicht. Eines Tages verschwindet ihr Zögling, ein Junge ohne Manieren, man ist nicht wirklich traurig darüber. Die Erzählerin wird verhaftet, mit dem Verschwinden in Verbindung gebracht, und nach drei Monaten wieder frei gelassen aus Mangel an Beweisen (wir erfahren die wahre Geschichte im Laufe der Erzählung, soviel sei verraten).
Ihre Großmutter ist resolut, betet zu den Heiligen, und weiß ganz genau, welche der Santas sie für spezielle Anliegen anrufen muss.
Die Familienchronik ist düster, einst beherrscht von einem Patriarch, der die Frauen für sein Wohl unterdrückte, schlug und ausnützte. Aber er bekam Gegenwind – ein feministischer Aufschrei und eine wehrhafte Frau. Sein Ende, so makaber es war, ist mit der Geschichte des Hauses eng verbunden.

Der ganze, wunderbare Roman ist ein klares Statement gegen die Unterdrückung und Ausbeutung von Frauen. Diese wissen sich auf ihre eigene, sehr spezielle Art zu wehren. Auch zeichnet Martinez ein klares Gesellschaftsbild über die Ausbeutung der Armen von den Reichen. Sie benützt dabei ihre ganz besondere Erzählweise, verwoben in die Geschichten der Toten. Ganz großes Kino!
S.104: „In diesem Haus leben die Toten zu lange und die Lebenden zu kurz. Die dazwischen hängen wie wir, tun weder das eine noch das andere.“

Die Sprachführung ist rasant. Besonders wenn die Enkelin erzählt gibt es sehr lange Sätze ohne Kommas – die Atemlosigkeit schlägt sich in den Zeilen nieder, spiegelt ihr Temperament, ihre Hilfslosigkeit und ihre Abneigung gegen das System. Man kommt beim Lesen kaum zum Luftholen. Wenn die Großmutter berichtet, geht es besonnener zu, in grammatikalisch geordneten Sätzen, denn schließlich weiß sie, wie man sich wehren kann. Und sei es mit Heiligenbildern und Verwünschungen.

Ganz große Leseempfehlung für diesen wirklich einzigartigen Roman, den man mit Sicherheit ein Zweites oder gar drittes Mal zur Hand nimmt, um all die Details in seiner Gesamtheit zu erfassen.
Auf den gerade mal 160 Seiten erschuf die Autorin ein kleines Familienepos, geprägt vom kargen Alltag und den Schieflagen in der Gesellschaft. Das ist Erzählkunst vom Feinsten!

Bewertung vom 25.05.2024
Echos der Vergangenheit
Hamilton, Hugo

Echos der Vergangenheit


ausgezeichnet

Eine Liebeserklärung an die Literatur mit dem Rahmen von grausamen Kriegen

Beruhend auf einer wahren Begebenheit lässt der Autor hier ein Buch einen sehr vielschichtigen Roman erzählen. Richtig gelesen! Ein Buch erzählt es uns. Es ist der Roman von Joseph Roth „Die Rebellion“, der 1933 vor der Bücherverbrennung der Nazis von einer Familie gerettet wurde. Es ist eine Erstausgabe, noch in Sütterlin verfasst.
Das Buch berichtet von seiner Rettung, den Verstecken, und vor allem ganz viel von seinem Verfasser Joseph Roth sowie seiner Frau Friederike Richter. Es sind teils erfolgreiche Schicksale, aber auch sehr traurige. Den Bogen zur Gegenwart spannt die Enkelin des Bücherretters, Lena – eine Künstlerin. Sie erbt eines Tages das Buch, auf dessen letzter Seite eine Art Landkarte gezeichnet worden ist. Von Amerika aus macht sie sich auf den Weg nach Berlin. Sie möchte mehr über das Buch und ihre Verwandten erfahren. Und vor allem auch, was es mit dieser ominösen Zeichnung auf sich hat.
In Berlin lernt sie zwei junge Menschen kennen, die als Kinder vor dem grausamen Tschetschenienkrieg flüchten konnten. Armin trägt ein paar Granatsplitter in seinem Körper, seine Schwester Madina verlor damals ein Bein und unterhält eine spezifische Sammlung von Prothesen. Sie ist mittlerweile eine erfolgreiche Musikerin.
So weit eine kurze Inhaltsangabe. In Wirklichkeit ist dieser Roman viel komplizierter, verschachtelter. Der Spannungsfaden mit Lena und ihrer Kunst, Armin und Madina zieht sich durch den Roman, ist wie der Puls. Die Atemzüge sind das Leben des Schriftstellers Roth mit all seinen Facetten, die nicht immer glorreich waren. Seine Frau „Frieda“ litt sichtlich unter der Beziehung.
Vergangenheit und Gegenwart sind geschickt miteinander kombiniert. Der Große Krieg damals, sowie die Massaker der Russen in Tschetschenien in jüngerer Zeit auf der politischen Ebene; Schriftstellertum zur Nazizeit und bildnerische wie musikalische Künstler:Innen heute.

Hamilton arbeitet Vergleiche von einst versus heute heraus, die sehr erschreckend sind:

S.73: „Nach dem Krieg [Anm.: Erster Weltkrieg] werden die Menschen von einer Schwäche erfasst. Sie sind anfällig für Parolen. Die Grenzen zwischen Tatsachen und Fiktion sind inzwischen so schwammig, dass man beides nicht mehr voneinander unterscheiden kann. Als hätten die Leute einen Appetit auf Falschmeldungen entwickelt.

S. 75: „Wenn man etwas gesichert nennt, gilt es zugleich als ungesichert. Lügen bedienen Ängste. Die Wahrheit ist zu beschwerlich.“

Der Roman liest sich trotz der Fülle an Details leicht und flüssig, baut einen guten Spannungsbogen auf, der nicht nur von der Suche Lenas geprägt ist, sondern auch die Literaturgeschichte und die Liebe zu den Büchern involviert. Ganz allgemein kann gesagt werden, dass dieses Buch eine Liebeserklärung an die Literatur darstellt. Die Idee, dass ein Buch erzählt, ist zwar nicht neu, aber immer wieder schön zu lesen. Auch die Gedanken und das „Leben“ der erzählenden Erstausgabe sind faszinierende schriftstellerische Besonderheiten, die ich sehr mochte. Darum gibt es von mir ein allumfassende #Leseempfehlung für dieses wunderbare Buch.
Auch das Cover ist treffend gestaltet, auch wenn man es auf den ersten Blick natürlich nicht erahnen kann, was die Schaukel dort zu suchen hat.

Bewertung vom 15.05.2024
Das Fischerhaus
Bjella, Stein Torleif

Das Fischerhaus


sehr gut

Zwischenmenschliches und idyllische Natur aus dem hohen Norden.

Norwegen. Der Ich-Erzähler Jon, 47, berichtet von seiner gemeinsamen Woche mit seinem achtzigjährigen Onkel Ivar. Beide machen sich eines Tages im Spätherbst auf den Weg zu Ivars See. Der Onkel redselig bis zum Abwinken, Jon in sich gekehrt und nachdenklich, als Musiker gescheitert, bilden sie ein äußerst ungleiches Gespann. Ivar möchte seinen See samt Hütte, Bootshaus und alleinigem Fischereirecht an Jon übergeben. Ivar scheint es sehr wichtig zu sein, erklärt vieles, erzählt von der Familiengeschichte, und bittet Jon inständig, sich alles aufzuschreiben. Nicht dass er dann etwas übersieht und vergisst.
Das enge Nebeneinander, Tag wie Nacht, scheint Ivar nichts auszumachen. Aber es bringt Jon an den Rand der Belastung. Denn es geht nicht nur um das Netzfischen. Ivar behandelt Jon wie einen Lehrbuben, scheint dessen Leben zu zerpflücken wie ein welke Blume, lässt an ihm kein gutes Haar und kritisiert seine Existenz nach Strich und Faden. Da helfen auch viele gut gemeinte Ratschläge nicht mehr.
Es entwickelt sich dennoch etwas menschliches zwischen den beiden. Ton und Umgang miteinander bleiben trotzdem rau wie das Wetter. Wechselhaft, mal sonnig und mit einer gewissen Verbundenheit und einem Verstehen. Und dann kippt es wieder um und wird stürmisch und kalt.
Es ist ein Wechselspiel der Gefühle – starr und stur erzählt, akribisch Tag für Tag. Als Leser fragt man sich, wohin das alles führen mag. Endet es gut oder schlecht, und was nehmen wir genauso wie Jon dabei mit?
Trotz der gefühlten Eintönigkeit des Erzählens bleiben immer wieder diese kleine Fragen offen, man liest und blättert. Der ganz große Aha-Effekt bleibt zwar aus, aber es war nichts desto trotz eine angenehme Lektüre, die versucht, die Sicht auf manche Dinge zurecht zu rücken. Man könnte daraus den Versuch eines Öko-Romans ableiten, überzeugt hat mich diese Sichtweise aber nicht.
Ich habe den Roman dennoch gerne gelesen, und sehe ihn als feine Unterhaltung aus dem Norden an.
Das Buch an sich ist schön gemacht mit feiner Aufmachung und Haptik, das man gerne in die Hand nimmt.

Bewertung vom 30.04.2024
Mitgift
Marusic, Antonela

Mitgift


ausgezeichnet

Berührende Coming of Age Geschichte aus der kroatischen Inselwelt

Die Ich-Erzählerin Nela wächst mit ihrer Mutter in einer kleinen Wohnung in Split auf. Jeden Sommer reist sie zu ihrer Großmutter auf die Adria-Insel Korčula. Sie lebt in bescheidenen Verhältnissen am Rande der Hafenstadt Vela Luka. Das Geld ist knapp, aber die Landwirtschaft wirft einiges ab. Zudem ist Oma sehr sparsam. Meist ist noch ihr „Barba“, Nelas Onkel im Haus. Ihre anderen Onkel haben das Land schon vor langer Zeit verlassen.
S.9. „An diesem Nachmittag verpasste mir mein Onkel die erste große Tracht Prügel. […] Es ist das Jahr 1981 und ich stehe erst am Anfang meiner Gerechtigkeitsmission. Ich bin sieben Jahre alt ...“
Das sind Zitate von der ersten Seite, die schon erahnen lassen um welche Geschichten es sich handeln wird.
Nela träumt davon, Schriftstellerin zu werden, um ihnen es alle eines Tages zeigen zu können. Auch in späteren (Kindes-) Jahren empört sie sich über ihren Onkel.
S. 103: „ Ich kann es nicht ertragen, dass ein so dummer Mensch jeden Tag meint, mir Befehle erteilen zu müssen.“
Nela erzählt viel von ihrem Inselalltag, von jedem Sommer mit ihrer Oma, die versucht, das Kind so gut wie möglich zu beschützen. Nela hilft im Haushalt so gut wie es geht, verschließt sich aber gerne mit ihren Comics, oder der „Bravo“, später mit ihrem Walkman, um sich von ihren eigenen Gedanken treiben lassen zu können.
Wenn sie alleine ist, stellt sie sich immer vor, ein Junge zu sein.
S. 158: „Wenn ich mit mir selbst rede, bin ich ein Junge. Ich will ein junger Mann sein und nicht das hier.“
Auch verhält sie sich oftmals so, ohne dass es jemals zur Sprache kommt, dass sie möglicherweise im falschen Körper aufwächst.
Vorsichtig geht die Autorin an diesen Umstand heran, und lässt dennoch keine Zweifel an der rebellischen Kraft, die Nela innewohnt. Ihr Verhältnis zur ihrer Oma ist liebevoll, sie mag es mit ihr in einem Bett zu schlafen, um von Oma jeden Abend Geschichten erzählt zu bekommen. Doch je älter Nela wird, des drüber scheint das Verhältnis zu werden.
Auch wenn die Oma ein Quell von unzähligen Geschichten ist, über ihre Flucht vor den Nazis bis nach Ägypten berichtet, wiederholt sich vieles. Die einsetzende Pubertät und das Erwachsenwerden schiebt schleichend eine unsichtbare Distanz in die Beziehung.
Es ist ein Coming-of-Age Roman, der zwischen dem kargen Inseldasein und dem Alltag in der Stadt (der auch nicht glorifiziert wird) berichtet. Nela träumt von Größerem, von einer Befreiung ihrer Zwänge, einem Ausbruch aus der Gefangenschaft von Armut und familiären Strukturen.
S.203: Die Jugend ist anmaßend in meine Seele eingezogen, hat weder angeklopft noch angefragt, ob ein Platz frei ist.“ (ein wunderschöner Satz, wie ich finde)
Sprachlich hat mir der Roman sehr gut gefallen. Die Übersetzung von Marie Alpermann ist, soweit ich das beurteilen kann, eine Wucht. Im Originaltext kommen wohl viele Dialektwörter vor, welche im Text belassen wurden und im Anhang erläutert werden. Sie stören den Lesefluss in keinster Weise, im Gegenteil – sie sind eine echte Bereicherung.
Gerne gebe ich eine ganz große Leseempfehlung für diesen berührenden Roman über die Sommer der „kleinen“ Nela.