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dracoma
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LANDAU

Bewertungen

Insgesamt 158 Bewertungen
Bewertung vom 08.03.2024
Demon Copperhead
Kingsolver, Barbara

Demon Copperhead


sehr gut

Mein Hör-Eindruck:

In seinem Roman „David Copperfield“ literarisiert Charles Dickens seine eigene Geschichte: die Geschichte eines sozial benachteiligten Kindes, das trotz aller Widrigkeiten schließlich seinen Platz im Leben finden konnte. Als Leser hofft man, dass die Autorin bei ihrer Adaption auch das gute Ende dieses Romans übernimmt. Wüsste man nämlich nicht um den guten Ausgang der Geschichte, wären die nicht endenden Schilderungen von Armut, Gewalt, Hunger, Ausbeutung, Einsamkeit, Schmutz, Kinderarbeit, Rechtlosigkeit und Elend allüberall schwer zu ertragen.

Kingsolvers sozialkritischer Ansatz ist unüberhörbar, und man fragt sich betreten, wieso sich die Verhältnisse seit Dickens Zeiten nicht grundlegend geändert haben.

Die Autorin versetzt die Handlung in den Süden der USA, ins ländliche Virginia, in die Appalachen. Wie bei Dickens erzählt der Held aus der Rückschau seine eigene Geschichte. Damit hat er die Möglichkeit zu straffen und einen roten Faden herauszuarbeiten, indem er die Erzählung auf wesentliche Ereignisse reduziert. Diese Chance hätte Kingsolver deutlicher nutzen können, um den Roman zu kürzen. Seine Wucht hätte er dabei nicht verloren.
Ansonsten ist Kingsolvers Adaption sehr gut durchdacht. Das meiste Personal aus Dickens‘ Roman wird übernommen, die Handlung wird jedoch in wesentlichen Teilen der Zeit angepasst. So gerät Demon nach einer Fußballverletzung an einen Arzt, der wie so viele andere leichtfertig das Opioid Oxycontin verschreibt: ein Schmerzmittel, das sehr aggressiv und sehr erfolgreich beworben wurde und das zur sog. Opioid-Krise in den USA führte mit Hunderttausenden von Toten. Viele Abhängige konnten aufgrund der fehlenden Krankenversicherung keine Therapie beginnen. Demon aber hat Glück: sein Entzug wird finanziert, und er ist mit Lebenswillen gesegnet und lässt sich nicht unterkriegen.

Der Roman ist also nicht nur eine Adaption eines Klassikers und nicht nur der Roman eines Jungen mit großer Klappe. Mit der Geschichte Demons legt die Autorin den Finger auf das marode Sozialversicherungssystem der USA, auf die Falle der Armut v. a. in den ländlichen Gegenden und auf die mangelnde Fürsorge des Staates für seine schwächsten Mitglieder.

Der Roman wird eingelesen von Fabian Busch. Stimme, Modulation, Intonation – perfekt!
4,5/5*

Bewertung vom 02.03.2024
Fall, Bombe, fall
Kouwenaar, Gerrit

Fall, Bombe, fall


ausgezeichnet

„Fall, Bombe, fall!“ ist der Herzenswunsch des 17jährigen Karel, der sich in seinem behüteten Leben langweilt und sich nach aufregenden Veränderungen sehnt. „Eine Bombe in dies lahme Straße wäre doch wirklich fantastisch“ (S. 5 ff.).

Noch lässt sich Karel von seiner Mutter dirigieren, aber die Brüchigkeit seiner Familie und seiner Welt wird ihm immer deutlicher. Und dann fällt die Bombe, auf die Stadt und im übertragenen Sinn auch in Karels Leben. Karel wehrt sich nämlich gegen die Bevormundung durch seine Eltern und erlebt den Kriegsbeginn als die große Wende in seinem Leben.
Und das ist der Krieg tatsächlich. Karel verlässt die schützende Hülle seines Elternhauses und wird zum Flüchtigen, zum Heimatlosen, zum Unbehausten. Jetzt erhebt er schwere Anklagen. Er sei unvorbereitet in diesen Weltuntergang gegangen: „Warum haben sie mir keinen Gott gegeben, keinen Glauben, kein Ideal?“ (S. 73). Karel hat nichts mehr, was ihn stützt.

Ein ausführliches Nachwort von Will Kusters verweist u. a. auf die autobiografischen Elemente der Erzählung, die jedoch zum Verständnis nicht notwendig sind.

Nach wie vor eine beeindruckende und ernüchternde Erzählung!

Bewertung vom 29.02.2024
Oben in den Wäldern
Mason, Daniel

Oben in den Wäldern


ausgezeichnet

„... dann beginnt alles von Neuem.“

Der Roman hat einen ungewöhnlichen Protagonisten: ein Haus, ein Haus in den Wäldern Massachusetts, das zunächst in den Pioniertagen einem jungen Paar Unterschlupf gewährt. Kapitel für Kapitel wird die Geschichte des Hauses und seiner Bewohner erzählt, ausgehend von der Kolonialzeit bis hin zur Gegenwart.

Eine besondere Bedeutung kommt den beiden Schwestern Osgood zu. Mit ihrem Vater zusammen, dem Major, verwandeln sie die umliegende Brache in einen blühenden Apfelgarten. Ein Garten Eden entsteht hier, und die biblischen Anklänge sind unüberhörbar. Diese fruchtbare Idylle dieses Paradieses wird mit dem Haus zusammen zu einem Zentrum des Romans. Aber schon bei der Schaffung des Paradieses taucht das andere zentrale Motiv des Romans auf: der Verfall. Der Roman erzählt zwar vordergründig die Geschichte des Hauses und des Gartens, aber das eigentliche Thema ist das Werden und Vergehen, der Kreislauf des Lebens. Zeiten kommen und gehen, das Paradies verfällt, Neues entsteht, alles ändert sich, alles fließt. Und am Schluss schließt sich der Kreis: die Kraft des purgatorischen Feuers zerstört das Haus und „dann beginnt alles von Neuem“.

Die Erzählung besteht aus einzelnen Episoden, die zunächst elliptisch wirken, aber vom Autor kunstvoll und unaufdringlich mit wiederkehrenden Motiven miteinander verzahnt werden. Jede Szene hat ihre Berechtigung. Viele Szenen erzählen von der engen Verbundenheit, fast Verwobenheit des Menschen mit den anderen Geschöpfen der Natur, Fauna und Flora eingeschlossen. Alle sind miteinander verbunden, und es nicht nur der gefährliche Puma, der die Schafherde dezimiert, sondern es sind auch winzigste Organismen wie Käfer und Milben, die weitgehenden Einfluss auf die Natur und deren Gleichgewicht nehmen. Alles Lebende fügt sich in den Kreislauf aus Werden und Vergehen ein.

Zu der Vielfalt der Natur und der Zeiten passt auch die Vielfalt der Genres. Mason bietet seinem Leser eine unglaubliche Fülle an Erzählformen an, von Tagebucheinträgen über Balladen bis hin zur Parodie eines True crime-Reporters aus dem 20. Jahrhundert. Jede Erzählform hat ihren eigenen Ton und passt sich der Zeit und dem Genre an.
Und das alles leicht und phantasievoll von Cornelius Hartz übersetzt.

Ein wunderbares Lesevergnügen!

Bewertung vom 21.02.2024
Trophäe
Schoeters, Gaea

Trophäe


ausgezeichnet

Hunter White heißt der Protagonist, und der Name ist Programm: er ist der weiße Jäger. Er liebt das Jagen und wurde von frühester Kindheit von Vater und Großvater an die Jagd herangeführt. Er weiß wie jeder Jäger, dass die Jagd auch eine ethische Seite hat: der Schuss muss sitzen, eine Nachschau muss vermieden werden, und wenn ja, dann muss das Tier schnellstmöglich getötet werden, um sein Leiden abzukürzen.

Hunter White liebt auch Trophäen, und auch seine Frau freut sich über die Präparate seiner Jagderfolge. In seiner Trophäensammlung der Big Five fehlt ihm jedoch noch ein Tier: das Nashorn. Und so verabredet sich Hunter White mit seinem Freund van Heeren zur ungesetzlichen Jagd im südlichen Afrika.

Van Heeren ist ein Geschäftsmann, der weltweit große Landstriche aufkauft, um sie vor der Zerstörung, der Zersiedlung etc. zu retten, und so auch hier in Afrika. In seinem Gebiet liegt ein Dorf, das er unterstützt, und sein finanzieller Einsatz und sein Schutz ermöglichen es den Bewohnern, ihre Traditionen lebendig zu erhalten und wie ihre Vorfahren zu leben und zu jagen. Weil der Abschuss des Nashorns durch Wilderer nicht wie geplant abläuft, nimmt van Heeren seinen Freund auf einen Hochsitz mit, von dem aus sie die traditionelle Jagd von zwei Jungen aus dem Dorf beobachten. Hunter White, der weiße Jäger, ist fasziniert von der Naturkenntnis, der Beobachtungsschärfe, dem Eins-Sein mit der Natur, aber auch von der Schönheit der Bewegungen. Er empfindet die beiden Jungen als Teil der sie umgebenden Natur und ist sexuell erregt.

Van Heeren beobachtet die Reaktion seines Freundes und bietet ihm daher die Big Six an – und nun entfaltet sich ein Jagderlebnis der besonderen Art. White befürchtet, dass er vom Jäger zum Gejagten wird und wird an die Grenzen seiner selbst getrieben. Am Ende durchschaut der weiße Jäger das makabre und menschenverachtende Spiel der Jagd, und er verliert seine Illusionen über den Naturschutz seines Freundes.

Auch der Leser verliert seine Illusionen, sollte er welche gehabt haben. Schritt für Schritt erkennt er das neokoloniale Denken der weißen Protagonisten und ein perfides Abhängigkeitssystem, in dem auf beiden Seiten gegeben und genommen wird. Umweltschutz und Liebe zur Natur werden hier ins Gegenteil verkehrt, Gewissenlosigkeit und Geldgier korrumpieren die Menschen. Ethik und Moral sind lediglich die äußere Tünche.
Das Buch besticht mit seinen grandiosen und detaillierten Naturbeschreibungen, die mit quälenden Szenen und mit fast alptraumartigen Sequenzen kontrastiert werden.

Ein beeindruckendes Lese-Erlebnis mit einem aufwühlenden Schlussbild, das die Antwort auf die aufgeworfenen ethischen Fragen dem Leser überlässt.

Bewertung vom 15.02.2024
Kalmann und der schlafende Berg
Schmidt, Joachim B.

Kalmann und der schlafende Berg


sehr gut

Schmidt, Kalmann


Was für eine verzwickte Geschichte! Viele Rückbezüge machen deutlich, dass Vorwissen aus dem 1. Band das Verständnis erleichtert, aber es ist keine Voraussetzung. Als neuer Leser wundert man sich über manche Reaktionen des Protagonisten, bis man erkennt, dass Kalmann, der Sheriff von Raufarhöfn aus eigenen Gnaden, das Down-Syndrom hat – eine „Behinderung“, mit der sich der Autor offensichtlich sehr gut auskennt.

Kalmann liebt nämlich die Ordnung, und daher sorgt er engagiert dafür, dass auf dem Parkplatz eines großen Supermarkts Ordnung herrscht und die Einkaufswagen wieder da stehen, wo sie hingehören. Eine Einladung seines Vaters in die USA lässt Kalmann am Sturm aufs Kapitol teilnehmen, führt zu einer Verhaftung und zur Entdeckung, dass sein geliebter Großvater Spion gewesen war – eine Räuberpistole tut sich auf, die in einem gewaltigen Showdown endet. Der Autor öffnet mit Themen wie Umweltverschmutzung, Kalter Krieg, Corona, Spionage einige Fässer, auf die er aber nicht immer einen Deckel draufsetzen kann. Dadurch wirkte die Geschichte auf mich recht konstruiert.

Dennoch entfaltet diese besondere Hauptfigur einen Charme, dem man sich nicht entziehen kann. Kalmann ist in seiner direkten und menschlich so zugewandten Art einfach nur liebenswert. Man muss ihn fast bewundern, wie selbstbewusst und einsichtig er mit seinen kognitiven Einschränkungen umgeht. Mit Kalmann und auch mit dessen Mutter sind dem Autor zwei eindrückliche und authentische Charakterzeichnungen gelungen.

Bewertung vom 14.02.2024
Sich fügen heißt lügen. Henning Venske liest Erich Mühsam (MP3-Download)
Venske, Henning

Sich fügen heißt lügen. Henning Venske liest Erich Mühsam (MP3-Download)


ausgezeichnet

„Ich bin ein Pilger, der sein Ziel nicht kennt“

Wie schön, dass Erich Mühsam wieder in den Blickpunkt rückt! Man freut sich. Und mit Erich Mühsam rückt die Zeit des engagierten Kampfes um Freiheit, Selbstbestimmung und Demokratie wieder in den Blickpunkt; ein Kampf, der Erich Mühsam und andere das Leben kostete.

Henning Venske begleitet in seiner Lesung den Dichter und den Menschen. Dabei verknüpft er die vielen Stationen von Mühsams Leben mit dessen unterschiedlichen Werken. Und so entsteht beim Leser das Bild eines außergewöhnlichen Menschen, eines leidenschaftlichen Pazifisten und unbeugsamen Antifaschisten. Mühsam wendet sich gegen Militarismus und Unterdrückung in jeder Gestalt, sei es politisch, wirtschaftlich oder gesellschaftlich. Seine ganze Energie und Wortgewalt setzt er ein für eine Zukunft, die den Menschen frei macht, v. a. frei von Ungleichheiten, von Kriegen und von Auswüchsen des Nationalismus, die er sehr scharf erkennt. Für diese politischen Ziele setzte er sich auch als führendes Mitglied der Münchner Räterepublik ein.

Schon früh warnt Mühsam vor der Kriegstreiberei und der allgemeinen Kriegsbegeisterung, und weil er als Kriegsursache das Streben des Großkapitals nach Profit erkennt, wendet er sich dem Sozialismus und Kommunismus zu, allerdings ohne sich von einer Partei vereinnahmen zu lassen.

Wenn er die Völkerverständigung beschwört, gewinnen seine Texte eine aufrüttelnde Schärfe und einen bitteren Ernst:
Vergesst den Freund im Feinde nicht!
...
Dann sinken Grenzen, stürzt die Macht,
und alle Welt ist Vaterland,
und alle Welt ist frei!

Die Texte sind sehr schön ausgewählt, und auch Mühsams leichtfüßige Gedichte kommen nicht zu kurz, wie z. B. „Der Gesang der Vegetarier. Ein alkoholfreies Trinklied“, mit dem er das allzu gesunde Leben der bunten Aussteigerkolonie auf dem Monte Veritá bei Ascona ironisch-sarkastisch aufs Korn nimmt.

Henning Venske trägt seine Lesung mit derselben Leidenschaft vor, die den Texten Mühsams eigen ist. Mühsams Botschaft des Anarchismus – dass kein Mensch einen anderen Menschen beherrschen dürfe – hat hier einen engagierten Vertreter gefunden.

Ein eindrückliches Hörvergnügen!

Bewertung vom 14.02.2024
In den Wipfeln der Kiefer
Nurmi, Alvar

In den Wipfeln der Kiefer


sehr gut

Der Autor liebt Finnland, und zwar so sehr, dass er sich ein finnisch klingendes Pseudonym zulegt. Mit dem Namen „Nurmi“ erinnert er an den legendären Olympiasieger Paavo Nurmi. Eine lustige Idee!

Die Liebe des Autors zu Finnland kann jeder gut nachvollziehen, der Finnland, wenn auch nur partiell, bereist hat. Der Krimi spielt in Helsinki, und das Lokalkolorit zeigt sich weniger in den Landschaften und auch nicht in der beeindruckenden Lage Helsinkis, sondern in den Namen und vor allem der Tradition des Saunierens. Sogar während des Dienstes wird auf der Polizeistation sauniert: die Polizeistation hat eine Sauna, die pünktlich am Morgen vom Hausmeister angeschaltet wird. Erstaunlich!

Der Krimi selber folgt dem bewährten Muster Dienst + Schnaps, also der Vermischung von Beruflichem und Privatem. Wir erfahren einiges über das nicht einfache Familienleben des Ermittlers Mika, denn wessen Frau verschwindet schon ohne Gepäck und ohne Geld?

Die Ereignisse folgen chronologisch aufeinander, Tag für Tag. Wir erfahren jede Menge Details, vom Zähneputzen angefangen bis hin zum fehlenden Toner im Drucker und dem Baujahr seines Fords. Die tägliche Arbeit ist geprägt von Frust, von Ärger über Schlampereien der Kollegen, aber auch von schwer verständlichen Einzelgängen.

Sprachlich überzeugt der Krimi nicht immer. Da liegen schon mal „rundliche Wangen... wie sanfte Hügel auf dem gepflegten Teint“, und Mika schmeißt teilweise mehrmals pro Seite etwas weg oder auch sich selbst aufs Bett.

Trotzdem: Mika mit dem unaussprechlichen Nachnamen schafft das. Er geht in die Sauna, schwitzt eine Runde und löst den Fall.
Zu meinem Vergnügen!

Bewertung vom 10.02.2024
Aprikosenzeit, dunkel
Kulenkamp, Corinna

Aprikosenzeit, dunkel


sehr gut

Mein Lese-Eindruck:

Karine ist Deutsch-Armenierin, hat ihr Studium gerade abgeschlossen und muss sich neu orientieren. Daher entschließt sie sich, nach Armenien, dem Land ihrer Vorfahren mütterlicherseits, zu gehen, auch wenn dieses „neue“ Armenien im Osten nicht die eigentliche Heimat ihrer Mutter ist. Sie arbeitet in einer NGO, die von Exilarmeniern finanziert wird, und so lernt sie sehr schnell das Land und seine Eigenarten kennen. Sie fremdelt zunächst, aber im Lauf der Zeit verwächst sie mit dem Land und findet dort ihre Heimat.

Karine trifft auf ein Land, das stark geprägt ist von der sowjetischen Vergangenheit. Nach wie vor bestimmen mächtige russische Oligarchen das politische und wirtschaftliche Leben und verhindern jede demokratische Partizipation und auch jeden wirtschaftlichen Aufschwung. Korruption, Nepotismus und patriarchalische Strukturen beherrschen das Land.

Und noch eines kommt dazu: der fehlende Mittelpunkt. Sehr schön beschreibt die Autorin einen Ausflug nahe an die türkische Grenze und den Blick über das Sperrgebiet hinweg nach Ani, der ehemaligen Königsstadt der Armenier. Ani gibt es nicht mehr, die mächtige Kathedrale zerfällt zur Ruine, Ani ist unerreichbar und liegt fern im Dunst. Ein schönes Bild! Karine und der Leser erkennen: Das moderne Armenien kann nur ideell anschließen an seine glanzvolle Vergangenheit, und Armenien fehlt der Identifikationsfaktor eines gemeinsamen historischen Mittelpunkts; diesen Mittelpunkt kann der moderne Präsidentenpalast in Jerewan nicht bieten.

Es ist natürlich schwierig, dem Leser die Strukturen eines Landes ausschließlich durch die Handlung näherzubringen. Die Autorin versucht es durch Dialoge, die jedoch vor allem zu Beginn recht hölzern und sehr bemüht wirken. Das und anderes wird jedoch schnell wettgemacht durch die eindringliche Schilderung der politischen und auch gesellschaftlichen Umbruchsituation, in die Karine hineingerät.

Durch kurze, kursiv gesetzte Zwischentexte wird der furchtbare Genozid zu Beginn des I. Weltkrieges wieder in die Gegenwart gehoben. Mir persönlich hat es gefallen, wie geschickt die Autorin die Mitschuld Deutschlands als Nachfolgestaat des Kaiserreichs in die Handlung hineinflicht.

Der Roman rückt das ferne Armenien nah an seine Leser heran und weckt Verständnis für seine schwierige und so konfliktreiche Lage. Durch die momentanen Ereignisse in der armenischen Enklave Bergkarabach erhält der Roman eine traurige Aktualität.

Ein wichtiges Buch, das neugierig macht auf weitere Bücher der Autorin.

Bewertung vom 04.02.2024
Kibogos Himmelfahrt
Mukasonga, Scholastique

Kibogos Himmelfahrt


ausgezeichnet

African storytelling!

Scholastique Mukasonga flüchtete aus Ruanda nach Burundi, um dem Genozid an den Tutsis zu entgehen. Diesen Roman, in dem sie alte Erzählungen ihres Volkes aufgreift, kann man daher durchaus als ein Memoir begreifen, in dem sie ihrer verlorenen Heimat ein literarisches Denkmal setzt.

Die Menschen in Ruanda erwarten dringend Regen. Das Land ist ausgedörrt, der Wind trocknet das Land zusätzlich aus, die Kartoffelfäule führt zu Missernten, die Menschen hungern. In dieser Situation erinnern sie sich an den legendären Königssohn Kibogo, der übernatürliche Kräfte besaß und mit seinem Opfertod sein Volk schon einmal vor dem Verhungern gerettet hatte. Die Alten erzählen nun diese Geschichten, die tief in die ruandische Geschichte zurückreichen, und als Leser hat man den Eindruck, selber im Kreis der Zuhörer zu sitzen und den Geschichten zu lauschen. Zu diesem Eindruck trägt auch die Einteilung des Buches in viele kleinere Unterkapitel bei und der eher einfache, fast märchenhafte Erzählton.

Die rein mündliche Erzähltradition führt zu vielen Ausschmückungen, und in sehr humorvollen Szenen machen sich die alten Erzähler gegenseitig Konkurrenz, was den Wahrheitsgehalt ihrer Geschichten angeht. Die jüngere Geschichte der Kolonialisierung wird aber nicht ausgeblendet, sondern mit verwoben. Sehr schön ist das Bild des westlichen Missionars, der mit einem laut knatternden Motorrad den Frieden der dörflichen Siedlung stört und das Eindringen der westlichen Lebensweise in die Traditionen Ruandas zeigt.

Die Menschen vermischen ihre Traditionen mit den neuen des Kolonialismus, speziell der belgischen Missionare, und so entsteht die Vorstellung, dass Jesus und Kibogo identisch sind: beide haben ihr Volk gerettet, beide sind in den Himmel aufgefahren und werden wiederkommen und ein neues Reich errichten. Diese Konkurrenz von alten Mythen und Geisterglauben und dem Christentum auf der anderen Seite führt zu merkwürdigen Situationen, die die Autorin humorvoll ausmalt. Sinnfällig wird sie in der Kleidung eines Regenpriesters, der sich nicht nur mit dem Rosenkranz und Kruzifixen schmückt, sondern zur Sicherheit auch noch tierische (?) Knochen und Zähne trägt.

Insgesamt ein humorvolles Buch, ein überaus poetisches Buch, mit wunderbaren Geschichten, die die Traditionen der ruandischen Tutsi wieder lebendig werden lassen. Ich bin begeistert!

Bewertung vom 02.02.2024
Glänzende Aussicht
Fang, Fang

Glänzende Aussicht


ausgezeichnet

„Das Leben war ein Ameisendasein, der Tod wie ein Staubkorn“

Der Roman beginnt sehr eindringlich mit drei identischen Satzanfängen: „Bruder Sieben sagt“. Und schon weiß der Leser: hier gibt nicht traditionell der älteste Bruder den Ton an, sondern ein nachgeborener Sohn. Wie es zu dieser Verschiebung kommt, erzählt der Roman.

Wie in ihrem beeindruckenden Roman „Weiches Begräbnis“ nimmt uns die Autorin mit in ihre Heimatstadt Wuhan und entfaltet das Geschehen, indem sie die Geschichte einer Familie erzählt. Eine proletarische Familie, die mit 11 Personen in einem einzigen Raum, einem Bretterverschlag von 13 qm in dem Barackenviertel von Wuhan lebt. Hier lebt die Familie dicht an dicht mit anderen ehemaligen verarmten Kleinbauern, die in die neuen Städte zogen, um Arbeit zu finden. Alle behalten sie ihre gewohnten patriarchalischen Strukturen bei: Kinderreichtum ist erwünscht, die Familie ist der Bezugspunkt, der Vater hat das Sagen, Töchter zählen nichts, und die Durchnummerierung der Söhne zeigt die hierarchische Struktur der Familie.

Gewalt ist an der Tagesordnung: Gewalt auf der Straße, am Arbeitsplatz, in organisierten Banden und vor allem in der Familie. Besonders Bruder Sieben ist der täglichen Gewalt des Vaters schutzlos ausgesetzt. Bruder Acht stirbt mit 2 Wochen und wird von seinen Brüdern beneidet um dieses glückliche Los; er ist es, der die Geschichte seiner Familie erzählt.

Der Leser begleitet die Familie und erlebt mit ihnen die wesentlichen Etappen des chinesischen Wegs nach dem II. Weltkrieg, wobei der Fokus auf der Entwicklung des Bruders Sieben liegt, der sich nichts sehnlicher wünscht, als „dass Vater auch ihm eine Kiste zimmern würde, in der er schlafen konnte“. Landreform, Kollektivierung. der sog. Große Sprung mit der furchtbaren Hungersnot, die Kulturrevolution ab den 60er Jahren und die Landverschickung der städtischen Jugend – all das spiegelt sich in der Geschichte der Familie. Auch die damit einhergehende Änderung der Gesellschaft zeigt sich: Bruder Sieben gelingt es, in den Parteikadern Fuß zu fassen und nun „gehört er nicht mehr der Familie, sondern der Regierung“, er hat glänzende Aussichten, so wie einige seiner Brüder auch. Und wie auch der kleine Ich-Erzähler. Die Baracken werden abgerissen und durch Hochhäuser ersetzt – glänzende Aussichten für alle Bewohner – und er wird auf einem ordentlichen Friedhof neben einem seiner Brüder begraben, „dann können sie sich Gesellschaft leisten“.
Auch das ist eine glänzende Aussicht...

Es ist die Art und Weise, wie Fang Fang diese Geschichte erzählt, die den Roman so eindringlich macht. In ihrem Wuhan Diary schreibt sie: „Ich habe mich bemüht, mein Hirn Stück um Stück vom ganzen Müll und Gift zu säubern, die man in der Vergangenheit in mein Hirn gequetscht hat“. Statt vorgefertigte und erwünschte ideologische Überhöhungen zu übernehmen, will sie die Ereignisse festhalten und dem Vergessen entreißen.
Sie vermeidet dabei jede politische Note. Sie verfällt weder in den erwünschten Lobgesang noch in eine Kritik. Es gibt kein Gut und Böse, kein Falsch und Richtig, es ist keine Rede von Klassenkampf und Klassenfeinden, sie klagt nicht an und nennt keinen Schuldigen, sondern sie hält sich an das, was sie gesehen und erkannt hat. Es ist möglich, dass sie aus Angst vor der Zensur keine Urteile abgibt, immerhin hat Fang Fang hinreichend Erfahrung mit der repressiven Kulturpolitik Chinas. Aber gerade dieser Rückzug auf Fakten und ihre ambivalente Literarisierung machen den Roman packend.

Der Roman wurde übersetzt von Michael Kahn-Ackermann, dem ehemaligen Direktor des Pekinger Goethe-Instituts, der ein sehr hilfreiches Nachwort angefügt hat.

Fazit: Ein ungemein packender Ausflug in 20 Jahre chinesische Geschichte.