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R.E.R.

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Insgesamt 283 Bewertungen
Bewertung vom 29.06.2013
Die Nacht, in der Mr Singh verschwand
Ludwig, Sabine

Die Nacht, in der Mr Singh verschwand


sehr gut

Die Sommerferien stehen vor der Tür. In Deutschland die Zeit des Familienjahresurlaubs. In vielen anderen Ländern, die Zeit die Kinder in ein Feriencamp zu bringen, wo sie die schulfreien Wochen ohne Eltern verbringen. Urlaub ohne Eltern mit vielen Gleichaltrigen und jeder Menge Spaß? Jedenfalls nicht bei Sabine Ludwig.

Ferien im Märchenschloss. Das klingt doch erst einmal sehr vielversprechend. Miranda ist überglücklich, das ihre Tante ihr den vierwöchigen Ferienaufenthalt finanziert. Weil ihre Mutter ein Baby erwartet und sich schonen muss, hätte sie sonst auf einen Urlaub verzichten müssen. Für Giovanni, der sich selbst Joe nennt, weil er seinen richtigen Namen so lächerlich findet, ist die Aussicht auf diese Ferien eher ein Alptraum. Um ihn von seiner stets überbesorgten Mutter loszueisen, hat seine resolute Großmutter den Urlaub für ihn gebucht. Joe freut sich zwar der nervenden Bemutterung zu entkommen. Die Aussicht dafür mit dutzenden von fremden Kindern konfrontiert zu werden, lässt dem schüchternen Jungen aber die Haare zu Berge stehen. Cymbeline ist es eigentlich egal wo sie die Ferien verbringt, solange man sie nur in Ruhe lesen lässt. Aber ob sie dazu kommen wird? Schließlich sollen die Kinder reiten, schwimmen, spielen und möglichst viel erleben.

Sabine Ludwig ist für “Die Nacht als Mr. Singh verschwand” 2004 mit dem Hansjörg Martin Preis für den besten Kinder- und Jugendkrimi ausgezeichnet worden. Ich würde das Buch zwar eher als Abenteuerroman bezeichnen (denn Tote sind ja nicht zu beklagen), aber über Kategorien kann man streiten. Unbestreitbar aber ist es ein Roman, der Ferienabenteuer wie die der “Fünf Freunde” oder Urlaubserlebnisse wie die der Helden aus der “Geheimnis” oder “Abenteuer” Serie von Enid Blyton in etwas anderer Form wieder aufleben lassen.

Erzählt wird die Geschichte der drei Kinder Joe, Miranda und Cymbeline. In schöner Klarheit entwickelt die Autorin die Handlungsstränge, bis die drei auf dem schottischen Schloss eintreffen. Die unterschiedlichen Hintergründe fügen sich aufs beste zusammen. Der dickliche, schüchterne Joe verliebt sich in die sportliche und natürliche Miranda. Die neunmalkluge Cymbeline vervollständigt das Trio als Superhirn. Zusammen kommen sie dem verbrecherischen Tun, dass sich hinter den Schlossmauern abspielt auf die Schliche und geraten dabei in Lebensgefahr.

In gemütlichem Tempo mit einer leichten Spannungsbrise schildert Ludwig die Geschehnisse. Ansprechende Erzählpassagen wechseln mit gut formulierten Dialogen, weshalb dieses Buch sich auch hervorragend zum Vorlesen eignet. Ich würde es ab Klasse 5 empfehlen.

0 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 27.06.2013
Bibulus im Zauberwald
Biewend, Edith

Bibulus im Zauberwald


sehr gut

Es ist erstaunlich, dass dieses Kinderbuch aus den 1970er Jahren im Zuge der allgemeinen Kochleidenschaft nicht schon längst wiederentdeckt wurde. In Edith Biewends märchenhaftem Kinderroman geht es schließlich um einen jungen Koch, den man heute in die Kategorie der “jungen Wilden” einordnen würde, so exzentrisch sind seine Kreationen.

Bibulus, jüngster von drei Geschwistern, hat es schwer. Als gelernter Koch führt er, nach dem Tod seiner Eltern, den beiden Brüdern den Haushalt. Diese bevorzugen aber einfache und derbe Hausmannskost. Die ausgefallenen Rezepte des kleinen Bruder essen sie nur unter Protest. Bis zum dem Tag als Bib ihnen “spanische Selleriescheiben” vorsetzt. Über diesen “Schlangenfraß” wie es die Brüder nennen, kommt zu einem handgreiflichen Streit. Bibulus verlässt daraufhin sein Elternhaus und sucht in der “weiten Welt” sein Glück.

Das Abenteuer des jungen Helden beginnt dann auch ganz so, wie er es sich erträumt hat. Im Zauberwald begegnet ihm eine gute Fee und schenkt ihm das Zauberkraut alliumunicum. “Mit diesem Kräutlein werden deine Speisen so vorzüglich schmecken, wie man es nicht einmal an eines Königs Tafel findet”, verspricht diese. Natürlich ist an ein solch wundersames Geschenk eine Bedingung geknüpft. Bibulus muss im richtigen Moment auf die Stimme seines Herzens hören, sonst verliert er alles.

Auf der Jagd nach seinem Traum eine “Königstochter” zu heiraten macht er bei einem armen Besenbinder Station und freundet sich mit dessen Tochter Mira an, er fällt unter eine Räuberbande, begeistert einen Menschenfresser für vegetarische Kost, bekocht die sieben Zwerge und landet schließlich in der Schlossküche des Königs, wo er sich in das Herz der naschhaften Prinzessin kocht. Am vermeintlichen Ziel seiner Wünsche jedoch, verliert er sein Zauberkraut. Nun muss er sich also fragen, wem sein Herz wirklich gehört. Der Prinzessin, die er am nächsten Tag heiraten will oder jemand ganz anderem.

Rund um den sympathischen Bib, dieses künstlerische Genie der Herdplatten, hat die Autorin ein ebenso romantisches wie abwechslungsreiches Märchen gestrickt, das sich bestens zum Vorlesen für Kinder ab etwa 5 Jahre eignet. Ich habe das Buch als Kind selber gelesen und es nun wieder entdeckt. Es war ein freudiges Wieder erinnern. Vor allem, weil ich die Geschichte nun meinen eigenen Kindern vorlesen kann. Ein Buch für Generationen also.

Bewertung vom 18.06.2013
Als mein Vater die Mutter der Anna Lachs heiraten wollte
Nöstlinger, Christine

Als mein Vater die Mutter der Anna Lachs heiraten wollte


sehr gut

Wann sollten Eltern ihren Kindern gestehen, dass Sie sich wieder verheiraten wollen? Wenn die Tochter der zukünftigen Braut im Klassenzimmer neben ihrem Stiefbruder in spe zu sitzen kommt, ist es in der Realität sicher zu spät. Im Fall von Christine Nöstlinger ist es jedoch der Beginn eines unterhaltsamen Kinderbuches.

Anna, die neue Schülerin, wird ausgerechnet neben Konstantin gesetzt. Sie spricht nicht und wenn nur pampige Unhöflichkeiten. Sie beteiligt sich nicht am Unterricht und sie riecht nach Käse. Konstantin, von allen nur Stummel genannt, ist total genervt. Aber ausgerechnet sein Vater bittet ihn nett zu Anna zu sein, weil sie die Tochter seiner neuen Kollegin ist. Als Konstantin erfährt, was hinter dieser scheinbar harmlosen Bitte steckt (noch dazu von der größten Klatschtante der Klasse) ist er stinksauer und stellt seinen Vater zur Rede. Was aber nicht viel hilft, denn dieser ist entschlossen “die Mutter der Anna Lachs zu heiraten”. Das heißt es zusammenarbeiten will man nicht zwangsweise familiarisiert werden. Und so hecken Anna und Stummel einen gemeinsamen Plan aus, obwohl sie sich überhaupt nicht leiden können.

Bücher von Christine Nöstlinger sind zeitlose Klassiker der Kinder- und Jugendliteratur. Ihre Geschichten, die oft schon viele Jahrzehnte “auf dem Buckel” haben, kann man auch heute noch gut und immer wieder lesen bzw. vorlesen. Vielleicht hat es etwas mit dem “Schmäh” der gebürtigen Wienerin zu tun. Ihre Figuren haben Charme und das gewisse etwas. “Als mein Vater die Mutter der Anna Lachs heiraten wollte” liest sich jedenfalls so luftig und leicht wie ein guter Kaiserschmarrn, obwohl der Inhalt durchaus ernstes Potential hat. Geschiedene Eltern die sich wieder verheiraten wollen und die Kinder ungefragt vor vollendete Tatsachen stellen.

Nicht alltäglich ist, wie die Kinder mit dem “fait accompli” umgehen. Hier hat sich die Autorin einiges einfallen lassen. Anna, so findet Stummel nach und nach heraus, ist von ihrer Mutter noch schmählicher behandelt worden, als er von seinem Vater. Sie musste umziehen, ihre alte Schule und ihre Freunde verlassen und sogar ihren Hund weggeben. Stummels Vater dagegen trägt sein schlechtes Gewissen auf dem Gesicht und ihm Herzen. Annas Mutter scheint gar keins zu haben, was sie aber vor Konstantins gutmütigem Vater sehr gut zu verbergen weiß. Man ist gespannt, ob die Kinder sich und den Vater retten können.

Das wirklich besondere an der Geschichte ist der Schluss. Selten habe ich mich über ein Ende so gefreut. Es ist überraschend und (wie oben schon erwähnt) nicht ganz alltäglich. Mir als erwachsenem Leser hat der Roman viel Spaß gemacht. Empfehlen würde ich ihn für junge Leser etwa ab Klasse 5, die mit Stummel und Anna und den vielen anderen skurrilen Figuren sicher auch ihre Freude haben werden.

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 14.06.2013
Nicht Chicago. Nicht hier.
Boie, Kirsten

Nicht Chicago. Nicht hier.


gut

“Kein Mensch ist einfach nur böse. Einfach nur so. Es kann Karl nicht geben.” Aber es gibt ihn doch, diesen Karl. Den neuen Klassenkameraden von Niklas, der sich so abweisend und seltsam verhält. Der ihm auf der einen Seite bei einer Partnerarbeit hilft, so dass der in Geschichte schwache Niklas einen zweier für seine Hausarbeit bekommt. Der ihn auf der anderen Seite bestiehlt, bedroht, erpresst und terrorisiert. Einfach so?

Warum sollte der Junge das tun, fragt die Mutter. “Hier ist doch nicht Chicago” fügt sie hinzu. “Nicht Chicago, nicht hier” ist die Geschichte einer Gewaltspirale, die sich, scheinbar ohne Grund, um den zwölfjährigen Niklas entwickelt. Der lernschwache, unauffällige Junge wird Ziel der Gewaltexzesse des neuen Mitschülers Karl.

Die Kürze des Buches lässt dem Leser nicht viel Raum zum Verschnaufen. Boie beginnt mit Drohungen, die Niklas im Geiste formuliert: “Ich bring ihn um, ich schwör, ich mach ihn tot”. Die Verzweiflung die den Jungen zu solchen Sätzen treibt, wird im Lauf der Handlung verständlich, die in zwei Zeitebenen erzählt wird. Beginnend mit dem Verschwinden von Niklas Kaninchen, das wie er vermutet von Karl aus dem Käfig gelassen wurde. Danach wird abwechselnd aus der Zeit vor und nach dem “Kaninchen” berichtet.

Karls Taten bleiben ungesühnt. Niklas kann nichts von dem beweisen, was er dem Mitschüler vorwirft und seine Anschuldigungen klingen in den Augen seiner Eltern, der Schwester und der Klassenlehrerin wie Ausreden. Karl hat überdies immer glaubwürdige Erklärungen für die vermeintlichen Missetaten. Niklas Wut und Ohnmacht sind bald zuviel für den Jungen. Als die Eltern ihm endlich glauben und mit ihm zur Polizei gehen, rät diese von einer Anzeige ab. Ohne Beweise steht Aussage gegen Aussage. Auch die Eltern sind nun hilflos und verzweifelt. Man leidet und verzweifelt mit. Sie entscheiden sich dann aber doch für eine Anzeige.

Das Ende bleibt offen. Niklas öffnet den Brief vom Gericht und beendet den Roman in Gedanken wie er ihn begonnen hat: “Ich bring ihn um, ich schwör, ich mach ihn tot”. Das ist für mich die einzige Schwäche, dieses ansonsten packenden Jugendbuches. Das es keine Lösung, keine Hoffnung, nicht einmal einen Hoffnungsschimmer bietet. Boie zeigt auf, wie sich eine Gewaltspirale entwickeln kann. Aber sie zeigt keinen Ausweg. Für mich stellte sich daher die Frage, was fangen jugendlichen Leser damit an? Bücher sind für mich auch immer Hilfsmittel mögliche Wege, vielleicht auch Auswege zu zeigen. Hier gibt es nichts, woran man sich festhalten, worauf man hoffen kann. Das ist mir dann doch ein bisschen zu wenig “hier” und zuviel “Chicago”.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 07.06.2013
Was am Ende bleibt
Fox, Paula

Was am Ende bleibt


gut

Ein beschaulicher Abend im trauten Heim. Ein exzellentes Essen, guter Wein, Kerzenlicht, gemütliche Behaglichkeit. Eine Szene wie der Beginn einer lichten Romanze und doch bereits mit dem Schatten einer Ehe vor dem Abgrund verdüstert. Sophie wird an der eigenen Hinterhoftür von einer streunenden Katze gebissen. Otto hat seinen Geschäftspartner verloren, der kurz zuvor aus der gemeinsamen Rechtsanwaltskanzlei ausgestiegen ist. Gebissen, verlassen, verloren. Auf diesen einfachen Nenner könnte man auch den Roman von Paula Fox bringen. Der Katzenbiss wird zum Indikator des Zerfalls für eine Ehe, die keine glückliche Beziehung mehr ist und für ein gemeinsames Leben, das schon lange nicht mehr so genannt werden kann.

“Sie lächelte und fragte sich, ob die Katze schon einmal eine freundliche Berührung eines Menschen verspürt hatte, und wenn ja, wie oft, und sie lächelte immer noch, als die Katze sich auf die Hinterbeine stellte, und sogar noch, als sie mit ausgefahrenen Krallen auf sie einhieb, und sie lächelte weiter bis zu der Sekunde, als die Katze ihre Zähne in den Rücken ihrer linken Hand grub und sich so an ihr Fleisch hängte, dass sie beinahe nach vorne fiel, fassungslos und entsetzt, doch war sie sich der Anwesenheit Ottos bewusst genug, um den Schrei zu unterdrücken, der in ihrer Kehle aufstieg, als sie ihre Hand mit einem Ruck aus diesem mit Widerhaken besetzten Kreis zurückzog.”

Paula Fox zeichnet das Bild eines Paares, dessen Leben harmonisch und ausgeglichen wirkt. Finanziell gut gestellt, kultiviert, eigenes Haus im New Yorker Stadtteil Brooklyn und auf dem Land, interessante Freunde, zufrieden trotz Kinderlosigkeit. Erste Risse in dieser Optik werden durch den Angriff des Tieres deutlich. Sophie hat das streunende Tier gefüttert, Otto war von Beginn an dagegen. Als das Tier zubeißt und Sophie ernstlich verletzt, verschweigt diese den Vorfall aus Scham und versteckt ihre Hand.

Es dauert eine Weile bis Sophie Otto den Biss gesteht und noch einmal einen ganzen Tag, bis sie sich von ihm widerwillig ins Krankenhaus bringen lässt um die eiternde Wunde versorgen zu lassen. Die drohende Diagnose einer Blutvergiftung wird mit einem Besuch im Landhaus verdrängt. Die Feststellung, das dort eingebrochen und alles verwüstet wurde, treibt das Ehepaar wieder in die Stadt. Die Nerven liegen blank. Und noch immer ist das schlimmste nicht überstanden. Die Frage, ob Sophie sich bei dem Biss mit Tollwut infiziert hat.

Mich hat der Roman, trotz aller Vorschusslorbeeren auf dem Buchcover und im Internet, nicht wirklich überzeugt. Die reine Beschreibung der Lebensumstände eines Mittelklassepaares im New York der 1970er Jahr gelingt Paula Fox sehr gut. Angefangen von der Wohnungseinrichtung, über Geschirr, Gerichte, Getränke, Gespräche, Mode, Trends und Strömungen lässt sich der Geist dieser Zeit gut ablesen. Die Aufarbeitung der Psyche ihrer Figuren dagegen fand ich schwach.

Erzählt wird fast ausschließlich aus der Sicht Sophies und mit ihr konnte ich leider überhaupt nichts anfangen. Durch den Katzenbiss wird ihr zum ersten Mal ihre Sterblichkeit bewusst. Sie fürchtet sich vor Schmerzen und Qual, daher verzichtet sie zunächst auch auf die helfenden Spritzen. Warum und woher diese Angst kommt, wird jedoch nicht deutlich. Auch der Grund für den Seitensprung, an den sie sich in Rückblenden erinnert, bleibt unklar. Leidenschaftliche Liebe klingt anders. So wie sie ihren Liebhaber und das Verhältnis zu ihm beschreibt, klingt es eher wie Leiden schaffendes Ungemach.

Für wesentlich interessanter hielt ich den als beherrscht beschriebenen Ehemann Otto. Dieser rät seiner überspannten Frau, sich nicht so anzustellen. Ein Rat den ich nachvollziehen kann. Auch scheint er mir der liebevollere Partner zu sein. Trotz seiner Ungeduld, ist bei ihm ein Gefühl der Verantwortung spürbar und auch der Liebe. Wenngleich sie sich nur zwischen den Zeilen äußert. Seine Sicht auf die Dinge wären sicher aufschlussreicher gewesen.

Bewertung vom 02.06.2013
Die Besteigung der Eiger-Nordwand unter einer Treppe
Scharnigg, Max

Die Besteigung der Eiger-Nordwand unter einer Treppe


sehr gut

Wie stellt man sich den typischen SZ Journalisten vor? Jung, dynamisch, erfolgreich mit allen dazu notwendigen Attributen? Oder doch eher verträumt, dem eigenen Intellekt nachsinnend? Nikol Nanz, der Held aus Max Scharniggs “Eiger Nordwand”, gehört eher zur zweiten Sorte. Eines Abends kehrt er von der Arbeit nach Hause zurück und findet vor seiner Wohnungstür ein fremdes paar Schuhe. Von drinnen hört er Stimmen. Seine Freundin M. und jemand, den er nicht identifizieren kann. “Ich stand etwas atemlos da, den Schlüssel in der Hand. Erschrocken wandte ich mich um, steckte den Schlüssel in die Manteltasche und ging hinunter, ganz so, als würde ich das Haus gerade verlassen.” Nikol verlässt das Haus mitnichten, dafür richtet er sich häuslich unter der Treppe ein. Gut versteckt hinter einem alten Kinderwagen und einer Kiste mit Wurfsendungen. Dort bleibt er sitzen und schreibt im Geist an seinem Artikel über die Erstbesteigung der Eiger-Nordwand.

Max Scharnigg verbindet in seinem Debütroman sehr gekonnt die spannende Geschichte der Bergsteiger Ludwig Vörg und Anderl Heckmair, die im Juli 1938 gemeinsam mit Heinrich Harrer und Fritz Kasparek die Eiger-Nordwand erstmals durchstiegen mit der melancholischen Liebesgeschichte seines Helden. Nikol, der junge Journalist, lebt mit seiner Freundin M. in einer einsamen Beziehung. Aufgrund einer Krankheit die nicht näher benannt wird, verlässt diese seit geraumer Zeit nicht mehr die Wohnung. Alle Kontakte und Freundschaften sind in den Jahren eingeschlafen. Nikol hält nur durch seine Arbeit Verbindung zur Außenwelt. Was ihn trägt ist die Liebe zu seiner Freundin: “An ihrer Seite war das Unsichtbare sichtbar und das Unnütze wurde nutzbar. Alles, was ich bieten konnte, traf bei ihr auf Nachfrage. Sie war in allen Dingen, das was fehlte.“

Der leise Roman, dem ich anfangs eher gelangweilt folgte, nimmt etwa ab der Mitte Spannung oder zumindest Fahrt auf. Nämlich dann, wenn Nikol unter der Treppe von Herrn Schmuskatz entdeckt wird, einem alten Herrn aus der Parterrewohnung des Hauses. Bei Paprikahendl kommen sich die beiden näher und Nikol findet einen geduldigen Zuhörer, der am Ende sogar bereit ist, ihn vielmehr zwingt, seinen eigene Nordwand zu bezwingen. Nämlich die Treppen zu seiner Wohnung wieder hinaufzusteigen. Parallel zum Treppenaufstieg erzählt Scharnigg dann sehr fesselnd und anschaulich von den vier Bergsteigern.

Das sich das ganze am Ende als surrealistischer Traum entpuppt, konnte sich der gewiefte Leser natürlich schon vorher denken. Wie anders hätte es der Held sonst wochenlang ohne Essen, Trinken und Toilette sitzend unter einer Treppe ausgehalten? Aber derlei profane Überlegungen schmälern am Ende nicht das Lesevergnügen. Scharnigg erzählt hier eine wundervoll melancholisch romantische Liebesgeschichte zweier einsamer Seelen (eigentlich sogar drei, wenn man Schmuskatz mitzählt) die aus der Zeit gefallen mitten in München gelandet sind. Genauer gesagt in der Jutastraße in Neuhausen (kleine Empfehlung für Nichtmünchner: sehenswerter Stadtteil mit schönen Cafés).

Besonders hervorzuheben ist meiner Meinung nach die feine Sprache des Autors. Seine Sätze klingen wie schüchterne Erklärungen, rührend, naiv und altmodisch elegant. Sehr schön sind auch einige seiner Wortschöpfungen. “Mädchenroulade” für den Anblick seiner in der Schlafdecke eingerollten Freundin. Oder “Kitzelschnauf” dafür dass Nikol seiner Freundin nachts beim Schlafen den Atem in den Nacken bläst. Man verrät nichts, wenn man verrät dass beide Aufstiege am Ende geschafft werden. Der Weg ist hier das Ziel.

Bewertung vom 17.05.2013
Vera
Arnim, Elizabeth von

Vera


ausgezeichnet

Eine sehr treffende Beschreibung zur Auflösung von Ehen im letzten Jahrhundert wird Wallis Simpson zugeschrieben. Die Amerikanerin, die 1938 Edward VIII heiratete, der für sie auf den Thron verzichtet hatte, soll gesagt haben, dass eine Scheidung im beginnenden zwanzigsten Jahrhundert einer Revolution gleichkam. Sie musste es wissen, hatte sie doch gleich zweimal eine solche überstanden.

Man muss wissen, dass eine Ehe damals einen völlig anderen Stellenwert hatte als heute. Man muss wissen, dass eine Frau einem Mann regelrecht ausgeliefert war, wenn einmal die Bande der Ehe geschlossen waren. Besitz, Rechte, alles was ein selbstbestimmtes Leben ermöglicht ging mit der Kontraktschließung auf den Ehemann über. Sich als Frau aus dieser Fessel zu lösen, war oft nicht nur schwer sondern fast unmöglich und beinahe immer gleichbedeutend mit gesellschaftlicher Ächtung. Nicht selten in Verbindung mit sozialer Not. In diesem Licht muss man “Vera” lesen. Den Roman den Elizabeth von Arnim nach ihrer eigenen gescheiterten zweiten Ehe mit einem englischen Lord geschrieben hat. Einer gescheiterten, keiner geschiedenen wohlgemerkt, denn eine Scheidung kam für beide Partner, aus den oben genannten Gründen nicht in Frage.

Lucy Entwhistle hat ihren Vater verloren. Noch in frischer Trauer, lernt Sie Everard Wemyss kennen, dessen Frau gerade bei einem Unfall ums Leben gekommen ist. Der Witwer, dessen Schmerz sich in Grenzen hält, bemüht sich um das junge Mädchen. Wie selbstverständlich steht er ihr bei und macht sich unentbehrlich. Mit seiner unerschütterlichen Art, erscheint er dem unerfahrenen Mädchen als ritterlicher Held in den sie sich rückhaltlos verliebt. Noch ehe das Trauerjahr um ist, drängt Wemyss Lucy in die Ehe. Schon in den Flitterwochen wird ihr klar, dass die Ehe “anders war, als sie gedacht hatte”. Aber als sie mit wieder nach England zurückgekehrt und im Hause ihres Mannes lebt, wird ihr auf dramatische Weise der wahre Charakter ihres Mannes bewusst.

“Vera” ist ein Roman der unter die Haut geht. Mitzuerleben wie die junge, unerfahrene Frau in eine Verlobung und später in die Ehe gerät. Fast ohne eigenes Zutun, schier willenlos und gegen jegliche Vernunft taub und blind. Besonders die Passagen, wenn die Tante das Geschehen quasi von Außen betrachtend für den Leser transparent macht. Die Fassungslosigkeit die einen ergreift, wenn man die Art des Bräutigams durchschaut, der seine neuste Eroberung möglichst schnell sichern will. Um von den eigenen Ungelegenheiten abzulenken: Die Unverschämtheit seiner ersten Frau, die sich ohne Rücksicht auf ihn umgebracht hat. Um möglichst schnell zu seinem gewohnten Leben zurück kehren zu können: Lucy ist für ihn eher Gegenstand als Lebewesen. Sie hat zu tun, zu denken, zu sagen, zu stehen und zu liegen wo er will, wann er will und wie er will. Die Müdigkeit die Lucy schon in den Flitterwochen plagt, ist durch die Seiten spürbar. Sie führt kein eigenes Leben mehr, sondern wird geführt.

Elizabeth von Arnim wird nicht umsonst als Jane Austen des zwanzigsten Jahrhunderts beschrieben. Ihre Werke verbinden Humor mit scharfsinniger Beobachtungsgabe, philosophische Betrachtungen mit Unterhaltung und Verstand und Gefühl (um bei Jane Austen zu bleiben). Ehe, Liebe und Beziehungen spielen auch bei ihr eine zentrale Rolle. Sie entlarvt die Schwächen und Eigenheiten ihrer Figuren mit spitzer Feder und zeichnet dabei immer auch ein sehr genaues Sittengemälde ihrer Zeit .

Am Ende prophezeit die weise Tante dem kaltherzigen Ehemann, dass es diesmal wohl keine fünfzehn Jahre dauern wird, bis diese Ehe seine zweite Frau das Leben kosten wird. Das eigene Entsetzen bei dem Gedanken, wie Recht sie hat, zeigt die literarische Güte von Arnims.

Bewertung vom 17.05.2013
Der Junge, der Gedanken lesen konnte. Ein Friedhofskrimi
Boie, Kirsten

Der Junge, der Gedanken lesen konnte. Ein Friedhofskrimi


weniger gut

“Alles hat seine Zeit”. Dieses Bibelzitat scheint Kirsten Boie bei Ihrem Friedhofskrimi für Kinder inspiriert zu haben. Eine Zeit zu leben und eine Zeit zu sterben. Es geht viel um das Sterben in diesem Buch und das nicht nur, weil Valentin mit seiner Mutter in eine neue Wohnung direkt neben dem städtischen Friedhof zieht. Was passiert wenn ein geliebter Mensch gestorben ist? Wohin geht er oder sie? Wer ist schuld wenn ein Kind sterben muss? Wie tröstet man jemanden, der sich schuldig am Tod eines anderen fühlt? Kirsten Boies Roman für Kinder wirft viele Fragen auf.

Valentin ist mit seiner Mutter von Russland nach Deutschland gekommen. Sein Vater ist bei seinem Bruder Artjom in Kasachstan geblieben. In den großen Ferien ist Valentin den ganzen Tag allein, weil die Mutter arbeiten muss. Neugierig beginnt er die neue Umgebung zu erkunden. Gleich bei seinem ersten Streifzug landet er auf dem nahegelegenen Friedhof. Er lernt Bronislaw, den freundlichen Friedhofsgärtner aus Polen kennen. Und das Ehepaar Schilinsky, dass anstelle eines Schrebergartens eine Grabstelle gekauft hat und dort jeden Tag picknickt. Valentin freundet sich dort auch mit dem alten Herrn Schmidt an, der mit seinem Hund täglich das Grab seiner Frau Else besucht. Auch für die obdachlose und geistig verwirrte Dicke Frau hat Valentin immer ein freundliches Wort übrig. Eines Tages findet Valentin Bronislaw niedergeschlagen auf der Friedhofstoilette. Es scheint als hätte jemand auf dem Friedhof Geheimnisse. Valentin jedoch hat erst vor kurzem eine ganz besondere Gabe an sich entdeckt: Er kann Gedanken lesen. So sollte der Übeltäter also schnell gefunden sein. Aber einen Verbrecher jagen, ist nicht so einfach wie gedacht. Und so ist Valentin bald selber in Lebensgefahr.

Kirsten Boie verbindet in dieser Geschichte für Kinder ab etwa 10 Jahren einen Krimistoff um Juwelendiebstahl mit Gedanken zum Thema Tod. Die Kombination ist ungewöhnlich. Es wird schnell klar, dass der einfühlsame Valentin nicht nur eine besondere Gabe sondern auch einen besonderen Kummer hat. Es dauert eine Weile, bis er sich dem alten Herrn Schmidt anvertraut. Dieser ist es dann auch, der ihn mit einfachen Worten beruhigt. Eben mit jenen, die ich anfangs erwähnte. “Alles hat seine Zeit”. Aber nicht nur der alte Herr hilft dem Ich-Erzähler Valentin. Auch die Freundschaft zu dem gleichaltrigen Nachbarsjungen Mesut bringt ihn weiter. Hier ist ein Gleichaltriger dem er sich öffnen kann und der gleichzeitig seine Trauer lindert und sich mit ihm auf Verbrecherjagd macht.

Ich fand das Buch nicht schlecht, obwohl ich die Kombination aus Krimi und Lebens- bzw. Sterbensphilosophie nicht wirklich gelungen fand. Mir wäre ein entschiedenen entweder oder lieber gewesen. Also entweder Krimi oder Mutmachbuch zum Thema Tod. Es gibt mit Sicherheit viele Kinder, denen es wie Valentin geht. Die mit Trauer oder Verlust umgehen müssen. Aber wie viele davon bekommen die Gelegenheit sich anhand der Aufklärung einer Diebesserie selbst zu therapieren in dem sie in Lebensgefahr geraten? Sicher nicht allzu viele. Das Identifikationspotential ist daher sicher gering.

Was die Identifikation und damit das Interesse zusätzlich erschweren dürfte: Valentin ist einfach “uncool”. Seine Sprache ist um einiges zu ernst bzw. zu erwachsen. Das Buch hat unnötige Längen, die selbst mich als Erwachsenen Leser um die Geduld brachten. Mein Fazit: Ich habe das Buch aus der Bibliothek entliehen, würde es aber nicht kaufen oder im Rahmen meiner Tätigkeit als Vorlesepatin verwenden.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 23.04.2013
Der Poet der kleinen Dinge
Roger, Marie-Sabine

Der Poet der kleinen Dinge


sehr gut

Alex arbeitet in einer Hühnerfabrik in der Normandie. Sie wohnt zur Untermiete bei Marlène und Bertrand. Mit im Haus wohnt Bertrands geistig und körperlich behinderter Bruder Gérard, den Alex liebevoll Roswell nennt. Marlène ist die Belastung durch Gérard leid. Lieber heute als morgen möchte Sie ihn loswerden. Alex, die Gérard ins Herz geschlossen hat, möchte das verhindern. Gemeinsam mit Cédric und seinem Freund Olivier, zwei gestrandeten Existenzen, entwickelt Sie einen Rettungsplan.

“Der Poet der kleinen Dinge” ist eine einfache, aber ergreifende Geschichte. Zwei Erzähler wechseln sich in der Ich Form ab. Alex, die junge Hilfsarbeiterin und Cédric, der mit seinem Kumpel Olivier dem “Zackenfisch” am Kanal lebt. Beide haben einen guten Blick für Ihre Umgebung, für die Menschen und für die Sorgen, Nöte und Wahrheiten des Lebens. Marie-Sabine Roger macht keine großen Worte. Aber die ebenso kurzen, wie eingängigen Sätze prägen sich umso tiefer ein.

“Es war nie mein Traum, Hühnereier mit Formaldehyd zu begießen, um Bakterien abzutöten. Kennen sie irgendjemanden, dessen Traum das wäre? Sein Leben mit beiden Füßen in der Scheiße zu verbringen, im Höllengestank einer Hühnerfarm? Aber da ich an Schicksal glaube, sage ich mir, dass es irgendwo einen großen Plan geben muss, hoch über meinem Kopf. Dass es für das alles einen Grund gibt”.

Dieser Grund scheint Roswell zu sein. Alex ist die einzige, die ihn ernst nimmt, ihm zuhört, ihn versteht. Sie schafft es in seine scheinbar abgeschlossene Welt einzudringen. Sie erkennt, dass er noch immer die Gedichte rezitieren kann, die er von seiner ihn über alles liebenden Mutter gelernt hat. “Er konzentriert sich, zischt und spuckt, zerhackt die Wörter, aber ich bin mir sicher, dass er genau versteht, was er sagt.” Sie bemerkt auch seine Sehnsucht nach draußen zu kommen. Kurzerhand packt die junge Frau den zum Laufen nicht fähigen in einen alten Bollerwagen und fährt mit ihm spazieren.

Während dieses Spazierganges sinniert Alex das erste Mal über ihr besonderes Verhältnis zu Gérard. “Es gibt nichts an ihm, das nicht missraten, entstellt, erschreckend oder lächerlich wäre. Nichts bis auf seinen Welpenblick, der so sanft ist, dass man es gar nicht beschreiben kann. Nichts bis auf sein schallendes Lachen, voller Leben und Humor. Aber dieses Nichts reicht aus, um etwas in mir zu wecken. Gefühle, die ich nicht verstehe. Die Lust ihm zuzuhören, ihn am Kanal entlang zu fahren. Scheiß auf die Deppen, die loslachen, wenn Sie Roswell sehen. Die wahren Monster sind sie.”

Zwei dieser “Monster” lernen Sie auf den Spaziergängen kennen. Cédric und Olivier werden im Verlauf der Geschichte jedoch zu Freunden und Helfern. Gemeinsam ringen die drei dem Lauf des Schicksals eine gute Wendung für Gérard und schließlich auch für sich selbst ab.

Gründe für die Lektüre dieses Buches gibt es einige. Einer könnte sein zu erkennen, dass das “Monster” der Intoleranz, der Ablehnung, der Gleichgültigkeit und oft auch der Herzlosigkeit in uns allen schlummert. Das es aber oft nur wenig braucht um das zu ändern. Ganz wie Alex an einer Stelle bemerkt: “Und ich sagte mir, dass es doch sehr wenig braucht, damit Leute anfangen zu leben”. Den “Poet der kleinen Dinge” zu Lesen, wäre ein guter Anfang.

Bewertung vom 22.04.2013
Der Hodscha und die Piepenkötter
Bingül, Birand

Der Hodscha und die Piepenkötter


sehr gut

Als der neue Imam des Moscheevereins Gabrielstraße Nuri Hodscha seine zukünftige Wirkungsstätte besichtigt ist er ob deren heruntergekommenen Zustand entsetzt. Da er dort vom örtlichen Klatschreporter Bob Winter erwartet wird, beschließt er die Gunst der Stunde zu nutzen und seine Ankunft in der mittelgroßen deutschen Stadt mit einem Paukenschlag kundzutun. “Neuer Imam fordert repräsentative Großmoschee” lautet die Schlagzeile die am nächsten Morgen für Aufregung sorgt und Ursel Piepenkötter, die Oberbürgermeisterin, dazu veranlasst erst einmal die Salami Taktik anzuwenden: Verzögern, tricksen, tarnen, täuschen. Bald schon muss sie jedoch erkennen, das auch der neue Hodscha die Handhabung dieser Vorgehensweise beherrscht.

Was nun folgt ist ein unterhaltsamer Schlagabtausch zweier Dickköpfe. Auf der einen Seite die konservative Vollblutpolitikerin Ursel Piepenkötter, die in sechs Wochen erneut zur OB gewählt werden will. Das letzte was sie auf der Zielgeraden zur Wiederwahl brauchen kann, ist die öffentliche Kontroverse um den Bau einer Moschee. Auf der anderen Seite der, nur auf den ersten Blick, behäbig wirkende Nuri, dessen Zwangsversetzung nach Deutschland seine letzte Chance darstellt sich als Hodscha zu profilieren und zwar mit dem Neubau einer Moschee.

Die beiden Kontrahenten kommen auf die absurdesten Ideen. Nuri macht Ursel bei ihrer ersten Begegnung vor der Presse lächerlich. Sie setzt ihm als Retourkutsche ein überlebensgroßes Kreuz vor die islamische Kirche. Sie schrecken auch nicht davor zurück die eigenen Kinder als Spione gegeneinander auszuspielen. Hülya, die sechzehnjährige Tochter Hodschas geht in dieselbe Klasse wie Ursels Sohn Patrick. Beide verlieben sich und geraten unfreiwillig zwischen die Fronten. Was zu diversen Verwicklungen führt, die der Autor witzig aber, in Bezug auf die Liebenden, sehr feinfühlig umsetzt.

Eine Podiumsdiskussion zur Stellung der Frau im Islam (zu der Ursel bei einem Kaffeekränzchen der Frauenunion genötigt wird), ein multikonfessionelles Fußballturnier (bei dem ein afrikanischer Oberligaspieler kurzfristig zum Islam konvertieren muss um Nuris Mannschaft ins Finale zu schießen) und die gemeinsame Jagd auf einen radikalen Hassprediger (bei dem sich Osman der stille Hausmeister der Moschee als Computergenie erweist und Ursel und Nuri den Hintern rettet) sind weitere Stationen auf dem Weg der Streithähne. Das sie alleine immer öfter in Sackgassen geraten, treffen sie sich nachts in Ursels Gartenlaube, wo sie sich in fröhlicher Feindseligkeit diverse Feldzüge ausdenken um die Gegenparteien in Schach zu halten. Die Option den anderen dabei zum eigenen Vorteil auszuschmieren, halten sich beide aber immer offen.

Jedes Kapitel ist mit einem Hinweis zum Inhalt übertitelt. Beispielsweise: “Wie der Hodscha und die Piepenkötter wegen der Frau im Islam aneinandergerieten”. Die Abschnitte in den Kapiteln sind mit dem Datum und der Anzahl der verbleibenden Tage bis zur Wahl gekennzeichnet. Das erleichtert nicht nur den zeitlichen Überblick sondern vermittelt auch die spezielle Dynamik. Je weniger Zeit bis zum Wahlsonntag desto verzweifelter die Maßnahmen. Das dieser am Ende einige Überraschungen zu bieten hat verwundert nicht.

Birand Bingüls “Der Hodscha und die Piepenkötter” ist eine geistreiche Auseinandersetzung mit einem Thema das derzeit die deutsche Öffentlichkeit beschäftigt, nachdem in der letzten Woche der neue Innenminister Friedrich die Zugehörigkeit des Islam zu Deutschland öffentlich hinterfragte. Mit seinem satirischen Roman blickt er auf unterhaltsame Weise hinter die Fassade. Und in den Zwiegesprächen die Nuri mit Allah führt um sich dessen Beistand zu sichern, schenkt er uns sogar ein wenig göttliche Weisheit.