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Bücherbummler

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Insgesamt 110 Bewertungen
Bewertung vom 26.09.2022
Reise ohne Wiederkehr oder Die geheimen Hefte des Michel Adanson
Diop, David

Reise ohne Wiederkehr oder Die geheimen Hefte des Michel Adanson


gut

Viel hat Aglaia von ihrem Vater Michel Adanson nicht gehabt. Naturforscher war er, hat einen Teil seines Lebens im Senegal verbracht, und dann mit seinem ehrgeizigen Projekt, eigenhändig eine Enzyklopädie über die Flora und Fauna Afrikas zu verfassen. Für Frau und Kind war wenig Raum und Vater und Tochter kamen sich erst kurz vor seinem Tod ein wenig näher. Jetzt ist Michel gestorben und hat Aglaia sein Hab und Gut hinterlassen. Darunter auch eine für sie aufgeschriebene Geschichte von seinem Aufenthalt im Senegal. Wie er Maram, die junge Heilerin, kennen und lieben lernte, und wie sein Heimatland Frankreich die Kolonien in Afrika unterdrückt und ausbeutet hat.

Ich weiß nicht, ob jeder Leser dieses Gefühl kennt, aber manchmal treffe ich auf Bücher, die sich, ohne ersichtlichen Grund, in Relation zu mir wie einander abstoßende Magnetpole verhalten. „Reise ohne Wiederkehr“ von David Diop war ein solches Buch. Trotzdem ich stilistisch nichts auszusetzen hatte, war es mir kaum möglich, mich auf das Geschriebene zu konzentrieren, kam ich in die Geschichte einfach nicht rein. Vielleicht lag es daran, dass der Roman das Flair einer Abenteuergeschichte à la Joseph Conrad ausstrahlt, ein Genre, das mich allgemein nicht sehr anspricht. Vielleicht aber auch daran, dass wenig Atmosphäre und Tiefe in der Zeichnung des Protagonisten entstand. Die Distanz zu der Haupt- und allen anderen Figuren war so groß, dass sie und ihr Schicksal mir fast schon gleichgültig waren. Vielleicht habe ich auch einfach nicht verstanden, warum sich Diop eine reale Person für eine fiktive Geschichte ausgesucht hat (jedenfalls unterstelle ich ihr, fiktiv zu sein).

Schreiben kann Diop, daran möchte ich gar keinen Zweifel aufkommen lassen. Herausgestochen ist er für mich aber auch hier nicht. Neugierig macht mich allerdings die Frage, ob sein Roman „Nachts ist unser Blut schwarz“, der unter anderem mit dem Prix Goncourt und dem International Booker Prize ausgezeichnet wurde, anders ist. Ob ich da das Leseerlebnis finden würde, was ich hier vermisst habe. Vielleicht werde ich es herausfinden, aber bis dahin kann ich nur eine sehr verhaltene Leseempfehlung geben.

Bewertung vom 21.09.2022
Ich Verliebe Mich So Leicht (Ungekürzt)

Ich Verliebe Mich So Leicht (Ungekürzt)


sehr gut

Ein 50-Jähriger ist unterwegs nach Schottland. Denn dort wohnt die Frau, in die er sich verliebt hat. 20 Jahre jünger ist sie, eine kurze Affäre war es, die sie in Paris hatten. Nur eine Affäre, denn die junge Frau hat einen anderen. Aber den Mann lassen seine Gefühle einfach nicht los. Und so ist er auf dem Weg zu ihr, beladen mit Hoffnungen, Träumen und Unsicherheiten.

Eigentlich interessieren mich Beziehungsgeschichten nicht sonderlich. Vor allem, wenn sich alles um sie dreht, das Geschehen auf diesen einen Aspekt fokussiert oder reduziert wird. Männer in ihrer (vermuteten) Midlife-Crisis, die sich in deutlich jüngere Frauen auf Gedeih und Verderb verlieben, finde ich auch nicht wirklich aufregend. Was „Ich verliebe mich so leicht“ (übrigens Gewinner des Prix du roman d’amour 2007) von Hervé Le Tellier trotzdem zu einer Hörfreude für mich gemacht hat, ist der intelligente und treffende Humor, mit dem er diese kurze Geschichte erzählt. Die Ironie, die Reflexion, das Durchbrechen der vierten Wand... Ein Paradebeispiel für einen Anti-Helden. Hier ist ein Autor erfrischend eigen und vielschichtig, ersetzt Sentimentalitäten und Gefühlsgeschwafel durch echtes Leben. Ist amüsant, ohne albern oder gefällig zu werden.

Und noch etwas hat mich zu einem kleinen Fan dieses Hörbuchs gemacht: die Interpretation Uve Teschners als Leser. Ich gestehe ihm mindestens 50 % des Erfolges zu, denn stimmiger und mitreißender hätte es nicht sein können. Teschner gehört zu den seltenen Sprechern, bei denen man gezielt danach sucht, was sie noch eingelesen haben.

„Ich verliebe mich so leicht“ ist ein dünnes Büchlein, gerade mal anderthalb Stunden dauert die ungekürzte Hörbuchversion. Und in diesem Fall denke ich, dass das auch gut so ist. Denn bei aller Freude am Produkt ist diese Art des Erzählens doch eine, die schnell in ein Zuviel kippen kann. Le Tellier hat genau dosiert und eine Lese- bzw. Hörempfehlung ist hier eindeutig verdient. Ein Autor, von dem ich auf jeden Fall noch mehr lesen/hören möchte.

Bewertung vom 19.09.2022
Kangal
Schentke, Anna Yeliz

Kangal


sehr gut

Dilek hält es nicht mehr aus. Seit dem Putschversuch der Armee im Juli 2016 ist es in Istanbul für Kritiker des Regimes noch unsicherer geworden, als zuvor. Deswegen war Dilke bisher vor allem in der Anonymität des Internets tätig. Als Kangal1210 hat sie ihre Meinungen verbreitet, aber als einer aus ihrer Gruppe verhaftet wird, packt sie ihre Sachen und fliegt nach Deutschland. Ohne ihren Freunden oder ihrem Lebenspartner Tekin ein Wort zu verraten. In Deutschland ist Dileks Cousine Ayla. Aber in Deutschland ist auch die Erkenntnis, dass ein Gefühl von Sicherheit und Vertrauen keine Frage des Aufenthaltsortes ist.

Aus vier Perspektiven erzählt Anna Yeliz Schentke in ihrem Debüt „Kangal“ über das Lebensgefühl junger Türken in unseren Zeiten. Zum einen ist da Dilek, die, von der Angst getrieben, die Frage danach, wem man vertrauen, wem man sich öffnen kann, auf die eigene Familie ausweiten muss. Die ihre Grenzen kennt und lieber geht, bevor die Polizei sie holt. Ihr fast diametral gegenüber steht ihr Freund Tekin, für den Flucht keine Option ist, egal, wie gefährlich es wird. Ayla schließlich lebt zwar in Deutschland, fühlt sich aber durchaus auch als Türkin. Durch ihr Leben außerhalb der Türkei fehlt es ihr aber an einem echten Zugang zu der dortigen Lebensrealität. Und dann sind da noch die namenlosen Stimmen, in einer anderen Schriftart gedruckt, die man nicht genau zuordnen kann. Gehört eine davon Dilek? Dem Freund im Gefängnis? Unbekannten, die mit ihren Worten das Puzzle vervollständigen sollen?

Alles in allem hat mir „Kangal“ gut gefallen, weil es mir einen Teil türkischer Geschichte und wohl auch Lebensrealität näher gebracht hat, den ich nur noch dunkel in Erinnerung hatte, und über dessen Auswirkungen bis in unsere Zeit ich gar nichts wusste. Man neigt schnell dazu, Gruppen von außen als eine glatte Einheit zu erfassen, ohne die Kluften, die durch diese Gruppe geht, Familien und Freundschaften zerstören kann, wahrzunehmen. „Kangal“ deckt diesen Fehler auf, erinnert einen daran, dass eine Gesellschaft nicht nur vielschichtig ist, sondern auch von tiefen Klüften durchzogen sein kann, die ein Zusammenleben schwer bis fast unmöglich machen.

Schade fand ich, dass bei Schentke alle Stimmen gleich klingen. Die kurzen Kapitel sind mit dem betreffenden Namen überschrieben, aber ohne den hätte ich nicht sagen können, in wessen Gedanken wir uns gerade befinden. Dadurch haben die Charaktere für mich an eigener Dynamik und Tiefe viel verloren, eine Verbindung, ein echtes Interesse an ihren Schicksalen, ist bei mir nicht entstanden.

„Kangal“ ist dieses Jahr auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. Ich hätte es dort nicht gesehen, denn obwohl ich es als ein recht gutes Buch bezeichnen würde, hat mir der Wow-Effekt gefehlt. Trotzdem würde ich es weiterempfehlen, weil es mir neue Aspekte und Stoff zum Nachdenken geliefert hat. Ein Kriterium, das ich hoch schätze. Und weil ich finde, dass es ein mutiges Buch ist. Darum gibt es eine leicht verhaltene Leseempfehlung.

Bewertung vom 17.09.2022
Die Welt vor den Fenstern
Beek, Tatjana von der

Die Welt vor den Fenstern


sehr gut

Maia und ihre Familie wohnen in einem Haus am Waldrand. Ihre Familie, das sind die Großmutter, Maias Mutter, Tante, Onkel und ihre Cousine. Das Haus ist eines, das niemand jemals verlässt. Es hat nicht einmal Türen zur Außenwelt. Für das, was man zum Überleben braucht, werden Glasglocken auf bestimmte Stellen des Bodens gestellt, in denen sich das Benötigte manifestiert. Alle in der Familie sind nach Sternen benannt, Charakter und Konstellationen in den Beziehungen scheinen sich nach diesen Namensvettern zu richten. Überhaupt spielt die Astronomie eine große Rolle im Alltag, gehört zum einzigen, womit man sich, neben den Aufgaben im Haushalt, beschäftigt. Maia hat das alles nie hinterfragt, für sie gab es nie etwas anderes. Doch dann macht sie eines Tages eine Entdeckung, die ihr ganzes Glaubenskonstrukt zusammenbrechen lässt. Und sie beschließt, dem Rätsel auf die Spur zu kommen.

Ganz kurzgefasst hat mich „Die Welt vor den Fenstern“ von Tatjana von der Beek von Anfang an gepackt. Ein beeindruckendes Debüt von einer jungen Autorin, die schon ihren ganz eigenen Ton gefunden hat. Von der Beek gehört eindeutig zu den Schriftstellerinnen, die es verstehen, einen direkt vor Ort dabei sein zu lassen, ihr Stil spricht alle erreichbaren Sinne an. Die feinfühlige Stimmung, die sie mit ihrer klaren, schönen Sprache schafft, die auf der einen Seite wohlige Harmonie, auf der anderen das über allem hängende Enigma durchschimmern lässt, ist - ja, ich habe dieses Wort gerade eben schon einmal verwendet, aber es ist nun mal so - beeindruckend.

Diese Unmittelbarkeit allein hätte schon gereicht, mich an das Buch zu fesseln, aber die Neugierde, was hinter dem Lebensstil dieser ungewöhnlichen Familie steht, hat sein Übriges getan. Trotzdem von der Beek sehr ruhige erzählt, sich viel Zeit für Details und kleine Beobachtungen lässt, zieht sie den Spannungsbogen gezielt und ohne Unsicherheiten. Wie einen roten Faden, den man fast traumwandlerisch folgt.

Und gerade weil alles so wunderbar stimmig, so rund und komplett war, habe ich mich nach Beendigung des Buches im Stich gelassen gefühlt. Es ist unmöglich, darüber zu schreiben, ohne zu viel zu verraten, aber was, Frau von der Beek, was haben Sie sich nur dabei gedacht? So wurde aus einer perfekten Lektüre eine nur fast perfekte Lektüre. Aber gut, das ist ja auch noch eine Menge wert. Sollten Sie noch einen Roman schreiben, haben Sie mich jedenfalls als Leserin an Bord.

Leseempfehlung!

Bewertung vom 15.09.2022
Hotel Seattle
King, Lily

Hotel Seattle


sehr gut

Ein Buchladenbesitzer, der sich in seine Angestellte verliebt. Eine Mutter, die nach dem Tod ihres Mannes keinen Zugang zu ihrer Tochter bekommt. Ein junger Mann, der sich endlich traut, seinem besten Freund zu sagen, dass er homosexuell ist. Eine Frau, die sich von dem Vater ihrer Freundin angezogen fühlt. Ein Buch, das noch gar nicht geschrieben wurde. Das sind nur fünf der insgesamt zehn Szenarien, in die uns Lily King in ihrem neuen Erzählband „Hotel Seattle“ entführt.

Und damit beweist, was sie drauf hat. Ihre Erzählungen haben kein gemeinsames Grundthema, spiegeln dafür aber eine enorme Bandbreite an Persönlichkeiten und Schicksalen. King beherrscht die gesamte Tonleiter menschlicher Gefühle, gibt ihren Figuren unverwechselbare Stimmen, die im Gedächtnis bleiben.

Nicht alle Erzählungen haben mir gleich gut gefallen, nicht alle haben sich für mich rund angefühlt oder mich inhaltlich angesprochen. Aber jede einzelne hat mich unmittelbar hineingezogen. Gleichgültig, oder gar gelangweilt, wie es mir bei Erzählungen durchaus mal passieren kann, war ich keinen einzigen Moment.

Lily King gehört für mich zu der handvoll Autoren, von denen ich alles lesen möchte, das war schon nach meiner ersten Begegnung mit ihrem Werk so, und hat sich durch „Hotel Seattle“ noch einmal verstärkt.

Und ich möchte auch mal wieder die Gelegenheit nutzen, das schöne Cover zu erwähnen. Farbintensiv und bunt, genau wie der Inhalt.

Erzählungen zu besprechen finde ich schwer. Im Prinzip müsste man sich mit jeder Geschichte einzeln befassen, was den Rahmen wiederum sprengen würde. Man kann es aber auch ganz kurz machen: Leseempfehlung!

Bewertung vom 13.09.2022
Gangsta-Oma schlägt wieder zu! / Gangsta-Oma Bd.2 (MP3-Download)
Walliams, David

Gangsta-Oma schlägt wieder zu! / Gangsta-Oma Bd.2 (MP3-Download)


sehr gut

Ein Jahr ist seit dem Tod von Bens Großmutter vergangen und er vermisst sie nach wie vor wie verrückt. Denn Bens Großmutter war nicht irgendeine Großmutter, sie war eine Gangsta Oma, eine international bekannte und gefürchtete Juwelendiebin, auch „die schwarze Katze“ genannt. Bei ihrem letzten Coup hat Ben sie begleitet und gemeinsam haben sie versucht, die Kronjuwelen der Königin zu stehlen. Fast wäre es ihnen sogar gelungen, aber leider (oder glücklicherweise) wurden sie ertappt. Ausgerechnet von der Queen persönlich. Was auch seine Vorteile hatte, denn so konnte Ihre Majestät die beiden gleich vor Ort begnadigen. Aber die spannenden Zeiten sind nun vorbei. Oder doch nicht? Auf einmal beginnt eine Serie von Verbrechen, die genau dem Schema der Gangsta Oma folgen. Ben gerät in Verdacht und beschließt, dem Täter auf die Spur zu kommen. Ein neues Abenteuer beginnt, in dem Ben auch die Queen wiedertreffen wird. Und eine geheimnisvolle schwarze Katze, die ihn nicht von der Seite zu weichen scheint.

Die Kinderbücher von David Walliams (eher bekannt aus seiner Fernsehserie „Little Britain“ und als Jurymitglied bei „Britain’s Got Talent“) sind nicht unumstritten. Sie seien rassistisch, voller Klassendünkel und Bodyshaming, ein „Little Britain“ für Kinder sozusagen. Ich habe bisher nur zwei der mittlerweile über zwei Dutzend Bücher gelesen (bzw. gehört), und kann es deswegen nicht wirklich beurteilen, aber wahrhaft empörendes ist mir nicht aufgefallen. Walliams neigt durchaus dazu, die Grenzen des guten Geschmacks mal zu übertreten und ins Unappetitliche abzugleiten, aber bekannterweise finden Kinder wenig lustiger, als wenn es eklig wird. Und diese Stellen sind sehr sparsam gestreut, keine Sorge.
Walliams ist kein Philip Ardagh, meinem Großmeister der witzigen britischen Kinderliteratur, aber er hat durchaus Talent für umwerfende Situationskomik und originelle Charaktere.

Originelle Charaktere, die Dietmar Bär großartig zum Leben erweckt. Es war meine erste Begegnung mit Bär als Hörbuchsprecher, aber ich erkläre mich hiermit offiziell zum Fan. Ich wage zu bezweifeln, dass ich mich, hätte ich selbst gelesen, auch so gut unterhalten gefühlt hätte. Laut gegrunzt vor Lachen hätte ich jedenfalls garantiert nicht.

„Gangsta Oma schlägt wieder zu“ ist ein Hörbuch, das tatsächlich allen Altersgruppen Spaß machen kann. Und ich hoffe, dass die Queen es vor ihrem Tod noch dazu kam, ihren Enkeln vorzulesen. Dann hätte sie endlich einmal Grund gehabt, „amused“ zu sein.

Bewertung vom 11.09.2022
Der Fluss ist eine Wunde voller Fische
Salazar, Lorena

Der Fluss ist eine Wunde voller Fische


ausgezeichnet

Das Boot ist unterwegs auf dem Fluss Altrato in Kolumbien. Unter den Passagieren sind eine Frau und ihr kleiner Sohn. Nichts Ungewöhnliches, außer, dass die Mutter weiß, der Junge aber schwarz ist. Und die Frau eben nicht die biologische Mutter des Kindes. Einige Jahre ist es her, dass die leibliche Mutter der Frau den Jungen, damals noch ein Baby, in die Arme drückte und verschwand. Und die Frau den Kleinen aufzog, als wäre er ihr eigenes Kind. Aber jetzt ist ein Brief von jener „echten“ Mutter gekommen, der sagt, dass sie ihr Kind sehen möchte. Und so hat sich die Frau aufgemacht zu einer Reise auf einem Fluss, der sie in die Erinnerungen der Vergangenheit und die Schrecken der Zukunft führen wird.

„Der Fluss ist eine Wunde voller Fische“ von Lorena Salazar ist ein Buch, dass ich mir allein wegen seines bizarren Titels fast hätte entgehen lassen. Aber zum Glück nur fast. Dieser Roman hat mich in erster Linie durch seine Sprache beeindruckt. Dass eine junge Autorin schon in ihrem Debüt eine ganz eigene Ausdrucksweise findet, erlebt man nicht so häufig. Noch dazu eine, die sich dem Leser nicht anbiedert, sondern ein Stück weit seine Aufmerksamkeit fordert. Ohne aber je anstrengend zu werden. Eine poetische Sprache mit Ecken und Kanten, ähnlich einem Fluss, der gleichmäßig dahin strömt, aber durch viele kleine Hindernisse Turbulenzen verursacht. Und auch die Geschichte selbst passt sich der Fluss-Metapher an. Lange fließt sie, wiegt einen in Sicherheit, bis die Ereignisse sich plötzlich überschlagen und kalt erwischen.

„Der Fluss ist eine Wunde voller Fische“ ist einer jener Schätze, die noch nach der Beendigung der Lektüre in einem nachklingen. Die ihre Wirkkraft dann sogar erst richtig entfalten. Eines jener Leseereignisse, die man nur schwer in Worte fassen kann. Lorena Salazar wird man jedenfalls im Auge behalten müssen. Eine große Leseempfehlung!

Bewertung vom 09.09.2022
Die leise Last der Dinge
Ozeki, Ruth

Die leise Last der Dinge


gut

Ein Jahr ist es her, dass Benny Oh seinen Vater bei einem Unfall verloren hat. Seitdem hört er Stimmen. Erst die seines Vaters, doch die verschwindet, und jetzt sind es die Stimmen von Gegenständen. Obwohl es nicht wirklich Stimmen sind, sondern eher Geräusche, Seufzer, die Trauer einer Fensterscheibe, an der sich ein Vogel das Genick gebrochen hat, das Stöhnen eines Löffels, der in eine Regenrinne gefallen ist. Und die Stimme des Buches, das Bennys Geschichte erzählt...
Freundschaften schließt Benny in dieser Zeit mit anderen Außenseitern wie Alice/das Aleph, die er bei einem ersten Aufenthalt in einer psychosomatischen Klinik kennenlernt, und dem Obdachlosen Flaschen-Mann.

Annabelle, Bennys Mutter, trauert auf ihre eigene Weise. Sie nimmt an Gewicht zu und begräbt ihre Trauer im Ansammeln von Dingen, die die Doppelhaushälfte der Ohs im Chaos versinken lassen. Alles wächst ihr über den Kopf, bis schließlich der Rauswurf aus der Wohnung und Entzug des Sorgerechts für Benny drohen.

Dem Roman „Die leise Last der Dinge“ von Ruth Ozeki konnte man, besonders im englischsprachigen Raum kaum entkommen. Er schien immer und überall aufzutauchen und gewann schließlich den Women’s Prize for Fiction 2022. Auch ich war neugierig auf diese Geschichte über den Jungen, der Stimmen hört, geriet aber beim Lesen schnell ins Schwimmen.
Sowohl inhaltlich als auch stilistisch hätte ich das Buch nicht als möglichen Kandidaten für den Women’s Prize eingestuft, als Gewinner schon gar nicht. Was ich gelesen habe, war eher ein Jugendbuch. Kein herausragend gutes, aber zumindest eins, dem ich, in Anbetracht der Zielgruppe, vieles nachgesehen hätte (unter anderem den prätentiösen und nervtötenden Tonfall des erzählenden Buches).

Hätte sich Ozeki darauf beschränkt, die Geschichte über einen Jungen und seine Mutter zu erzählen, die nach dem plötzlichen Tod des Vaters bzw. Ehemannes mit posttraumatischen Belastungsstörungen zu kämpfen haben, hätte es ein bewegender und nachdenklich machender Roman werden können. Aber die Vermischungen mit Elementen, die aus dem Zen Buddhismus zu kommen scheinen, mich in dieser Form aber eher an ein halbseidenes Selbsthilfebuch in Romanform erinnert haben (inklusive der Auszüge aus Annabelles tatsächlichem Selbsthilfebuch „Tidy Magic“. Marie Kondo lässt grüßen), waren mir zu platt und konstruiert. Natürlich kann man Trauer und daraus entstehende Krankheiten als Station oder sogar als Aufgabe auf dem Lebensweg und der eigenen Entwicklung sehen. Aber wenn der Lösungsansatz dann aus etwas besteht, das ich mal Kuschel-Surrealismus nennen möchte, geht für mich ein wesentlicher Teil der Tiefe und Ernsthaftigkeit verloren.

Ich bete es fast gebetsmühlenartig in meinen Rezensionen runter, aber für „Die Leise Last der Dinge“ gilt es womöglich noch stärker, als für andere Bücher: Jeder Leser liest sein eigenes Buch. Dieser Roman wird auf vielen „Top Ten“ des Jahres stehen, sich zu Lieblingsbüchern gesellen und Leser tief berühren. Und auch ich werde es weiter mit Büchern von Ozeki probieren, aber dieses konnte meine (zugegebener Maßen recht konkreten) Erwartungen nicht erfüllen.

Bewertung vom 07.09.2022
True Crime. Der Abgrund in dir (MP3-Download)
Hausmann, Romy

True Crime. Der Abgrund in dir (MP3-Download)


sehr gut

True Crime boomt auf allen Kanälen. Bücher, Verfilmungen, Dokumentationen, Podcasts, alleine, zu zweit, im Team, professionell, von Laien gemacht… Man findet die Darstellung des realen Verbrechens in allen möglichen Formen, und oft frage ich mich, was uns Menschen, die im Angesicht der täglichen Nachrichten eigentlich schon mit genug Elend konfrontiert werden, dazu treibt, uns freiwillig noch mehr Grauen aufzuladen.

Eine Frage, die auch Romy Hausmann in ihrem Buch „True Crime – Der Abgrund in dir. Was den Menschen zum Mörder macht“ (liebe Verantwortliche, muss es wirklich so reißerisch sein? Noch dazu, wo gerade die Frage, was einen Menschen zum Mörder macht, die ist, die im Buch am wenigsten Beachtung findet?) aufgreift. Eine unter vielen, denn Hausmann scheint es wirklich wissen zu wollen, erforscht fast jeden Aspekt des Phänomens.

Dafür hat sie Geschichten ausgewählt, die nicht zu den bekanntesten zählen. Jedenfalls, soweit ich das beurteilen kann. Mir war zumindest nur der bloß am Rande gestreifte Fall von Elisa Lam und der der Mukbang-Youtuberin Kate Yup bekannt. Schon hier stellt Hausmann sich breitgefächert auf, gibt mal dem Opfer, mal dem Täter eine Stimme, berichtet über Morde durch Verwandte, über Zufallsopfer, aber auch über einen unschuldig Verurteilten, ein Verschwinden, das vielleicht keines ist, und eine junge Frau, deren vermutlicher Mord von der Justiz als Selbstmord bewertet wurde. Dieser letzte Fall, der Fall Phoebe Handsjuk, scheint Hausmann besonders am Herzen zu liegen. Er umrahmt gewissermaßen die anderen zehn Fälle, wird immer wieder aufgegriffen. Und wenn man die Ausschnitte aus der Korrespondenz mit Phoebes Mutter und Großvater hört, versteht man auch, warum er eine so zentrale Stelle eingenommen hat. Hier wird die Wucht des Schmerzes der Hinterbliebenen so greifbar, dass man nicht anders kann, als erneut seine Rolle als „Konsument“ zu hinterfragen.

Nach jedem Fall lässt Hausmann einen Fachmann zu Wort kommen, der einen näheren Einblick in einen relevanten Aspekt des gerade erzählten Falles näher beleuchten. Dafür spricht sie unter anderem mit Psychologen, Beamten im Rechtswesen, Reportern, Podcastern und Medizinern, klärt Fragen zur körperlichen, psychischen und rechtlichen Lage. Und ja, auch auf unsere fragliche Rolle als „Zuschauer“ wird eingegangen. So viel sei verraten: Der Lösungsansatz ist zumindest schlüssig, wenngleich man über die Angemessenheit der Sache trotzdem seine moralischen Zweifel behalten kann.

Nicht zuletzt ist Hausmann natürlich auch Autorin von Thrillern und damit jemand, der selbst von der Frage nach der Faszination betroffen ist. Und nach jener, was es mit einem macht, wenn man sich beruflich Tag für Tag damit beschäftigt, sich stundenlang in eine Welt begibt, die nur aus Brutalität und Wahnsinn zu bestehen scheint. Diesem Aspekt des Themas wird sie gerecht, in dem sie Zitate von Schriftstellerkollegen über ihre Arbeit einfließen lässt, aber auch eigene Tagebucheinträge, in denen sie über das, was das Schreiben an diesem Buch mit ihr macht, reflektiert.

Diese Tagebucheinträge liest die Autorin in der Hörbuchversion selbst, während die Fälle und die Antworten ihrer Interviewpartner von Heike Warmuth und Oliver Kube eingelesen werden. Diese Mischung finde ich nur bedingt gelungen, weil der Unterschied zwischen Laien und Schauspieler besonders die Interviews künstlich klingen lässt. Ich vermute, dass man sich für diese Lösung entschieden hat, um die Interviews der schriftlichen Bearbeitung anzupassen. Ganz davon abgesehen, dass einige Unterhaltungen auch auf Englisch geführt wurden. Und Warmuth und Kube machen ihre Sache durchaus gut.

Meine innere heile Welt sträubt sich ein wenig, einem Buch eine Empfehlung zu geben, das von der Darstellung des Leids anderer lebt. Von einem Leiden, das uns eigentlich nichts angeht, Privatangelegenheit der betroffenen Angehörigen ist. Aber davon abgesehen, dass mich diese Zurückhaltung als Konsument zum Heuchler machen wür