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Bücherbummler

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Insgesamt 104 Bewertungen
Bewertung vom 13.09.2022
Gangsta-Oma schlägt wieder zu! (MP3-Download)
Walliams, David

Gangsta-Oma schlägt wieder zu! (MP3-Download)


sehr gut

Ein Jahr ist seit dem Tod von Bens Großmutter vergangen und er vermisst sie nach wie vor wie verrückt. Denn Bens Großmutter war nicht irgendeine Großmutter, sie war eine Gangsta Oma, eine international bekannte und gefürchtete Juwelendiebin, auch „die schwarze Katze“ genannt. Bei ihrem letzten Coup hat Ben sie begleitet und gemeinsam haben sie versucht, die Kronjuwelen der Königin zu stehlen. Fast wäre es ihnen sogar gelungen, aber leider (oder glücklicherweise) wurden sie ertappt. Ausgerechnet von der Queen persönlich. Was auch seine Vorteile hatte, denn so konnte Ihre Majestät die beiden gleich vor Ort begnadigen. Aber die spannenden Zeiten sind nun vorbei. Oder doch nicht? Auf einmal beginnt eine Serie von Verbrechen, die genau dem Schema der Gangsta Oma folgen. Ben gerät in Verdacht und beschließt, dem Täter auf die Spur zu kommen. Ein neues Abenteuer beginnt, in dem Ben auch die Queen wiedertreffen wird. Und eine geheimnisvolle schwarze Katze, die ihn nicht von der Seite zu weichen scheint.

Die Kinderbücher von David Walliams (eher bekannt aus seiner Fernsehserie „Little Britain“ und als Jurymitglied bei „Britain’s Got Talent“) sind nicht unumstritten. Sie seien rassistisch, voller Klassendünkel und Bodyshaming, ein „Little Britain“ für Kinder sozusagen. Ich habe bisher nur zwei der mittlerweile über zwei Dutzend Bücher gelesen (bzw. gehört), und kann es deswegen nicht wirklich beurteilen, aber wahrhaft empörendes ist mir nicht aufgefallen. Walliams neigt durchaus dazu, die Grenzen des guten Geschmacks mal zu übertreten und ins Unappetitliche abzugleiten, aber bekannterweise finden Kinder wenig lustiger, als wenn es eklig wird. Und diese Stellen sind sehr sparsam gestreut, keine Sorge.
Walliams ist kein Philip Ardagh, meinem Großmeister der witzigen britischen Kinderliteratur, aber er hat durchaus Talent für umwerfende Situationskomik und originelle Charaktere.

Originelle Charaktere, die Dietmar Bär großartig zum Leben erweckt. Es war meine erste Begegnung mit Bär als Hörbuchsprecher, aber ich erkläre mich hiermit offiziell zum Fan. Ich wage zu bezweifeln, dass ich mich, hätte ich selbst gelesen, auch so gut unterhalten gefühlt hätte. Laut gegrunzt vor Lachen hätte ich jedenfalls garantiert nicht.

„Gangsta Oma schlägt wieder zu“ ist ein Hörbuch, das tatsächlich allen Altersgruppen Spaß machen kann. Und ich hoffe, dass die Queen es vor ihrem Tod noch dazu kam, ihren Enkeln vorzulesen. Dann hätte sie endlich einmal Grund gehabt, „amused“ zu sein.

Bewertung vom 11.09.2022
Der Fluss ist eine Wunde voller Fische
Salazar, Lorena

Der Fluss ist eine Wunde voller Fische


ausgezeichnet

Das Boot ist unterwegs auf dem Fluss Altrato in Kolumbien. Unter den Passagieren sind eine Frau und ihr kleiner Sohn. Nichts Ungewöhnliches, außer, dass die Mutter weiß, der Junge aber schwarz ist. Und die Frau eben nicht die biologische Mutter des Kindes. Einige Jahre ist es her, dass die leibliche Mutter der Frau den Jungen, damals noch ein Baby, in die Arme drückte und verschwand. Und die Frau den Kleinen aufzog, als wäre er ihr eigenes Kind. Aber jetzt ist ein Brief von jener „echten“ Mutter gekommen, der sagt, dass sie ihr Kind sehen möchte. Und so hat sich die Frau aufgemacht zu einer Reise auf einem Fluss, der sie in die Erinnerungen der Vergangenheit und die Schrecken der Zukunft führen wird.

„Der Fluss ist eine Wunde voller Fische“ von Lorena Salazar ist ein Buch, dass ich mir allein wegen seines bizarren Titels fast hätte entgehen lassen. Aber zum Glück nur fast. Dieser Roman hat mich in erster Linie durch seine Sprache beeindruckt. Dass eine junge Autorin schon in ihrem Debüt eine ganz eigene Ausdrucksweise findet, erlebt man nicht so häufig. Noch dazu eine, die sich dem Leser nicht anbiedert, sondern ein Stück weit seine Aufmerksamkeit fordert. Ohne aber je anstrengend zu werden. Eine poetische Sprache mit Ecken und Kanten, ähnlich einem Fluss, der gleichmäßig dahin strömt, aber durch viele kleine Hindernisse Turbulenzen verursacht. Und auch die Geschichte selbst passt sich der Fluss-Metapher an. Lange fließt sie, wiegt einen in Sicherheit, bis die Ereignisse sich plötzlich überschlagen und kalt erwischen.

„Der Fluss ist eine Wunde voller Fische“ ist einer jener Schätze, die noch nach der Beendigung der Lektüre in einem nachklingen. Die ihre Wirkkraft dann sogar erst richtig entfalten. Eines jener Leseereignisse, die man nur schwer in Worte fassen kann. Lorena Salazar wird man jedenfalls im Auge behalten müssen. Eine große Leseempfehlung!

Bewertung vom 09.09.2022
Die leise Last der Dinge
Ozeki, Ruth

Die leise Last der Dinge


gut

Ein Jahr ist es her, dass Benny Oh seinen Vater bei einem Unfall verloren hat. Seitdem hört er Stimmen. Erst die seines Vaters, doch die verschwindet, und jetzt sind es die Stimmen von Gegenständen. Obwohl es nicht wirklich Stimmen sind, sondern eher Geräusche, Seufzer, die Trauer einer Fensterscheibe, an der sich ein Vogel das Genick gebrochen hat, das Stöhnen eines Löffels, der in eine Regenrinne gefallen ist. Und die Stimme des Buches, das Bennys Geschichte erzählt...
Freundschaften schließt Benny in dieser Zeit mit anderen Außenseitern wie Alice/das Aleph, die er bei einem ersten Aufenthalt in einer psychosomatischen Klinik kennenlernt, und dem Obdachlosen Flaschen-Mann.

Annabelle, Bennys Mutter, trauert auf ihre eigene Weise. Sie nimmt an Gewicht zu und begräbt ihre Trauer im Ansammeln von Dingen, die die Doppelhaushälfte der Ohs im Chaos versinken lassen. Alles wächst ihr über den Kopf, bis schließlich der Rauswurf aus der Wohnung und Entzug des Sorgerechts für Benny drohen.

Dem Roman „Die leise Last der Dinge“ von Ruth Ozeki konnte man, besonders im englischsprachigen Raum kaum entkommen. Er schien immer und überall aufzutauchen und gewann schließlich den Women’s Prize for Fiction 2022. Auch ich war neugierig auf diese Geschichte über den Jungen, der Stimmen hört, geriet aber beim Lesen schnell ins Schwimmen.
Sowohl inhaltlich als auch stilistisch hätte ich das Buch nicht als möglichen Kandidaten für den Women’s Prize eingestuft, als Gewinner schon gar nicht. Was ich gelesen habe, war eher ein Jugendbuch. Kein herausragend gutes, aber zumindest eins, dem ich, in Anbetracht der Zielgruppe, vieles nachgesehen hätte (unter anderem den prätentiösen und nervtötenden Tonfall des erzählenden Buches).

Hätte sich Ozeki darauf beschränkt, die Geschichte über einen Jungen und seine Mutter zu erzählen, die nach dem plötzlichen Tod des Vaters bzw. Ehemannes mit posttraumatischen Belastungsstörungen zu kämpfen haben, hätte es ein bewegender und nachdenklich machender Roman werden können. Aber die Vermischungen mit Elementen, die aus dem Zen Buddhismus zu kommen scheinen, mich in dieser Form aber eher an ein halbseidenes Selbsthilfebuch in Romanform erinnert haben (inklusive der Auszüge aus Annabelles tatsächlichem Selbsthilfebuch „Tidy Magic“. Marie Kondo lässt grüßen), waren mir zu platt und konstruiert. Natürlich kann man Trauer und daraus entstehende Krankheiten als Station oder sogar als Aufgabe auf dem Lebensweg und der eigenen Entwicklung sehen. Aber wenn der Lösungsansatz dann aus etwas besteht, das ich mal Kuschel-Surrealismus nennen möchte, geht für mich ein wesentlicher Teil der Tiefe und Ernsthaftigkeit verloren.

Ich bete es fast gebetsmühlenartig in meinen Rezensionen runter, aber für „Die Leise Last der Dinge“ gilt es womöglich noch stärker, als für andere Bücher: Jeder Leser liest sein eigenes Buch. Dieser Roman wird auf vielen „Top Ten“ des Jahres stehen, sich zu Lieblingsbüchern gesellen und Leser tief berühren. Und auch ich werde es weiter mit Büchern von Ozeki probieren, aber dieses konnte meine (zugegebener Maßen recht konkreten) Erwartungen nicht erfüllen.

Bewertung vom 05.09.2022
Ellis
Mariani, Selene

Ellis


sehr gut

Ellis, Kind einer deutschen Mutter und eines italienischen Vaters, ist bereits im schulfähigen Alter, als sie nach der Scheidung der Eltern nach Deutschland kommt und nur noch die Sommerferien in Italien verbringt. In der Schule findet sie keinen Anschluss, wird ausgeschlossen und gemobbt. Das ändert sich, als Grace in die Klasse kommt. Sie und Ellis freunden sich an, bilden eine enge Einheit. Bis Grace sich plötzlich denen anschließt, die Ellis bisher das Leben schwer gemacht haben.

Jahre später treffen sich Ellis und Grace zufällig auf der Straße wieder und beschließen, Graces Traum aus der Schulzeit zu erfüllen, und gemeinsam nach Italien zu fahren. Doch auch hier ist die Beziehung der beiden nicht einfach. Ellis wird aufgerieben zwischen dem, was sie sich von Grace erwartet, und dem, was diese bereit ist, zu geben.

„Ellis“ von Selene Mariani ist mit gerade einmal 147 Seiten ein schmales Bändchen und normalerweise würde ich an dieser Stelle anmerken, dass es sehr gut, aber leider zu kurz war. Über „Ellis“ kann ich das erstaunlicherweise nicht sagen. Mariani versteht es, auf diesen wenigen Seiten den Kosmos von Elllis’ Gefühlen kompakt und tiefgreifend darzustellen. Man spürt, wie sie etwas umtreibt, das sie selbst kaum greifen und beschreiben kann. Sich vielleicht auch gar nicht eingestehen möchte. Selten habe ich auf so engem Raum eine so komplexe Entfaltung einer Figur gelesen.

Was mir ein wenig gefehlt hat, ist die Dringlichkeit des Inhalts. Es erstaunt mich selbst ein wenig, weil es mir nicht oft passiert, dass ich hinterfrage, ob eine Geschichte hätte erzählt werden müssen, oder nicht. Aber bei „Ellis“ blieb am Ende eine leichte Unzufriedenheit, die ich nicht erklären kann, besonders, weil die Erzählung in sich durchaus rund ist. Vielleicht liegt es daran, dass ich „Ellis“ eher als schwebendes Gebilde aus Gefühlen erlebt habe, intensiv, aber wenig greifbar. Als etwas, an das man sich wie an einen Traum erinnert, nicht wie an ein reales Erlebnis. Womöglich war mein persönlicher Lesegeschmack damit einfach nicht befriedigt.

Alles in allem aber ein vielversprechendes Debüt, das neugierig auf weitere Werke der Autorin macht. Chapeau!

Bewertung vom 29.08.2022
Denk ich an Kiew
Litteken, Erin

Denk ich an Kiew


gut

Der Begriff Holodomor (ukrainisch Голодомор‚Tötung durch Hunger‘; russisch Голодомор Golodomor) bezeichnet den Teil der Hungersnot in der Sowjetunion in den 1930er Jahren in der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik. In dieser Unionsrepublik fielen dem Hunger schätzungsweise drei bis sieben Millionen Menschen zum Opfer. Die Ukraine bemüht sich seit der Unabhängigkeit 1991 um eine internationale Anerkennung des Holodomors als Völkermord, doch ist diese Bewertung bis heute umstritten.
(Quelle: Wikipedia)

Ukraine, 1929. Katjas Leben in dem kleinen Dorf Sonyaschnyky (nein, mit Kiew hat das Buch rein gar nichts zu tun) ist nicht ungewöhnlich. Sie und ihre Familie müssen hart arbeiten, aber sie haben genug zum Leben und halten zusammen. Katja und ihre Schwester Alina sind in die Brüder vom Nachbarhof, Pawlo und Kolja, verliebt, die Hochzeiten nur noch eine Frage der Zeit. Doch dann weitet Stalin seine wirtschaftlichen Pläne auf die Ukraine aus. Alle Dorfbewohner werden aufgefordert, Mitglieder der Kolchosen zu werden und ihr Hab und Gut abzutreten. Wer sich weigert, wird durch Repressalien zermürbt, wer sich wehrt, nach Sibirien deportiert oder gleich umgebracht. Eine Hungersnot ungeahnten Ausmaßes überzieht Teile des Landes und auch jene, die sich dem Regime beugen, werden nicht davon verschont. Was die Ukraine produziert, wird abtransportiert, die Bevölkerung strategisch dezimiert. Und Katjas sorgenfreies Leben wird zu einem Kampf um Leben und Tod.

USA, 2004. Ein Jahr ist es her, dass Cassie ihren Mann bei einem Autounfall verloren hat. Ihre Tochter Birdie hat knapp überlebt, spricht aber seitdem nicht mehr. Als die beiden zu Cassies langsam gebrechlich werdender ukrainischen Großmutter Bobby ziehen, findet Cassie deren altes Tagebuch. Mit Bobbys Erlaubnis und der Hilfe des Ukrainisch sprechenden Nachbars Nick, enthüllt sie langsam, was ihre Großmutter all die Jahrzehnte vor ihr und vor sich selbst verschlossen gehalten hat. Und beginnt, einen Weg aus ihrer Trauer zu finden.

Zwei mir bis vor kurzem komplett unbekannte Begriffe sind mir im Zusammenhang mit der Ukraine immer wieder begegnet: der Holodomor und das Massaker von Babyn Jar. Letztere Wissenslücke habe ich durch eine online Sightseeing-Tour geschlossen, für erstere fiel mir der Roman „Denk ich an Kiew“ von Erin Litteken in die Hände.

Die Lektüre fiel mir nicht leicht, aber leider aus den falschen Gründen: Ich fand den Roman erschütternd kitschig. Das gilt vor allem für die Kapitel, die in den USA spielen. Aber selbst wenn die Autorin sich auf die Ereignisse in der Ukraine beschränkt hätte, hätte mich das pure Ausmaß an inhaltlicher und stilistischer Melodramatik und das penetrante Gefühl, emotional manipuliert werden zu sollen (zu meiner eigenen Empörung nicht immer erfolglos), wieder und wieder aus dem Geschehen geschleudert. Ein klassischer Fall von defekter Kompatibilität zwischen Leser und Buch.

Trotzdem empfinde ich es nicht als komplette Zeitverschwendung, „Denk ich an Kiew“ gelesen zu haben, denn mein Anliegen, zu erfahren, was genau damals während des Holodomor geschehen ist, wurde erfüllt. Und man merkt, dass genau das, dieses Wissen zu verbreiten, auch der Antrieb und die Herzensangelegenheit der Autorin war. Wer dann außerdem noch unterstützen möchte, dass der Lübbe Verlag 2 Euro vom Verkauf jedes Exemplars der „Aktion Deutschland hilft – Nothilfe Ukraine“ spendet, der sollte meine Kritik komplett ignorieren und sofort den nächsten Buchladen seines Vertrauens aufsuchen.

Bewertung vom 25.08.2022
Treue (MP3-Download)
Diaz, Hernan

Treue (MP3-Download)


ausgezeichnet

Wie, oh wie soll man beginnen, „Treue“ von Hernan Diaz zu besprechen? Fangen wir mit dem Grundriss an:

Der erste Teil ist ein Roman des (fiktiven) Schriftstellers Harold Vanner, in dem die Geschichte von Benjamin Rask und seiner Frau Helen erzählt wird. Rask ist als Geschäftsmann an der Wall Street tätig, während seine Frau mit Empfängen und wohltätigen Projekten den Aufstieg in der Gesellschaft sicherstellt. Rask gelingt es, von dem Börsenzusammenbruch Ende der 1920er auf geradezu skandalöse und verdächtige Weise zu profitieren. Schnell entstehen Gerüchte um und Gerede über das Paar. Als Helen zusätzlich noch psychisch schwer erkrankt, wird sie, auf eigenen Wunsch, in eine Klinik eingewiesen, deren Heilmethoden ihrem Mann missfallen und ihn dazu bewegen, einzugreifen.

In Teil zwei begegnen wir Andrew Bevel, der sich sicher ist, dass Vanners Benjamin Rask ihn, Andrew Bevel, porträtieren soll. Und zwar unzulänglich und rufschädigend. Er setzt alles daran, den Roman aus dem Verkehr zu ziehen, und beschließt, seine eigenen Memoiren zu schreiben, die wahre Geschichte seines Erfolges zu erzählen.

Doch so richtig scheint Bevel mit seiner Geschichte nicht voranzukommen. Jedenfalls engagiert er die junge Ida Partenza, Erzählerin des dritten Teiles, die, nach seinem Diktat, seine Memoiren aufschreiben, und besonders den Stellen über Mildred, der echten Helen, eine weibliche Note geben soll. Es dauert nicht lange, bis Ida merkt, dass Bevel seine Vergangenheit so verschiebt und verformt, wie er sie haben möchte. Und bis Ida sich fragt, wie groß ihr Teil der Verantwortung ist, wenn sie diese Verfälschungen mitgestaltet.

Jahre später wird das Haus der Bevels verkauft und bei einer Durchsicht der Unterlagen stößt Ida auf Mildreds Tagebuch. Den Aufzeichnungen einer sich in einer Klinik befindenden sterbenden Frau.

Alles verstanden? Eine Geschichte, vier Versionen, so kann man es vielleicht am besten zusammenfassen, auch wenn sich die unterschiedlichen Blicke auf das Geschehen weniger ergänzen, als widerlegen. Diaz zeigt hier auf spannende Weise, wie der, der das Wort hat, auch der ist, der festlegt, was als wahr betrachtet wird. Dass die lauteste Stimme die ist, die überlebt. Man fühlt sich an den Spruch erinnert, der besagt, dass Historie von den Gewinnern geschrieben wird. Und dass das, was im Großen zählt, auch für die kleinen Details des Alltags zutreffend ist. Es ist ein tiefes Fass, das Diaz hier aufmacht, einem jede Grundlage für einen Anspruch auf Wahrhaftigkeit entzieht.

Bei den Besprechungen zu „Treue“ bin ich des Öfteren auf den Vergleich mit Edith Wharton gestoßen. Ich habe mich eher an Wilkie Collins erinnert gefühlt, den Meister der Vielstimmigkeit, der in seinen Romanen nicht nur die Erzählperspektiven, sondern auch die Erzählmedien wechselt. Auch Diaz beherrscht diese Kunst ausgezeichnet und auf hohem Niveau.

Zuerst war ich etwas misstrauisch, ob die Idee, jeden Teil von einem anderen Sprecher einlesen zu lassen, wirklich funktioniert. Sie ist naheliegend, aber gerade deswegen hatte ich die Befürchtung, dass es zu gewollt wirken könnte. Aber mit Stephan Schad, Johann von Bülow, Sabine Arnhold und Valerie Tscheplanowa hat der Argon Verlag eine stimmige und überzeugende Gruppe versammelt, die ihre jeweiligen Charaktere passend modulieren und zum Leben erwecken.

Es fällt mir ungewöhnlich schwer, „Treue“ zu rezensieren, weil der größte Teil des Hörerlebnisses auf einer sehr individuellen Basis stattgefunden hat, die nicht leicht zu greifen und noch weniger mitzuteilen ist. Ich wünsche dem Roman jedenfalls viele Leser und freue mich über die Nominierung für den Booker Prize 2022.

Bewertung vom 22.08.2022
Die Kinder von Barrøy
Jacobsen, Roy

Die Kinder von Barrøy


ausgezeichnet

Norwegen kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. Ingrid ist nach einer langen Reise, auf der sie den Vater ihrer Tochter Kaja, einen deutschen Soldaten, finden wollte, auf die kleine Insel Barrøy zurückgekehrt. Nach den Traumata des Krieges versuchen die Inselbewohner, ihr altes Leben so gut wie möglich wieder aufzunehmen. Als Ingrid eines Tages Mathis, das Kind des Schiffers, der die Milchroute fährt, einsam und etwas verloren, am Hafen sieht, bietet sie dem Vater an, für den Rest des Tages auf den Jungen aufzupassen. Doch am Abend kehrt der Vater nicht zurück. Und auch an keinem anderen Tag. Ingrid tut, was sie schon immer getan hat, sie übernimmt die Verantwortung und leitet die Adoption des 5-Jährigen ein.
Das Leben auf den Schären geht weiter, aber die Spuren, die der Krieg in den Seelen der Menschen hinterlassen hat, haben seine Bewohner geprägt. Und das Ende eines Krieges bedeutet auch nicht das Ende von Schicksalsschlägen.

„Die Kinder von Barrøy“ ist der vierte Teil von Roy Jacobsens Insel-Saga, deren erste drei Teile („Die Unsichtbaren“, „Weißes Meer“ und „Die Auge der Rigel“) unter dem Titel „Die Unsichtbaren“ ebenfalls bei C.H.Beck in einem Band erschienen sind. Der erste Teil schaffte es darüber hinaus auf die Shortlists des Booker International Awards und des Dublin Awards. Ich wünschte, ich hätte diese Informationen vor der Lektüre gehabt, und am Anfang begonnen. Zwar ist es nicht zwingend notwendig, die Vorgeschichte zu kennen, Jacobsen lässt genug Stichworte fallen, um dem Geschehen gut folgen zu können. Aber es wäre sicherlich ein noch größeres Lesevergnügen gewesen, wenn man die emotionalen Entwicklungen der Charaktere mitbekommen hätte.

Obwohl ich gar nicht weiß, ob das Lesevergnügen noch so viel größer hätte sein können. „Die Kinder von Barrøy“ war genau das, was ich mir wünsche, wenn ich nach einem Buch, das in Norwegen spielt, greife. Die raue Schönheit der Natur, das harte Leben der Landbevölkerung, das, trotz seiner Strenge, doch einen heilen, fast idyllischen Eindruck macht, Figuren, die verschlossen und gleichzeitig liebenswert sind, bodenständig und lebensklug.

Und Jacobsens Sprache spiegelt all das wider. Wie die Einwohner Barrøys will man sie manchmal schubsen und zwingen, mehr preiszugeben, mehr nachzufragen, könnte ihre karge Sturheit verfluchen. Sie ist eine perfekte Reflexion des Lebensgefühls der Inselbewohner. Dieser Roman eine wunderbare Symbiose zwischen Stil und Inhalt.

Für mich war „Die Kinder von Barrøy“ wie eine physisch greifbare Reise, von der ich unendlich viele Eindrücke und Erlebnisse mitgebracht habe. Ein Leseerlebnis ähnlich denen, die ich als Kind bei Astrid Lindgrens Büchern hatte. Und ich kann mir gut vorstellen, dass dieser Roman es in meine Top 10 des Jahres schaffen könnte. Eindeutige Leseempfehlung!

Bewertung vom 21.08.2022
Die Frauen von Belarus
Bota, Alice

Die Frauen von Belarus


ausgezeichnet

Belarus – bei vielen von uns ist dieses Land, gleich hinter unserem Nachbarn Polen, ein weißer Fleck auf der inneren Landkarte. „Lukaschenko“, „letzte Diktatur Europas“, „Todesstrafe“, „irgendwie russlandtreu, glaube ich“ … Aber dann hört es auch schon auf. Im Sommer 2020 änderte sich diese Unsichtbarkeit, als die Belarussen auf die Straße drängten, um gegen Lukaschenkos Fälschung der letzten Wahlen zu protestieren. Für kurze Zeit waren wir gebannt von dem Mut der Bürger, die, trotz der Repressalien, der Verhaftungen, der Gefahr, gefoltert zu werden, weiter demonstrieren gingen und gerechte Wahlen forderten. Doch irgendwann wurden die Proteste kleiner, die internationale Presse zog ab, das Land blieb sich selbst überlassen, während der Rest der Welt sich wieder auf Corona und die drohende Herbstwelle konzentrierte.

Aber für viele Belarussen ist der Kampf und Alptraum noch lange nicht zu Ende. Ende Januar 2022 sitzen noch über 1000 politische Gefangene in belarussischen Gefängnissen (Quelle: www.100xsolidaritaet.de), die meisten wegen ihrer Beteiligung an den Protesten. Etliche befinden sich nach wie vor im Exil, versuchen, von dort aus weiterzumachen. Kämpfen für ein freieres Land und gerechte Wahlen und haben Sehnsucht nach der Heimat und ihren Angehörigen.

„Die Frauen von Belarus“ von Alice Bota ist ein großartiger Beitrag, diese Menschen nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Der Titel mag am Anfang etwas verwirren, lässt er doch glauben, die Proteste in Belarus wären rein weiblich und vielleicht sogar feministischer Natur gewesen. Doch der Grund Botas, sich auf die Frauen der Ereignisse zu konzentrieren, wächst vor allem daraus, dass im Herzen der Aktionen tatsächlich Frauen stehen – wenn auch in manchen Fällen unfreiwillig. Und diese Tatsache in einer politischen Umgebung, die weitestgehend von Männern gemacht ist, ein komplementär wichtiger und prägender Umstand ist.

Bota stellt drei Frauen in den Mittelpunkt ihres Buches: Swetlana Tichanowskaja, Maria Kolesnikowa und Veronika Zepkalo, drei komplett unterschiedliche Frauen, die an Stelle ihrer Männer gerückt sind, nachdem diese von Lukschenko ausgeschaltet wurden. Und sich schließlich zusammengeschlossen haben, mit Tichanowskaja als offiziell zugelassener Präsidentschaftskandidatin, was zeigt, dass Lukschenko die Lehrerin und Hausfrau wohl grob unterschätzt haben muss.

Ich bin kein großer Sachbuchleser, aber „Die Frauen von Belarus“ hat mir sehr gut gefallen. Bota hat mich da abgeholt, wo mein Wissensstand war, nämlich so gut wie bei null. Und sie schafft es, alle nötigen Informationen so aufzuarbeiten, dass man ein gutes Bild bekommt, ohne sich von Fakten, Daten und Namen erschlagen zu fühlen. Gekonnt wechselt sie vom großen Bild ins Detail, was einem die persönlichen Schicksale näher bringt, verstehen lässt, wie viel Trauer und Ängste und Qualen viele Belarussen immer noch jeden Tag ertragen müssen.

Seit Putin die Ukraine überfallen hat, fällt der Name Belarus ab und an wieder in den Nachrichten. „Handlanger Russlands“, der Faktor X, von dem zusätzliche Gefahr für das Kriegsgeschehen aus nördlicher Richtung ausgehen kann. Die Menschen, die weiterhin für Demokratie und Gerechtigkeit kämpfen, ohne Unterstützung anderer Länder aber kaum eine Chance haben, sind weitestgehend in Vergessenheit geraten und auf sich selbst gestellt. Gerade deswegen sind Bücher wie „Die Frauen von Belarus“ so extrem wichtig. Und darum wünsche ich diesem spannenden und interessanten Buch viele, viele Leser.

Nominiert für den Deutschen Sachbuchpreis 2022.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 18.08.2022
Intimitäten (Mp3)

Intimitäten (Mp3)


sehr gut

Aus New York verschlägt es die namenlos bleibende Ich-Erzählerin nach Den Haag. Hier hat sie eine Stelle als Dolmetscherin am Internationalen Gerichtshof ergattert und am Anfang sieht alles so aus, als könnte sie in den Niederlanden eine Heimat finden. Im Beruf läuft es gut, sie erhält Anerkennung für ihre Arbeit und kriegt schon bald verantwortungsvollere Aufträge übertragen. Außerdem lernt sie Adriaan kennen, der, verheiratet, aber bereits getrennt lebend, schnell zu jemandem wird, mit dem sie sich eine Zukunft vorstellen könnte.
Doch dann bekommt sie am Gerichtshof den Fall eines angeklagten „ehemaligen Präsidenten“ und westafrikanischen Kriegsverbrechers zugeteilt, der sie tief erschüttert. Und Adriaan reist zu seiner Frau, um Scheidungsangelegenheiten zu klären, angeblich für eine Woche. Eine Woche, aus der ein Monat ohne Lebenszeichen wird. Umstände, die die Protagonistin überdenken lassen, ob sie für ihre Arbeit geeignet ist, ob Adriaan oder Den Haag ohne Adriaan ihr eine Zukunft bieten können.

„Intimitäten“ von Katie Kitamura gehört für mich zu den Romanen, die mich während des Lesens bzw. Hörens durchaus angesprochen haben, mich aber am Ende etwas unbefriedigt zurücklassen. Zum einen liegt das an der Gewichtung der Themen. Laut Text auf dem Cover soll das Buch existentiellen Fragen über Wahrheit, Lügen, Gerechtigkeit, das Recht zu richten und die Weltordnung am Beispiel des „ehemaligen Präsidenten“ behandeln. Davon habe ich leider nicht viel gefunden. Das Privatleben der Dolmetscherin hat meinem Gefühl nach einiges mehr an Platz eingenommen. Was vielen gefallen mag, mich hat es weniger interessiert.

Denn gerade dieses Privatleben war nicht wirklich erzählenswert. Spannender versprach da eine Nebengeschichte zu werden, in der unsere Hauptfigur von einem Überfall vor dem Haus ihrer Freundin hört, aus unerfindlichen Gründen so fasziniert davon ist, dass sie die Buchhandlung des Opfers aufsucht, es dort aber nicht antrifft, dafür aber zufällig auf einer Vernissage dessen Zwillingsschwester kennenlernt, was naheliegend ist in einer Stadt von über einer halben Million Einwohnern… Diese Ungereimtheiten hätte ich der Geschichte ohne mit der Wimper zu zucken verzeihen können, denn sie schien verheißungsvoll auf etwas Aufregendes hinauszulaufen… Bis sie komplett von der Bildfläche verschwand. Und sich mir der Verdacht aufdrängte, dass die Autorin einfach noch ein paar Seiten füllen musste.

Warum meine Einschätzung letzten Endes doch ziemlich wohlwollend ausfällt ist, weil die Stunden, die ich mit diesem Hörbuch verbracht habe, trotz aller Kritik, unterhaltsam waren. Besonders die Einblicke in die Arbeit von Dolmetschern fand ich ausgesprochen interessant und auch die Interpretation von Katja Danowski als Sprecherin hat mich überzeugt.

„Intimitäten“ hat viel Zustimmung bekommen, auch von Rezensenten, auf deren Meinung ich viel Wert lege. Deswegen möchte ich, obwohl es sich eigentlich von selbst versteht, jedem potenziellen Hörer und/oder Leser explizit ans Herz legen, sich selbst ein Bild zu machen. Auch wenn meine Leseempfehlung eingeschränkt bleiben muss.