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Irisblatt

Bewertungen

Insgesamt 93 Bewertungen
Bewertung vom 06.05.2022
Das ewige Rauschen
Kops, Krisha

Das ewige Rauschen


ausgezeichnet

Heimat im Dazwischen finden
Krisha Kops hat einen leisen, melancholischen, poetischen, magischen und philosophischen Familienroman über mehrere Generationen geschrieben. Die ursprünglichen Herkünfte der einzelnen Familienmitglieder lassen sich in Indien, Deutschland und Italien verorten. Als Erzähler fungiert ein alter indischer Banyanbaum, dessen imposante Luftwurzeln und Blätter vom Wind mal sanft, mal stürmisch bewegt werden. Es sind die Winde, die dem Baum aus allen Himmelsrichtungen Geschichten aus fernen Zeiten und Orten zutragen. Manchmal erweisen sich die Winde als unzuverlässige Erzähler, verwirbeln Informationen, ergänzen das eine oder andere Detail während andere Einzelheiten verschwinden noch bevor sie den Banyanbaum erreichen.

"Dies ist die Geschichte des Dazwischen, des Halb-Halb, des Viertel-Viertel-Viertel-Viertel, des Alles und des Nichts. Wie ich vom Abend- zum Morgen- ins Zwischenland kam. Wie ich an diesem Ort Wurzeln zu schlagen vermochte“ (S. 9). „Dies ist die Geschichte eines Jungen, bevor er wurde, wer oder was er ist.“ (S. 10).

Der Junge Abbayi vereint in sich die unterschiedlichen Kulturen und Lebenserfahrungen seiner Eltern, Großeltern und Urgroßeltern; durch ein besonderes äußeres Merkmal ist er zudem eng mit dem Banyanbaum verbunden. Seine Vorfahren stehen im Mittelpunkt der Geschichte. Abbayis indischer Großvater baut mit viel Hingabe Tomaten an, singt für sie, gibt ihnen Namen von Gottheiten. Eines seiner Kinder, Ramu, verlässt Indien, um in München zu studieren. Er lernt Marlis kennen, führt ein unstetes Leben voller Höhen und Tiefen, wird reich und verliert schließlich alles. Abbayi ist ihr gemeinsamer Sohn, der die Sonne und das Wasser liebt, der von einer großen unbekannten Sehnsucht erfüllt ist und schließlich doch noch seine Wurzeln findet. Die Geschichte von Marlis Eltern und Großeltern ist durch den ersten und zweiten Weltkrieg in Deutschland, durch Flucht und Vertreibung und durch die damit verbundenen Traumata geprägt. Krisha Kops gelingt es auf faszinierende Weise diese Einzelschicksale lebendig werden zu lassen, sie in den Kontext historischer Entwicklungen einzuordnen sowie Bezüge zu den alten indischen Schriften, Epen und dem Hinduismus herzustellen. Dadurch entsteht der Eindruck einer Flüchtigkeit individueller Existenz, einer zyklischen Wiederholung menschlicher Schicksale im Rad der Zeit. Trotz dieses universalen Blickes sind alle Protagonist:innen individuelle, unverwechselbare Persönlichkeiten mit ihrer einzigartigen Geschichte und ihren einmaligen Verbindung zu anderen Menschen. Der Banyanbaum erzählt episodenhaft und flüchtig aus einer Art Vogelperspektive. Eine tiefe emotionale Anbindung an die Figuren ist daher nicht möglich. Trotzdem geht das Erzählte in die Tiefe durch die Verbindungen, die Kops herstellt. Es sind oft wenige Sätze, die beim Lesen starke Bilder erschaffen, ganz plötzlich Räume öffnen und dadurch eine Geschichte über die Worte hinaus erzählen: „Die Arbeiter in Martas Garten tragen jedoch gelbe Sterne auf ihren Binden, Sterne, die immer herunterrutschen, manchmal gar zu Boden fallen, weil ihre Arme zu dünn sind“ (S. 47/48); oder an einer anderen Stelle - „Die Lehrer mögen ihn nicht besonders (…) Außerdem würde er Fragen stellen, die Schüler besser für sich behalten sollten, Fragen, die seine Hände mit roten Striemen überziehen“ (S. 53).

Es handelt sich um keine einfache Lektüre, da die Leser:innen die einzelnen Szenen manchmal selbst in einen Kontext setzen müssen, die Erzählstränge parallel verlaufen, vieles zwischen den Zeilen steht und auch philosophische Fragestellungen und Betrachtungsweisen einfließen. Da ich Indien ein bisschen kenne, fiel es mir leicht, Andeutungen in komplexere Bilder zu übertragen. Ich habe mich bei der Lektüre allerdings gefragt, wie es Leser:innen ergehen mag für die Indien und die indische Götterwelt Neuland bedeuten. Ein Glossar am Ende ist auf jeden Fall hilfreich; niemand sollte sich also von der Lektüre abschrecken

Bewertung vom 22.04.2022
Butter
Yuzuki, Asako

Butter


sehr gut

Kulinarische Emanzipation
Im Mittelpunkt von Asako Yuzukis Roman „Butter“ stehen Rika, eine 34-jährige Journalistin, und Manako Kaji, eine mutmaßliche Mörderin, die zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt wurde, weil drei Männer jeweils in ihrer unmittelbaren Umgebung zu Tode kamen.
Der Fall „Manako Kaji“ beschäftigt Öffentlichkeit und Presse gleichermaßen, doch Kaji lehnt sämtliche Interviewanfragen ab.
Thematisch kreist „Butter“ um die Rolle der Frau (und auch der Männer) in der gegenwärtigen japanischen Gesellschaft. Der öffentliche und private Druck auf Frauen Ehe, Mutterschaft und Berufstätigkeit unter einen Hut zu bringen und dabei einem untergewichtigen körperlichen Idealbild (50kg) zu entsprechen, ist allgegenwärtig. Ungefragt kommentieren selbst die als fortschrittlich und auf Gleichberechtigung Wert legenden jüngeren Männer die Körper von Frauen und äußern sich abfällig über deren Gewichtszunahmen. Dabei steht immer im Raum, dass normalgewichtige Frauen sich „gehen lassen würden“.
Auch Rika achtet zu Beginn des Romans auf ihr Gewicht. Sie interessiert sich weder für Lebensmittel noch für deren Zubereitung und ernährt sich überwiegend von kalorienarmen Gerichten, die sie außerhalb kauft. Rikas Freundin Reiko, die selbst gerne kocht, gibt Rika den Tipp bei ihrer Interviewanfrage unbedingt Interesse an Kajis Foodblog und ihren Rezepten zu bekunden. Es funktioniert: Manako Kaji stimmt einem Interview unter der Bedingung zu, ausschließlich kulinarische Fragen zu beantworten. Infolge zahlreicher Gespräche mit Kaji im Gefängnis, verändert sich Rikas Einstellung zu Nahrungsmitteln, Genuss, ihrem eigenen Selbstbild sowie ihr Blick auf die allgegenwärtige Frauenfeindlichkeit. Sie beginnt nach Kajis Rezepten zu kochen, zunächst um Kaji in allen Einzelheiten davon zu berichten (das gehört zu Kajis Bedingungen für ein weiteres Treffen), später auch weil sie sich den Geschmacksexplosionen nicht mehr entziehen kann und ein Grundbedürfnis nach hochwertigen Zutaten und deren Zubereitung in ihr erwacht. Hartnäckig versucht Rika aber auch herauszufinden, ob Manako Kaji tatsächlich eine Mörderin ist, welche Kindheitserlebnisse sie prägten und vor allem, warum so viele Männer von Kaji angezogen sind, obwohl sie in der Öffentlichkeit als „fett“ und unattraktiv stigmatisiert wird. Kaji, die von sich selbst behauptet, sie verabscheue nichts mehr als Feministinnen und Margarine, ist eine hochinteressante, zutiefst widersprüchliche Figur mit einem ausgeprägten Bedürfnis andere zu versorgen, aber ihnen zugleich deutlich ihre Meinung und bestimmte Handlungen aufzuzwingen. Ihr Verhalten ist hochgradig manipulativ und bringt letztendlich auch Rika und ihre Freundin Reiko in Gefahr.
Mir hat der Roman, in dem sehr viel Butter konsumiert wird, trotz einiger Längen gut gefallen. Er bietet genügend Raum über das Verhältnis von Genuss und naturbelassenen Lebensmitteln versus stark modifizierter Nahrungsmittel nachzudenken und stellt in diesem Zusammenhang auch Fragen, die die einengenden gesellschaftlichen Regeln der japanischen Gesellschaft (aber auch darüber hinaus) kritisch beleuchten. In „Butter“ wird viel gegessen und gekocht, die Gerichte, deren Zubereitung und ihr Konsum sehr ausführlich beschrieben. Die Entwicklung der Figuren war für mich durchweg interessant und stimmig. Ganz nebenbei habe ich viel über die japanische Gesellschaft, aber auch über französische Küche gelernt. Etwas gestört hat mich, dass Rikas Erkenntnisse manchmal fast wie aus einem Ratgeber für ein selbstbestimmtes Leben klingen - das hätte für mich gerne etwas subtiler in die Handlung eingebaut werden können. Letztendlich bringt Manako Kaji ein gesellschaftliches Problem auf den Punkt, wenn sie sagt: „Sich mehr um das Äußere anderer Menschen zu kümmern als um das eigene Innnere - das ist verrückt“ (S. 263). Rika durchläuft in diesem Roman eine bemerkenswerte emanzipatorische Entwicklung. Sie nimmt zehn Kilogramm zu, erkennt, dass sie sich in ihrem Körper wohlfühlen

Bewertung vom 14.04.2022
Das Leben eines Anderen
Hirano, Keiichir_

Das Leben eines Anderen


weniger gut

Innere und äußere Spurensuche
Selten war ich so froh, ein Buch zuklappen zu können. Schade - denn das Thema der „Identitätswäsche“ fand ich sehr interessant.
Scheidungsanwalt Akira Kido wird eines Tages von Rie kontaktiert, die den Tod ihres liebevollen Ehemanns Taniguchi Daisuke betrauert. Erst nach seinem tödlichen Arbeitsunfall stellt sich heraus, dass Taniguchi Daisuke nicht sein richtiger Name war. Der Unbekannte hatte den Namen lediglich angenommen, wichtige Stationen aus dessen Leben auswendig gelernt und sich so eine fremde Identität angeeignet. Doch zu welchem Zweck? Wer war dieser Mann mit dem sie mehr als drei Jahre glücklich verheiratet war und eine gemeinsame Tochter hat? Was verheimlichte er? Warum änderte er seinen Namen? Rie ist zutiefst verunsichert: Neben dem Gefühl betrogen worden zu sein, beschäftigen sie auch praktische Fragen: Unter welchem Namen soll ihr Ehemann bestattet werden? Gilt das gemeinsame Kind nun als unehelich, weil sie einen Mann unbekannter Identität heiratete, der so nicht bei den Behörden registriert war? Was soll sie ihrem ältesten Sohn erzählen, der seinen Stiefvater liebte und sich nach dessen Tod wünscht, weiterhin seinen Nachnamen zu behalten?
Kido nimmt sich des Falles an und begibt sich auf eine schwierige Spurensuche, in deren Verlauf deutlich wird, dass der Tausch von Identitäten - eine sogenannte Identitätswäsche - in Japan häufiger als vermutet vorkommt. Er geht auch den möglichen, durchaus vielfältigen Ursachen auf den Grund.
Im Zuge seiner Ermittlungen beschäftigt sich Kido zwangsläufig auch mit seiner eigenen Identität. Er ist Zainichi der dritten Generation, hat also eine koreanische Herkunft. Längst hat er die japanische Staatsbürgerschaft angenommen, doch der zunehmende Rassismus der japanischen Bevölkerung gegen koreanische Migrant:innen berühren auch ihn und seine Familie. Kido stellt sich immer häufiger die Frage, welches Leben er führen könnte, wenn er eine andere Identität hätte. Seine Ehekrise begünstigt dieses Gedankenspiel zusätzlich.
Ich bin überhaupt nicht mit dem Schreibstil des Autors zurecht gekommen. Die Erzählweise ist sehr nüchtern, geradezu emotionslos und der gesamte Roman liest sich eher wie ein Bericht, der in großen Teilen so auch in einer behördlichen Akte stehen könnte. Ich konnte mich sehr schwer auf den Text konzentrieren, weil ich ihn sterbenslangweilig fand. Erschwerend kam für mich hinzu, dass die Protagonist:innen im Text mal mit ihrem Vor-, dann wieder nur mit ihrem Nachnamen, manchmal auch mit ihrem vollständigen Namen genannt wurden. Da meine Konzentration sowieso ständig abschweifte, fiel mir die Orientierung schwer. Japanische Leser:innen dürften damit vermutlich keine Probleme haben und ich könnte mir vorstellen, dass sie besser als ich zwischen den Zeilen dieses Romans lesen können. Für mich war die Distanz zu den Protagonist:innen und zur Geschichte zu groß. Entgegen meines ersten Bewertungsimpulses vergebe ich trotzdem nicht nur einen, sondern zwei Sterne für diesen Roman, weil er mich erstmalig auf das Thema "Identitätswäsche" aufmerksam gemacht hat.

Bewertung vom 09.04.2022
Rosewater
Thompson, Tade

Rosewater


sehr gut

Auftakt einer schrägen, faszinierenden Science-Fiction Trilogie
Nigeria 2066: Die Stadt Rosewater hat sich um eine riesige Bio-Kuppel von etwa 50 km Durchmesser gebildet. Einmal im Jahr öffnet sich die gigantische Kuppel, setzt unbekannte heilende Substanzen frei und wird zum Anziehungsort zahlreicher Kranker, Pilger und Schaulustiger.
Kaaro gehört zu den sogenannten „Empfängern“, einer Gruppe von Menschen mit angeborenen übernatürlichen Fähigkeiten. Sie haben Zugriff auf die „Xenosphäre“, über die sie in die Gedanken anderer Menschen eindringen und diese lesen können. Eine Empfänger-Fähigkeit prädestiniert für das Auffinden verloren gegangener Menschen und Gegenstände, aber auch für das Durchführen von Verhören, Abwehr von Hacker-Angriffen und Ähnlichem. Eine Sondereinheit der Regierung zeigt daher auch großes Interesse an Kaaro und lässt ihm immer wieder Spezialaufträge zukommen. Als Leser:in wird man hineingeworfen in diese fremde, mysteriöse Welt, die sich nicht sofort erschließt, letztendlich aber über das gesamte Buch stimmig entwickelt und mehr als eine faszinierende Erkenntnis bereit hält. Tade Thompson erzählt sprunghaft. Die Handlung in der Gegenwart wird immer wieder unterbrochen durch Rückblenden, deren Sinn sich manchmal erst einige Zeit später offenbart. Als sich eine tödliche Krankheit unter den Empfängern ausbreitet, ist auch Kaaros Leben in Gefahr und es gilt, die Ursache herauszufinden. „Rosewater“ spielt hauptsächlich in Nigeria und so fließen Kolonialismuserfahrungen in die Geschichte ebenso ein wie mythologische und kulturelle Vorstellungen der Yoruba. Tade Thompson wartet mit zahlreichen kreativen, teilweise auch sehr schrägen Ideen auf. Sein Hauptprotagonist Kaaro ist ein antriebsloser Mittvierziger, der eher widerwillig durch diese Geschichte schlittert und impulsiv auf Situationen reagiert. Er lässt niemanden wirklich an sich heran, agiert regelmäßig sexistisch, wird häufig in Gewalt verwickelt, die er verabscheut. Er verspürt echte Zuneigung zu einem Straßenhund und neuerdings auch zu einer Frau. Genau genommen möchte er ein geruhsames Leben führen, Musik hören und Sex haben. Doch die Spezialeinheit hat ihn aufgrund früherer Vorkommnisse in der Hand und so wird er immer wieder für Aufträge herangezogen, die eine unvorhergesehen Dynamik entwickeln. Rosewater bietet spannende Unterhaltung in einem für das Genre ungewöhnlichen Setting.
Ich bin gespannt auf den zweiten Band.

Bewertung vom 02.04.2022
Unser Teil der Nacht
Enriquez, Mariana

Unser Teil der Nacht


ausgezeichnet

Ein düsteres, gewaltiges literarisches Werk
Schon lange habe ich mich nicht mehr in einer so düsteren, unheimlichen Geschichte regelrecht verfangen. Mit Ausnahme weniger Abschnitte im Mittelteil hat mich das Buch derart in seinen Bann gezogen, dass ich es nur schwer zur Seite legen konnte. Juan ist Mitglied in einem Geheimorden, der in okkultistischen Riten die dunklen Mächte anruft. Zum Orden gehören zwei der reichsten und dadurch einflussreichsten Familien in Argentinien. Besessen von der Suche nach dem ewigen Leben schrecken diese weder vor Folter noch vor Mord zurück. Juan, der als Kind aufgrund seiner besonderen Fähigkeiten vom Geheimorden entdeckt wurde, möchte unter allen Umständen verhindern, dass sein Sohn das selbe Schicksal erleidet. Verzweifelt sucht er nach einem Ausweg und nach einer Möglichkeit, ihn zu schützen. Doch nicht nur vom Orden geht eine permanente Bedrohung aus: Kinder und Erwachsene verschwinden spurlos während der Zeit der Militärjunta. Mariana Enriquez verwebt die in ihrem mehr als 800 Seiten umfassenden Roman die Verbrechen während der Militärdikatatur mit denen des geheimen Ordens. Die Geschichte wird über insgesamt fast 40 Jahre (1960-1997) aus der Perspektive unterschiedlicher Protagonist:innen erzählt, wobei die Kernfamilie um Juan mit seiner Ehefrau Rosario und dem gemeinsamen Sohn Gaspar im Mittelpunkt steht. Vieles bleibt zu Beginn rätselhaft. Doch immer wieder fügen sich Einzelheiten zu einem großen Ganzen und Situationen erscheinen plötzlich in einem anderen Licht. Selbst über den unbeschwerten Passagen lauert das Grauen und die Gefahr. Einige Szenen sind abscheulich und brutal - sie stechen durch den sehr bildlichen Schreibstil mitten ins Herz und sind schwer erträglich. Geschickt flicht die Autorin auch den Volksglauben, die Riten und die Mythologien der indigenen Bevölkerung in ihre Geschichte mit ein. Auch der menschenverachtende Umgang mit ihnen, ihre Ermordung und ihre Versklavung auf den Plantagen der Reichen werden thematisiert. Enriquez erzählt viele unterschiedliche Geschichten in einem von politischen und gesellschaftlichen Umbrüchen gezeichneten Land - doch immer gibt es Verbindungen, die mal deutlich mal vage zu Tage treten. Beim Lesen hatte ich das Gefühl im Kino zu sitzen und eingefangen von den Geschehnissen gebannt auf die Leinwand zu schauen. Diese sehr bedrohliche, dunkle aber auch atmosphärische Geschichte werde ich mit Sicherheit nicht mehr vergessen.

Bewertung vom 27.03.2022
Dschinns
Aydemir, Fatma

Dschinns


ausgezeichnet

Leerstellen im Familiengefüge
Was wissen einzelne Familienmitglieder eigentlich voneinander? Sprechen sie untereinander über ihre Wünsche, Sorgen und Ängste? Was bedeutet es, wenn der eigene Lebensentwurf nicht kompatibel mit den moralischen Ansprüchen der Eltern oder auch anderen Familienmitgliedern erscheint? Bedeutet darüber zu schweigen ein Stück Freiheit oder Last? Wie wirkt sich fehlende Akzeptanz für das, was man ist, auf die Persönlichkeit und das Gefüge innerhalb der Familie aus? Welche Folgen haben erlittene Traumata noch für nachfolgende Generationen? Was bedeutet es in einem fremden kulturellen Kontext zu leben und dabei unterschiedlichen Spielarten von Alltagsrassismus ausgesetzt zu sein? All diese Fragen beschäftigen Fatma Aydemir in ihrem äußerst intensiv geschriebenen Roman „Dschinns“.

30 Jahre hat Hüseyin in Deutschland geschuftet, jede Möglichkeit für Überstunden ergriffen, Geld gespart, um endlich seinen Traum zu erfüllen: den Kauf einer Wohnung in Istanbul, in der er gemeinsam mit seiner Familie den Ruhestand in der alten türkischen Heimat genießen kann. Doch es kommt anders als geplant: Hüseyin erleidet einen Herzinfarkt, stirbt in der neuen Wohnung noch bevor er dort richtig einziehen konnte. Geschockt vom plötzlichen Tod machen sich seine Angehörigen auf den Weg nach Istanbul.

Aydemir widmet Hüseyin sowie seinen Kindern Ümit, Sevda, Perihan, Hakan und seiner Ehefrau Emine jeweils ein Kapitel. Schnell zeigt sich, dass die Kinder, die mit Ausnahme von Ümit bereits erwachsen sind, eine äußerst distanzierte Beziehung zum Vater und eine komplizierte Beziehung zur Mutter haben bzw. hatten. Alle versuch(t)en auf ihre Weise den Zwängen der Rollenerwartungen zu entkommen und einen eigenen Weg zu finden. Nicht nur die Kinder, sondern auch Hüseyin und Emine haben Schmerzhaftes erlebt und nie verarbeitet. Es herrscht eine geradezu bedrückende Sprachlosigkeit innerhalb der Familie, die letztendlich Verständnis, Unterstützung und Nähe verhindert.

Einige Leser:innen kritisieren, dass Dschinns zu viele gesellschaftliche und identitätsrelevanten Themen aufgreife, die Figuren zu klischeehaft gezeichnet, das Ende zu dramatisch sei. Es stimmt, dass Aydemir viele Themen und Probleme anspricht, die mit Migration, aber auch unabhängig davon mit dem besonderen Gefüge von Familie im Allgemeinen zu tun hat. Darüber hinaus geht es ihr um persönliche Entwicklung, Gender, Ausgrenzung, Rassismus, unterschiedliche Werte, Identitätsfindung und vieles mehr. Durch die verschiedenen Erzählperspektiven wird etliches nur am Rand gestreift. Mich hat das an keinem Punkt gestört, da die Autorin mit viel Feingefühl und einer unglaublichen Intensität die Sicht der einzelnen Familienmitglieder sowie Abschnitte aus ihrem Leben darzustellen vermag. Aydemirs Figuren sind für mich keine wandelnden Klischees, was für mich gleichbedeutend mit stereotyp, schablonenhaft, eindimensional und blass wäre. Die Autorin spielt lediglich mit Klischees - ihre Protagonist:innen sind durchgängig komplexe, authentische Persönlichkeiten, die auch gerade durch ihre Widersprüchlichkeit und ihren eigenen Erzählton lebendig werden. Ich kann mir Hüseyin, Emine, Ümit, Perihan, Hakan und Sevda genau so auch im realen Leben vorstellen. Dschinns hat mich thematisch und in seiner emotionalen Intensität gefesselt und absolut überzeugt.

Bewertung vom 09.03.2022
Die Kinder sind Könige
Vigan, Delphine

Die Kinder sind Könige


ausgezeichnet

Gesellschaftskritischer Pageturner
Für ihren neuesten Roman hat sich Delphine de Vigan einem brisanten, viel zu wenig beachteten Thema angenommen. Haben Eltern das Recht, ihre Kinder auf Kanälen wie YouTube oder Instagram zu präsentieren? Wer schützt sie vor dem Selbstdarstellungstrieb der Erwachsenen? Zahlreiche Eltern machen ihr Familienleben öffentlich, lassen ihre Kinder vor der Kamera Aufgaben bewältigen oder das neueste Spielzeug testen. Wo bleibt die Privatsphäre? Wer schützt Kinder vor pädophilen Usern? Welche psychischen Schäden können entstehen, wenn der Alltag vom Blick durch die Kamera und den „Druck“, das neueste Video hochzuladen, bestimmt wird?

Seit der ersten Reality Show träumt Mélanie davon, ein Star zu sein. Als junge Mutter gelingt ihr schließlich ein durchschlagender Erfolg mit ihrem YouTube-Kanal „Happy Récré“, der innerhalb kürzester Zeit zu einem der erfolgreichsten Familienkanäle Frankreichs avanciert. Mehrmals in der Woche stehen ihre Kinder Kimmy und Sammy vor der Kamera. Mélanie ist glücklich, geht ganz in ihrer Fangemeinde auf, fühlt sich von ihren Followern geliebt, verdient nebenbei horrende Summen Geld und betont wie sehr auch ihre Kinder es lieben, immer wieder neue Videos zu drehen. Eines Tages verschwindet die kleine Kimmy beim Versteckspielen spurlos. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt; die Polizei ermittelt und ist plötzlich mit den besonderen Bedingungen der virtuellen Welt konfrontiert. Polizistin Clara, deren Leben in größtmöglichem Kontrast zu dem von Mélanie steht, vertieft sich in die Videos von „Happy Récré“ in der Hoffnung, die richtige Spur zu finden.
Delphine de Vigan hat einen Pageturner geschrieben, den ich innerhalb kürzester Zeit gelesen habe. „Die Kinder sind Könige“ liest sich wie ein Krimi, bei dem sich ganz nebenbei die Problematik der Veröffentlichung privater Videos oder Bilder entfaltet, Informationen zu gesetzlichen Regelungen einfließen und die Grauzone Internet thematisiert wird. Die sehr unterschiedlichen Perspektiven, die vor allem durch Mélanie und Clara, aber auch Sammy, Kimmy, den Ehemann und die Nachbarn vertreten sind, geben dem Roman Tiefe. Ich bin vor allem dankbar für den Einblick in Melanies Welt, die erschreckend, aber auch erhellend für mich war. Ich begreife nun eher die Gründe, die Menschen dazu bewegen, ihr Leben derart öffentlich zu inszenieren. Auch die Spätfolgen eines in der Kindheit erfahrenen medialen Missbrauchs werden im Roman thematisiert, mögliche psychische Beeinträchtigungen im Erwachsenenalter aufgezeigt und eventuelle Folgen für die Eltern-Kind-Beziehung geschildert. Delphine de Vigan ist ein gesellschaftskritischer Roman gelungen, der viel Stoff zum Nachdenken bietet und sich zugleich leicht und spannend liest.

Bewertung vom 06.03.2022
Athos 2643
Westerboer, Nils

Athos 2643


ausgezeichnet

Fesselnd, komplex, mysteriös
Nils Westerboer hat mit „Athos 2643“ einen hochkomplexen, faszinierenden und sehr fesselnden Roman geschrieben.
Rüd Kartheiser ist spezialisiert auf das Verhören künstlicher Intelligenz. Sein neuester Auftrag führt ihn auf den kleinen Neptunmond Athos. Die einzigen Bewohner sind wenige cönobitische Mönche, die dort abgeschieden und jenseits sämtlichen Komforts leben. Als einer von ihnen aus ungeklärten Gründen zu Tode kommt, gerät die dort verantwortliche künstliche Intelligenz, genannt MARFA, unter Mordverdacht. Rüd soll in einem komplizierten Prozess, der sich Inquisition nennt, die MARFA dazu bewegen, ihre ethischen Einstellungen so zu verändern, dass sie ihre lebenserhaltende Funktion zukünftig besser ausführen kann. Rüd wird von seiner holografischen Assistentin Zack begleitet, die ebenfalls eine künstliche Intelligenz ist. Die gesamte Geschichte wird aus Zacks Perspektive erzählt, was äußerst interessante Einblicke in diese zukünftige Welt sowie über das Menschsein ermöglicht.
Rüds Vorhaben stößt nicht nur bei der MARFA, sondern auch bei den Mönchen auf unerwarteten Widerstand. Stück für Stück entfaltet sich eine Geschichte, die immer wieder durch unvorhersehbare Wendungen überrascht und erst gegen Ende ein Gesamtbild ergibt. Der Weltenaufbau ist komplex und steckt voller kreativer Ideen. Ich mochte die Atmosphäre, die durch die Mönche etwas Düsteres und zuweilen fast mittelalterlich Anmutendes hatte. Besonders gut gefallen haben mir die Verknüpfung von philosophisch-ethischen Fragen mit einer theologischen Weltsicht sowie das Spiel mit der Mehrdeutigkeit von Sprache. Westerboer beschäftigt sich, wie zahlreiche Science Fiction Autoren auch, mit der Frage, was den Menschen von einer künstlichen Intelligenz unterscheidet und wann die Grenzen zwischen Mensch und Maschine sich aufzulösen beginnen. Lediglich am Ende des Romans, hätte ich mir gewünscht, dass manches ausführlicher erzählt worden wäre. Die losen Fäden bieten Stoff für einen zweiten Band, den ich sehr gerne lesen würde. Das Glossar ist äußerst hilfreich für das Verständnis zentraler Begriffe, hätte für mich aber noch ausführlicher sein können. „Athos 2643“ erfordert aufmerksames Lesen, um die Schlüsselsätze nicht zu verpassen. Es handelt sich um keine „Entspannungslektüre“, aber um einen fesselnden, vielschichtigen Roman, der zum Nachdenken anregt, nachhallt und bei dem es auch bei mehrmaliger Lektüre noch Neues zu entdecken gibt. Ich möchte gerne mehr davon!

Bewertung vom 06.03.2022
Chopinhof-Blues
Silber, Anna

Chopinhof-Blues


gut

Starke Einzelgeschichten ohne überzeugende Zusammenführung
Es fällt mir ausgesprochen schwer, den Debütroman von Anna Silber zu bewerten. In seiner Struktur folgt „Chopinhof-Blues“ zunächst drei Erzählsträngen, die sich am Ende vereinen, weil die Protagonist:innen anlässlich einer Geburtstagsfeier in Wien aufeinandertreffen.
Katja hatte eine schwere Kindheit. Von der Mutter massiv vernachlässigt, wuchs sie mit ihrem Bruder Thilo in einem Kinderheim auf. Trotz widriger Umstände bestand sie das Abitur, zog nach Berlin, studierte und fand eine Arbeit im Finanzbereich. Anna Silber beleuchtet vor allem die komplizierte Beziehung Katjas zu ihrem Bruder, aber auch zu ihrer Mutter und ihrem Chef.
Ádám lebt mit seiner Frau Aniko in Wien. Sie stammen aus Ungarn und verließen gemeinsam Budapest in der Hoffnung auf ein besseres Leben. Doch seit einiger Zeit stecken die beiden mitten in einer Beziehungskrise.
Esra hat als Krisenjournalistin bereits viele gefährliche Orte aufgesucht, unendlich viel Leid gesehen und dokumentiert. Auf ihrem Einsatz in Honduras erlebt sie plötzlich selbst Gewalt. Zutiefst erschüttert kehrt sie nach Berlin zurück und versucht, ihre Erlebnisse einzuordnen und zu verarbeiten. Doch nichts ist wie zuvor.

Alle Hauptprotagonist:innen wirken auf ihre eigene Art verloren, sind nicht in der Lage das auszusprechen, was notwendig wäre. Es geht um Verantwortung, Schuld, Angst, Zuneigung, Liebe, Familie und Freundschaft. Anna Silber skizziert das alltägliche Leben der sehr unterschiedlichen Protagonist:innen und lässt uns auf eine leise, melancholische Art an ihren Sorgen, Gedanken, Verletzlichkeiten und eingefahrenen Handlungsmustern teilhaben. Durch zahlreiche Dialoge liest sich der Roman leicht und lebendig. Jeder Erzählstrang hat mich bewegt, die Charaktere sind lebendig gezeichnet, die Sorgen, Nöte und Blockaden haben sich beim Lesen gut vermittelt. Ich hadere allerdings mit dem Gesamtkonzept, vor allem mit der Zusammenführung der Erzählstränge. Die Verbindungen der Protagonist:innen sind durchaus vorstellbar, das Aufeinandertreffen auch im Rahmen des Möglichen. Allerdings weiß ich nicht, warum das wichtig für den Roman sein soll. Für Katja scheint am Ende alles auf einen Befreiungsschlag hinauszulaufen. Der Roman endet sehr abrupt und an einem Punkt, an dem ich gerne mehr über die weitere Entwicklung der Charaktere erfahren hätte. Jeder Erzählstrang für sich hätte wunderbar als einzelne Kurzgeschichte funktioniert. Die Zusammenführung fühlt sich nicht rund an, weshalb mich der Roman trotz der gut ausgearbeiteten, interessanten Einzelgeschichten irgendwie unzufrieden zurücklässt.

Bewertung vom 22.02.2022
Tell
Schmidt, Joachim B.

Tell


ausgezeichnet

Die berühmte Sage um Wilhelm Tell neu erzählt
Von Wilhelm Tells legendären Apfelschuss haben wohl viele schon einmal gehört. Joachim B. Schmidt erzählt die Geschichte des Schweizer Nationalhelden neu. In kurzen Kapiteln lässt der Autor eine von Armut und Überlebenskampf geprägte Welt der Schweizer Bergbauern vor dem inneren Auge entstehen. Die Habsburger regieren das Land; ihre Mannen ziehen plündernd, vergewaltigend und mordend selbst durch entlegensten Gebiete und hinterlassen auf den Höfen Spuren der Verwüstung. Wilhelm Tell schert sich nicht um Gesetze und Obrigkeiten, versucht seine Familie in diesen schweren Zeiten durchzubringen, geht trotz Verbot auf die Jagd und gerät dadurch mehr als einmal in Konflikt. Zunächst erscheint er als wortkarger, eigenbrötlerischer und kaltherziger Mann. Je mehr aus seiner Vergangenheit ans Licht kommt, umso facettenreicher, lebendiger und menschlich nachvollziehbarer wird sein Charakter. Die kurzen Kapitel und Sequenzen, die eine Vielzahl von Personen zu Wort kommen lassen, bewirkten bei mir ein Gefühl der Atemlosigkeit beim Lesen. Ich fühlte mich hineingeworfen in ein rasantes Abenteuer, das stellenweise sehr brutal, manchmal auch possenhaft und dabei immer spannend war. Obwohl mir das Ende bekannt war, fieberte und bangte ich bei der berühmten Apfelschusszene bis zuletzt mit. Sprachlich hat mich Joachim B. Schmidt überzeugt und überrascht. Kalmann gehört zu meinen Lieblingsbüchern des vergangenen Jahres. Stilistisch haben die beiden Romane aber rein gar nichts gemeinsam. „Tell“ hat seine ganz eigene Sprache, die ich als sehr stimmig für die Region und die damalige Zeit empfinde. Es gefällt mir gut, wenn Autor:innen derart vielseitig in ihrem Ausdruck sind.
„Tell“ hat eine alte Legende aufleben lassen und mich von der ersten bis zur letzten Seite in seinen Bann gezogen.„Tell“ hat eine alte Legende aufleben lassen und mich von der ersten bis zur letzten Seite in seinen Bann gezogen.