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MarieOn

Bewertungen

Insgesamt 45 Bewertungen
Bewertung vom 03.08.2023
Das glückliche Geheimnis
Geiger, Arno

Das glückliche Geheimnis


ausgezeichnet

Arno Geiger schreibt über sich selbst. In seiner Geschichte “Das glückliche Geheimnis”, erzählt er über sein Leben als Schriftsteller. Die Schwierigkeiten des Anfangs, jemanden von seinem Schreiben zu überzeugen, von dem, was er zu sagen hat.

Während seinem Studium setzt er sich frühmorgens aufs Fahrrad, um während der aufgehenden Sonne Wiens, Papiercontainer zu durchwühlen. Er sucht nach wortreichen Schätzen, Büchern und Hinterlassenschaften wie Tagebüchern, die ihm das Menschliche vertrauter machen. Seine Fundstücke verkauft er mit seiner Freundin auf Flohmärkten.

Von seinen morgendlichen Runden, die Jahre später zu einer liebgewonnenen Gewohnheit werden, kehrt er zerschunden und ausgelaugt, aber dennoch glücklich zurück.

In seinen jungen Lebensjahren versteht sich der Autor als Außenseiter, der etwas verbotenes macht, weil er im Müll der Gesellschaft herumwühlt. Später entwickelt er einen Stolz, weil er etwas macht, das sonst niemand wagt. Arno Geigers Suche nach Identität, schenkt ihm die Lebenserfahrung, mit der er Bücher füllt.

Die Demenz seines Vaters konfrontiert ihn mit der Vergänglichkeit. Zum Ende des Buches wird er philosophisch und resümiert über die Fragen, was Glück und Zufriedenheit ist.

Ich mag seine ganz eigene besondere Sprache, die im Trivialen das Besondere erkennt:

“Auf allen städtischen Friedhöfen gibt es Toiletten, ziemlich sauber sogar, weil die Menschen wissen, dass sie hier beinah zu Hause sind”.

“Das Unglück hat es leider an sich, dass es gebieterisch die Gegenwart protegiert und die Zukunft steht ungeachtet, klein und dumm am Rand.”

Ich meine, darauf muss man erst einmal kommen, Chapeau Herr Geiger!

Fazit: Wer in Arno Geigers poetisch, philosophische Welt eintauchen möchte, sollte sich diese Geschichte nicht entgehen lassen.

Bewertung vom 03.08.2023
Wir hätten uns alles gesagt
Hermann, Judith

Wir hätten uns alles gesagt


ausgezeichnet

“Jede Entscheidung für einen Satz ist eine Entscheidung gegen unzählige andere.” S. 19

Es sind diese Einsichten, die mich zutiefst befriedigen.

Mit schlafwandlerischer Sicherheit schreibt Judith Hermann, über ihre Unsicherheit, herausgefunden zu haben, wer sie ist. Sie nimmt uns mit auf eine Reise zu ihren Ursprüngen, findet heraus, was sie ausmacht. Sie spricht von ihrer Familie, den psychisch kranken Vater, der sie in ihrer Kindheit ängstigt, weil er einen perfiden Spaß daran hat. Wie sie seine Unberechenbarkeit erlebte und sich ständig um ihn sorgte. Ihre russischen Wurzeln beleuchtet sie, diesen Anteil, den ihre Großmutter an ihrer Entwicklung hatte.

Die Autorin schreibt ruhig, gefasst, zeigt, wie präzise sie ihr Gegenüber beobachten und beschreiben kann. Ich mag ihre einzigartige Schreibweise, wie sie einen Absatz mit einem Substantiv abschließt, das mich nachdenklich macht.

Sie geht sorgfältig mit sich um, wie sie an mehreren Stellen zeigt:

“Aufmachen heißt, das Etwas aus seinem Ungefähren holen, den Wolf ans Licht. Zu erklären, was genau das Etwas ist, hieße vermutlich, den Wolf abschießen. Darauf zu verzichten bringt den Wolf in Sicherheit. Lässt ihn am Leben.” S. 151

Stellenweise wird das was sie sagt zu einem abstrakten Gemälde, vor dem ich stehe, nicht so recht wissend, was die Künstlerin mir damit sagen mag, so diffus, dass mir nicht gelingt ihr konsequent zu folgen.

Fazit:

Dennoch eine stimmige Geschichte, die nachdenklich macht und sicher nicht die letzte, die ich von Judith Hermann lesen werde.

Bewertung vom 02.08.2023
Die spürst du nicht
Glattauer, Daniel

Die spürst du nicht


ausgezeichnet

Familie Strobl-Marinek und die befreundete Familie Binder, nehmen die Schulfreundin ihrer Tochter, ein Flüchtlingskind aus Somalia mit in ihren Toskanaurlaub. Elisa Strobel-Marinek, Mutter und Grünen Abgeordnete, als zukünftige Ministerin gehandelt, verwendet viel Überredungskunst um Aayana, die Freundin ihrer Tochter Sophie Louise überhaupt mitnehmen zu dürfen.

Sophie Louise plant Aayana das Schwimmen beizubringen und ihr so zu einem nicen Stück Freiheit zu verhelfen. Dummerweise ertrinkt Aayana unbemerkt im Pool und löst eine Kette gesellschaftlicher Reaktionen aus.

Dieses Buch ist mein erster Glattauer und ich bin verliebt in seinen Wiener Schmäh. Mit großer Ironie spürt er gesellschaftliche Konventionen auf, die polarisieren. Die einen stehen auf der Seite der Grünen Politikerin, die alles richtig gemacht zu haben scheint, die anderen wollen sie hängen sehen. Die wenigsten lassen sich von der Flüchtlingsfamilie berühren.

Überraschend gelungen ist Glattauer die Darstellung von Sophie Louise. Da versetzt sich einer in die Jugend und weiß das zu zeigen, wie kein anderer. Kurz erinnerte ich mich daran, wie aufgedreht ich selbst als Jugendliche einmal war.

Ein wenig betrüblich fand ich, dass er während der Gerichtsverhandlung Aayanas Mutter befragen lässt, aber nicht die richtigen Worte findet, mich mit deren Schicksal, das furchtbarer nicht sein könnte, zu berühren.

Zitat: Alles in allem eine gelungene, lesenswerte Geschichte.

Bewertung vom 02.08.2023
Melody
Suter, Martin

Melody


ausgezeichnet

Tom, arbeitsloser Anwalt, dessen Vater verstorben ist und ihm nicht die erhoffte Liquidität ermöglicht, braucht einen Job. Er soll den Nachlass von Dr. Stotz ordnen. In den Stunden, die Tom nicht mit Dr. Stotz diniert und Weine degustiert, taucht er in dessen Geschichte ein. Dr. Stotz schwebt vor, der Nachwelt ein Bild zu hinterlassen, das ihn weiter strahlen lässt.

Das Thema ist die Vernunft, diese spröde Jungfer. Sie hat mir ein Leben lang in der Sonne gestanden. Sie hat mich herumkommandiert, wie eine Gouvernante. Und ich Trottel habe ihr immer gehorcht. Sie hat mich zu einem anderen Menschen gemacht als der, der ich sein wollte. S 34

Dr. Stotz, erfolgreicher Geschäftsmann, glaubt noch ein Jahr zu leben und so nimmt Tom diese Herausforderung an. Jeden Mittag und Abend während beide Mariellas sowohl hervorragende als auch reichhaltige italienische Küche genießen, hört Tom Dr. Stotz zu. Er erfährt alles über dessen ehemalige Angebetete, die spurlos verschwand. Im ganzen Haus finden sich kleine Gedenkstätten mit ihren Portraits.

Der Autor lässt Stimmungen entstehen, lässt die Protagonisten vor sich hin plaudern, wie in einem Film, lässt Dialoge von großer Handwerkskunst entstehen, zeigt statt zu erzählen. Man ahnt nicht auf was es hinauslaufen wird und ist am Ende über die Entwicklung überrascht.

Fazit: Absolut gepflegte Unterhaltung, schöne Atmosphäre, gelungene Dialoge.

Bewertung vom 31.07.2023
22 Bahnen
Wahl, Caroline

22 Bahnen


ausgezeichnet

Die Geschichte ist eine Ich-Erzählung. Tilda, eine junge Mathematikstudentin hat es schwer. Ihr Vater ist abgehauen und zahlt keinen Unterhalt. Nachdem er weg war begann ihre Mutter zu trinken. Mit der Zeit immer mehr. Jetzt liegt sie meistens unansprechbar auf dem Sofa oder sucht Streit. Das alles wäre an sich nicht Tildas größtes Problem. Ihre geliebte kleine Schwester Ida kann sich jedoch gegen “Monster-Mama” nicht wehren, gerät immer wieder zwischen die Fronten aus Rausch und Frust und läuft schon mal weg.

Tilda muss sich ihr Studium selbst verdienen, deshalb sitzt sie jeden Tag an der Kasse eines Supermarktes und scannt Lebensmittel ein. So oft sie kann fährt sie ins Schwimmbad und schwimmt 22 Bahnen. Wenn sie nicht sicher ist, ob sie richtig gezählt hat, hängt sie zur Strafe noch zwei dran, dabei begegnet ihr zwangsläufig Viktor (mit K), der große Bruder von Iwan, der ihr Freund war, bevor es passierte.

Ich mag den Erzählstil sehr:

Ich weiß natürlich, dass ich alarmiert sein muss, dass sie (Mutter) dieses Level an Aktivität nicht lange halten kann und dass wir keine Abendbrottisch-Familie sind, aber ein bisschen darf ich ja auch träumen.

Sie lässt uns Tildas Emotionen miterleben, ihre Wut, ihre Verbundenheit, ihre Verliebtheit und ihre Erschöpfung, wenn sie an den Rand des Schaffbaren gerät. Zeichnet schöne plastische Charaktere, die ich auch gerne kennengelernt hätte.

Obwohl einige emotional belastende Situationen passieren, schreibt die Autorin sich gekonnt schleichend and die Szenen heran und bereitet uns langsam darauf vor. Ich mag, wie die Autorin immer wieder zum Supermarkt springt und Tilda die Waren übers Band ziehen lässt. Und wie Tilda anhand der Produktpalette errät, wen sie vor sich hat, bevor sie nach oben schaut.

Fazit: Caroline Wahl hat etwas schönes geschaffen. Sie erzählt uns von Verantwortung und bedingungsloser Liebe. Von der Schwere des Erwachsenwerdens und einer gestohlenen Jugend. Es ist ein Buch, das Mut macht.

Die Autorin: CAROLINE WAHL wurde 1995 in Mainz geboren und wuchs in der Nähe von Heidelberg auf. Sie hat Germanistik in Tübingen und Deutsche Literatur in Berlin studiert. Danach arbeitete sie in mehreren Verlagen. -22 Bahnen- ist ihr Debütroman. Caroline Wahl lebt in Rostock