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Benutzername: 
dorli
Wohnort: 
Berlin
Buchflüsterer: 

Bewertungen

Insgesamt 883 Bewertungen
Bewertung vom 11.12.2022
Unschuld
Würger, Takis

Unschuld


sehr gut

Zehn Jahre ist es her, dass der 16-jährige Casper Rosendale erschossen wurde. Der Mechaniker der Familie, Florentin Carver, hat die Tat gestanden und wurde dafür zum Tode verurteilt. Jetzt rückt der Tag seiner Hinrichtung näher - noch 5 Wochen verbleiben ihm, bis eine Giftspritze seinem Leben ein Ende setzen soll. Molly Carver, die bis heute an die Unschuld ihres Vaters glaubt, will die wenigen Tage nutzen, um die Wahrheit über die damaligen Ereignisse ans Licht zu bringen…

In seinem Roman „Unschuld“ nimmt Takis Würger die vielfältigen Probleme der US-amerikanischen Gesellschaft ins Visier. Durch die Augen von Molly Carver gewährt der Autor dem Leser einen Blick auf die Abgründe, die sich hinter der schillernden Fassade der „großartigsten Nation“ der Welt auftun. Würger macht deutlich, wie weit die Schere zwischen Arm und Reich auseinander klafft. Er hebt die Selbstverständlichkeit hervor, mit der Schusswaffen besessen und getragen werden. Er schildert die Sorglosigkeit im Umgang mit Drogen und verschreibungspflichtigen Medikamenten. Und auch Themen wie die in manchen Bundesstaaten noch geltende Todesstrafe, die Hilflosigkeit bei seltenen Krankheiten und der ausgeprägte Patriotismus fließen in die Handlung ein.

Der Roman ist aber nicht nur ein Gesellschaftsporträt, sondern wird durch Mollys verzweifelte Suche nach Antworten und den aufschlussreichen Rückblenden in ihre Kindheit und in die Monate vor Caspers Tod gleichzeitig zu zwei dramatischen Familiengeschichten, die in unterschiedlichen sozialen Schichten spielen und sich auf verhängnisvolle Weise kreuzen.

Takis Würger konzentriert sich in seiner Geschichte auf das Wesentliche und verzichtet auf detaillierte Umschreibungen. Obwohl durch die vielsagende Kürze die Dinge auf den Punkt gebracht werden, hätte ich die Handlung gerne ausführlicher und mit etwas mehr Drumherum gehabt, um noch besser mit den Akteuren mitfiebern zu können.

„Unschuld“ hat mir insgesamt gut gefallen – ein Gesellschaftsroman, der die hässlichen Seiten hinter dem schönen Schein aufzeigt.

Bewertung vom 13.11.2022
Als die Welt zerbrach
Boyne, John

Als die Welt zerbrach


ausgezeichnet

Mit „Als die Welt zerbrach“ knüpft John Boyne an seinen erfolgreichen Roman „Der Junge im gestreiften Pyjama“ an. Seit dem tragischen Verschwinden des 9-jährigen Brunos im Jahr 1943 sind fast achtzig Jahre vergangen. Brunos mittlerweile 91-jährige Schwester Gretel führt heute ein zurückgezogenes Leben in London. Als sich in der Wohnung unter ihr ein Familiendrama abspielt, werden Erinnerungen wach - an ihren Bruder, an die schrecklichen Ereignisse, die sie ihr Leben lang zu Verschweigen versucht hat und an die schwerwiegende Schuld, die sich tief in Gretels Seele eingebrannt hat.

John Boyne geht in diesem Roman der Frage nach, wo Schuld eigentlich beginnt. Ist das Kind eines KZ-Kommandanten mitschuldig am Holocaust? Kann eine 12-Jährige für die Gräueltaten ihres Vaters mitverantwortlich gemacht werden? Hat ein junges Mädchen den Tod ihres Bruders verschuldet, weil sie ihn ermuntert hat, etwas Unbedachtes zu tun? Gretel selbst redet sich ein, unschuldig zu sein, fragt sich aber gleichzeitig, warum sie dennoch immer darauf bedacht ist, ihre Identität geheim zu halten.

„Als die Welt zerbrach“ wird fesselnd erzählt und entwickelt schnell einen Sog, dem man sich als Leser nicht entziehen kann. Der Roman ist eine emotionale Reise zu unterschiedlichen Stationen in Gretels Leben, an denen sie mit ihrer Vergangenheit und ihrer Schuld konfrontiert wird. In Paris werden sie und ihre Mutter vor eine Art Tribunal aus Résistance-Mitgliedern gezerrt; in Sydney trifft sie unerwartet auf Kurt, einen ehemaligen Mitarbeiter ihres Vaters, für den sie als 12-Jährige geschwärmt hat; in London verliebt sie sich in einen Juden, dessen Familie von den Nazis ermordet wurde. In jedem einzelnen Abschnitt wird dabei greifbar, wie groß Gretels Furcht ist, entdeckt zu werden und wie schwer die Last der Schuld wiegt.

Acht lange Jahrzehnte bestand Gretels Leben aus Angst und Schuldgefühlen. Die immerwährende Schuld hat sie geprägt. Als sie Zeugin wird, wie ihr neuer Nachbar seine Familie misshandelt, ist sie fest entschlossen, nicht wieder tatenlos wegzusehen, wenn wehrlosen Menschen Leid angetan wird. Heute will sie handeln, egal, was es sie kosten wird…

„Als die Welt zerbrach“ hat mir sehr gut gefallen - eine tiefgründige Geschichte, die kurzweilig erzählt wird und mich auch nach dem Lesen noch lange beschäftigt hat.

Bewertung vom 07.11.2022
In 80 Büchern um die Welt

In 80 Büchern um die Welt


sehr gut

„In 80 Büchern um die Welt“ ist ein reich bebildertes Nachschlagewerk, das einlädt, die Welt anhand literarischer Werke zu erkunden. Eingeteilt in vier Rubriken - Expedition und Reisen (ca. 725 v. Chr. bis 1897); Zeitalter des Reisens (1897-1953); Postmoderne. Neue Wege (1954-1999) und Reisen in der Gegenwart (2000 bis heute) - werden fast 80 bekannte und auch weniger bekannte Werke der internationalen Belletristik vorgestellt und näher beleuchtet.

Die jeweils zwei bis vier Seiten umfassenden Beiträge über die Werke stammen aus der Feder von mehr als 50 Autoren - Professoren, Journalisten, Kritiker, Übersetzer und andere dem Literaturbetrieb angehörende Schreibende haben an diesem Buch mitgearbeitet, so dass eine bunte Mischung stilistisch unterschiedlicher Artikel mit Inhaltsangaben, Hintergrundinformationen, Analysen und Interpretationen entstanden ist.

Die Auswahl der besprochenen Bücher ist ein wenig anders, als ich erwartet hatte. Laut Einleitung will das Buch „ein Reisebegleiter in verschiedene Ecken der Welt“ sein. Das abenteuerliche Bereisen bzw. Erkunden fremder Länder steht allerdings nicht immer im Mittelpunkt der Geschichten. In manchen Titeln geht es auch um Reisen im übertragenen Sinn. Um innere Reisen, die einen Prozess der Selbstfindung und der Selbstreflexion zum Thema haben.

Die Aufmachung des Buches ist eine Augenweide. Die informativen Artikel werden ansprechend präsentiert und sind mit zahlreichen Fotos, Reproduktionen von Gemälden, Illustrationen sowie einigen Landkarten versehen.

„In 80 Büchern um die Welt“ hat mir sehr gut gefallen - ein genauso unterhaltsames wie informatives Buch, das den Leser auf die unterschiedlichsten Reisen mitnimmt. Da mir viele der vorstellten Werke gänzlich unbekannt waren, ist dieses illustrierte Nachschlagewerk zu einem Füllhorn an Inspiration für mich geworden.

Bewertung vom 05.11.2022
Der Henker von Hamburg
Marschall, Anja

Der Henker von Hamburg


ausgezeichnet

Anja Marschall wartet auch im 5. Fall für Kommissar Hauke Sötje mit einer großen Portion Zeit- und Lokalkolorit auf - den Leser erwartet eine fesselnde Zeitreise ins Hamburg 1899.

Ein Abend in der Oper steht an und Hauke Sötje ist wenig begeistert. Doch seine Frau Sophie ist unerbittlich - als Leiter eines Kommissariats hat er gesellschaftliche Verpflichtungen und dazu gehören eben auch kulturelle Veranstaltungen. Kurz vor Beginn der Aufführung dann die Erlösung: Kriminalassistent Schröder meldet einen Leichenfund in der Kirche St. Gertruden. Haukes Anwesenheit am Tatort ist dringend erforderlich.

Sophie beschließt, „Tristan und Isolde“ auch ohne Begleitung zu genießen. Im Verlauf des Abends lernt sie die talentierte Sopranistin Carlotta Francini kennen und findet in der jungen Frau eine Freundin, die mit ihrer Unternehmungslust Sophies mittlerweile recht eintönigen Alltag ein wenig aufpeppt.

Der Mord an dem Pastor der St. Gertruden-Gemeinde entpuppt sich schnell als Beginn einer Serie - ein mörderischer Rachefeldzug, der Hauke und seinen Kollegen einige Rätsel aufgibt. Dass jedes der Opfer eine prägende Rolle in der Vergangenheit von Carlotta Francini gespielt hat, finden Hauke und Sophie erst nach und nach heraus…

Besonders begeistert hat mich das stimmige historische Bild, das Anja Marschall auch in diesem 5. Band der Reihe wieder zeichnet. Es ist ihr ganz wunderbar gelungen, den Zeitgeist des ausgehenden 19. Jahrhunderts einzufangen und den Alltag ihrer Figuren authentisch darzustellen. Die Eigenarten und Denkweise der Menschen um 1900 fließen genauso wie die Gepflogenheiten, Mode und Sprache in die Handlung ein.

Auch wenn der ereignisreiche Kriminalfall - in dem man manches erahnen kann und vieles dann doch ganz anders kommt, als man denkt - mit den spannenden Ermittlungen in Hamburgs Straßen im Mittelpunkt des Krimis steht, beleuchtet Anja Marschall noch ein weiteres großes Thema: die Situation und Rolle der Frau in der damaligen Gesellschaft. Als Ehefrau eines höherrangigen Beamten und Mutter einer kleinen Tochter wird von Sophie erwartet, dass sie ihre eigenen Bedürfnisse zugunsten der Familie zurückstellt. Das ist Sophie bewusst, dennoch wächst ihre Unzufriedenheit. Sie sehnt sich nach früheren Freiheiten, die Hauke ihr allerdings nur widerstrebend gewährt. Irgendwann muss dann aber auch er einsehen, dass die Ermittlungen ohne Sophie einfach nicht voranzubringen sind.

Neben den fiktiven Figuren bevölkern auch einige historische Persönlichkeiten diesen Krimi. So hat Polizeirat Gustav Roscher, der sich seinerzeit dafür eingesetzt hat, dass die Hamburger Kriminalpolizei mit den modernsten Methoden zur Verbrechensbekämpfung ausgestattet wird, als Haukes Vorgesetzter mehrere Auftritte. Außerdem begegnet man dem preußischen Scharfrichter Friedrich Reindel und seinem Sohn Wilhelm, die Einblicke in die Arbeit eines Henkers gewähren.

Die jedem Kapitel vorangestellten Originalauszüge aus unterschiedlichen Hamburger Zeitungen des Jahres 1899 sowie einige plattdeutsche Einschübe in den Dialogen runden diesen historischen Krimi perfekt ab.

„Der Henker von Hamburg“ hat mir sehr gut gefallen - ein historischer Kriminalroman, der mit interessanten Charakteren, stimmigem Zeitkolorit und einer fesselnden Handlung zu überzeugen weiß.

3 von 4 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 22.10.2022
So federleicht wie meine Träume
Turk, Mariko

So federleicht wie meine Träume


sehr gut

Alina hat sich ihre Zukunft in den schillernsten Farben ausgemalt - bis ein schrecklicher Unfall ihre Träume jäh beendet. Ein komplizierter Bruch ihres Beines macht eine Karriere als Balletttänzerin unmöglich. Statt wie geplant einen Intensivkurs des American Ballet Theatre zu besuchen, wartet jetzt der ganz normale Schulalltag auf sie. Sie hadert mit ihrem Schicksal, ist übellaunig und verhält sich allen gegenüber äußerst ruppig.

Zum Glück hat Mariko Turk Alina eine Retterin zur Seite gestellt: die gleichaltrige Margot ist eine Frohnatur und weiß mit Alinas gereizter Stimmung umzugehen. Margot überredet Alina, an einem Casting für ein Schulmusical teilzunehmen. Tatsächlich ergattert Alina eine der begehrten Rollen. Sie lernt während der Proben Jude kennen, der sich nach und nach in ihr Herz schleicht. Doch trotz geduldiger Freunde gelingt es Alina nur sehr langsam, wieder nach vorne zu blicken.

Die Gefühlswelt eines Teenagers fährt ja meist sowieso schon Achterbahn, Alinas mentale Verfassung gleicht allerdings einem Pulverfass, nachdem klar ist, dass der Arzt mit seiner Prognose - nie mehr Spitzentanz! - recht behalten sollte. Ich habe mich beim Lesen des Öfteren gefragt, wie ich wohl in jungen Jahren reagiert hätte, wenn mir mit einem Schlag alles, wofür ich jahrelang gearbeitet habe, genommen worden wäre. Wenn plötzlich meine gesamte Lebensplanung über den Haufen geworfen worden wäre. Mariko Turk gelingt es ganz hervorragend zu vermitteln, was Alina durchmacht und wie schwer es für sie ist, mit dem herben Schicksalsschlag umzugehen. Auch ohne Ähnliches erlebt zu haben, kann ich Verständnis für das Mädchen und ihre explosive Gemütsverfassung aufbringen.

Ganz nebenbei gibt die Autorin ihrer Protagonisten den Raum, ein anderes Thema aufzuarbeiten - Rassismus und Diskriminierung. Alina wird im Verlauf der Handlung klar, dass auch die Ballettwelt nicht nur rosig ist, sondern es durchaus Momente gab, in denen sie aufgrund ihrer japanischen Wurzeln benachteiligt wurde.

„So federleicht wie meine Träume“ hat mir sehr gut gefallen – ein unterhaltsamer Roman, der im Highschool-Milieu spielt und aufzeigt, wie wichtig es ist, in schwierigen Zeiten gute Freunde zu haben.

Bewertung vom 16.10.2022
Am Ende zu viel
Heinrichs, Kathrin

Am Ende zu viel


ausgezeichnet

Anton Wieneke steht kurz vor seinem achtzigsten Geburtstag und befindet sich gerade in einer depressiven Phase - gesundheitlich steht es nicht zum Besten, er empfindet das Leben nur noch als beschwerlich und glaubt, jedem in seinem Umfeld zur Last zu fallen.

Für seine aus Polen stammende Pflegerin Zofia eine schwierige Zeit. Es ist nicht einfach, Anton aufzumuntern, dabei möchte die Mittdreißigerin doch, dass jeder Tag für Herrn Anton ein fröhlicher Tag ist.

Der Besuch des Bestatters Reinold „Nolli“ Weitmann verspricht ein wenig Abwechslung. Nolli braucht Antons Rat. Der Bestatter soll die Leiche des angeblich an einem Herzinfarkt verstorbenen Bankers Markus Hammecke zurechtmachen und glaubt, Hinweise auf ein Fremdverschulden entdeckt zu haben. Anton informiert seinen Sohn Thomas, der bei der Mordkommission Dortmund arbeitet. Es stellt sich heraus, dass Nollis Zweifel berechtigt waren: Hammecke wurde ermordet! Während Thomas in das offizielle Ermittlerteam berufen wird, lassen es sich Anton und Zofia nicht nehmen, ihrerseits auf Spurensuche zu gehen…

„Am Ende zu viel“ heißt es für fast jeden in diesem Krimi. Opfer, Täter, Ermittler - jeder von ihnen stößt auf die eine oder andere Art an seine Belastungsgrenze. Überlastung im Alltag - dieses doch ernste Thema hat Kathrin Heinrichs mit einer guten Portion Spannung und feinsinnigen Humor verknüpft und lässt den dritten Band rund um ihr ungleiches Ermittlertrio damit zu einem äußerst unterhaltsamen Krimi werden.

Kathrin Heinrichs erzählt die Geschichte sehr schwungvoll. Die lebhafte Handlung ist von Anfang bis Ende bestens durchdacht und kommt ohne übertriebene Action aus. Dafür gibt es viele spannende Verstrickungen - das Leben des Opfers war äußerst konfliktreich, so dass irgendwie jeder aus Markus Hammeckes Familien- und Bekanntenkreis der Mörder sein könnte.

Anton und Zofia sind zwei Hobbyermittler, denen man gerne folgt. Anton ist höflich und zuvorkommend und Zofia, die mit ihrer holperigen deutschen Grammatik besonders authentisch daherkommt, ist eine Seele von Mensch. Zwei liebenswerte Charaktere, die durch den Umgang miteinander auf eine sehr charmante Art unterhaltsam sind. Die beiden nutzen für die Spurensuche ihre persönlichen Vorteile - Zofia ist umsichtig und besticht durch eine gute Kombinationsgabe und Anton kann mit seiner guten Ortskenntnis und einem großen Bekanntenkreis punkten. Sie stellen Fragen, gehen Hinweisen nach, nutzen den Klatsch und Tratsch aus ihrem Umfeld (vor allem an den angesagten örtlichen Hotspots: Bushaltestelle und Frittenbude) und beobachten, spekulieren und kombinieren.

Die dörfliche Atmosphäre in der kleinen sauerländischen Gemeinde ist Kathrin Heinrichs hervorragend gelungen - jeder kennt hier jeden, doch eigentlich weiß niemand so richtig, was seinen Nachbarn bewegt, beschäftigt oder belastet. Dass hier vieles unter den Teppich gekehrt wird, mancher nicht so ganz bei der Wahrheit bleibt oder die Dinge nur halb erzählt, bremst die polizeilichen Ermittlungen erheblich aus. Irgendwann platzt Thomas der Kragen. Danach bekommt er die Informationen, die er braucht und kann schließlich - dank einiger wertvoller Hinweise von Seiten der Amateurdetektive - den Täter dingfest machen.

„Am Ende zu viel“ hat mir sehr gut gefallen - ein Krimi, dessen Figuren und Handlung wie aus dem Leben gegriffen wirken. Wer amüsante Krimis mit originellen Figuren und spannenden Verstrickungen mag, kommt hier voll auf seine Kosten.

Bewertung vom 04.10.2022
Hinter dem hellen Schein / Schloss Liebenberg Bd.1
Caspian, Hanna

Hinter dem hellen Schein / Schloss Liebenberg Bd.1


gut

In ihrer Familiensaga rund um das im nördlichen Brandenburg gelegene Schloss Liebenberg nimmt Hanna Caspian ihre Leser mit in die frühen Jahre des 20. Jahrhunderts und erzählt aus der Perspektive der Dienstboten von der Harden-Eulenburg-Affäre, die zu einem der größten Skandale des deutschen Kaiserreiches wurde.

Die Handlung dieses ersten Bandes beginnt im Sommer 1906. Adelheid Schaaf, 18-jährige Tochter eines Tagelöhners, kann ihr Glück kaum fassen - sie soll auf Anordnung des Fürsten neues Stubenmädchen im Schloss werden und dass, obwohl sie über keinerlei Erfahrung als Hausangestellte verfügt. Adelheid ist klar, dass Neid und Missgunst auf sie warten, denn unter den Dienstboten herrscht eine strenge Hierarchie, in der man sich normalerweise über die Jahre hinweg Stufe für Stufe hocharbeiten muss. Und so wundert es eigentlich niemanden, dass das Hausmädchen Lydia Keller, die sich entsprechend der Rangfolge Hoffnung auf die höhere Stelle als Stubenmädchen gemacht hatte, nicht müde wird, Adelheid zu piesacken wo es nur geht.

Neben der Eulenburg-Affäre sind es vor allen Dingen die harten Lebens- und Arbeitsbedingungen der kleinen Leute in der von großen sozialen Klassenunterschieden geprägten Gesellschaft des Deutschen Kaiserreichs, die Hanna Caspian in den Vordergrund ihres Romans rückt. Arbeiten bis zur Erschöpfung für einen geringen Lohn, strenge Benimmregeln und immer der Willkür der Herrschaft ausgesetzt - so sah der Alltag für Adelheid, Constanze, Viktor und die anderen Bediensteten auf Schloss Liebenberg aus. Nicht zu vergessen die persönlichen Sorgen und Probleme in ihren jeweiligen Familien.

Hanna Caspian hat mich mit ihrer Greifenau-Saga begeistert. Entsprechend vorfreudig war ich auf den Start dieser neuen Reihe - und bleibe nach dem Lesen des ersten Bandes recht zwiegespalten zurück. Die Autorin hat ein gutes Händchen für Figuren und versteht es zudem ganz ausgezeichnet, auch eine große Anzahl Akteure zu koordinieren, das hat sie bereits eindrucksvoll bewiesen. Es ist schade, dass sie dieses wunderbare Talent hier nicht ausgeschöpft hat. Die meisten der Liebenberger-Figuren sind eindimensional und entwickeln sich kaum. Es ist mir schwer gefallen, mit ihnen mitzufiebern und mitzufühlen. Hinzu kommt, dass es kein lebhaftes Zusammenspiel gibt, sondern mehrere „Einzelkämpfer“, die sich durch Eifersüchteleien, Geheimnisse, Schikanen und Intrigen das sowieso schon schwere Leben noch schwerer machen. Das ganze Miteinander oder eben auch Gegeneinander des Personals war durchweg nicht so ausgefeilt, wie ich es erwartet hatte.

Gestört haben mich auch die vielen Wiederholungen. Ereignisse und Gegebenheiten werden mehrfach erwähnt und ganz besonders die schwierigen Lebensumstände der Protagonisten werden wieder und wieder aufgegriffen - das trübt die Lesefreude.

Gut gefallen hat mir dagegen der historische Hintergrund. Die Fakten zur Eulenburg-Affäre, die politische Entwicklung und die damals geltenden gesellschaftlichen Konventionen sorgen für Authentizität und bereichern die Handlung.

„Schloss Liebenberg. Hinter dem hellen Schein“ konnte mich nicht so fesseln, wie ich es mir erhofft hatte.

Bewertung vom 03.10.2022
Der Leuchtturm an der Schwelle der Zeit
Pulley, Natasha

Der Leuchtturm an der Schwelle der Zeit


ausgezeichnet

Londres, 1898. Der 43-jährige Joe Tournier steigt am Gare du Roi aus dem Zug und ist verwirrt - er weiß zwar, wie er heißt, kann sich aber ansonsten an nichts erinnern. Dinge, die ihm bekannt sein sollten, kommen ihm völlig fremd vor. Bahnhöfe und Straßen haben französische Namen, dabei befindet er sich doch in England. Oder? Der verstört wirkende Joe wird in eine psychiatrische Klinik gebracht und erfährt, dass er an einer besonderen Form der Epilepsie erkrankt ist.

Per Zeitungsannonce wird nach möglichen Angehörigen gesucht und tatsächlich meldet sich jemand - Monsieur Saint-Marie. Dieser erklärt, dass Joe schon von Kindesbeinen an als Leibeigener in seinem Haushalt lebt. Sogar verheiratet ist er. Doch weder Joes vermeintliche Ehefrau noch sein angebliches Zuhause helfen, den Schleier des Vergessens zu lüften.

So gehen einige Monate ins Land. Joe ist mittlerweile ein freier Mann, an seinem Zustand hat sich allerdings nichts geändert. Im Gegenteil, eine rätselhafte Postkarte mit einem abgebildeten Leuchtturm und der Nachricht: „Liebster Joe, komm nach Hause, wenn du dich erinnerst. M.“ befeuert seine Verwirrung noch. Nicht nur, dass die Karte vor über 90 Jahren abgeschickt wurde, macht Joe stutzig, auch, dass ihm der Turm - dieser befindet sich auf der Insel Eilean Mor, die zu den Äußeren Heriden gehört - so vertraut vorkommt, empfindet Joe als sehr seltsam.

Auf der Suche nach Antworten landet Joe in einer Werkstatt für Leuchtturmgeneratoren. Hier bekommt er zwar keine neuen Hinweise, dafür aber eine Anstellung als Schweißer. Zwei Jahre später beschert ein Reparaturauftrag Joe überraschend die Möglichkeit, den Dingen und damit auch seiner Identität auf den Grund zu gehen. Zuversichtlich reist er nach Schottland, nicht ahnend, dass ihm das eigentliche Abenteuer noch bevorsteht…

„Der Leuchtturm an der Schwelle der Zeit“ ist ein History-Fantasy-Mix, der sehr anschaulich erzählt wird und mich mit seiner abwechslungsreichen Handlung begeistert hat. Schon nach wenigen Seiten war ich gefesselt von Joes Erlebnissen und habe gespannt das Geschehen verfolgt.

Natasha Pulley thematisiert in diesem Zeitreiseroman den Schmetterlingseffekt aus der Chaostheorie. Dieser besagt, dass selbst kleinste Veränderungen in der Vergangenheit immense Auswirkungen auf die Zukunft haben können. Die Autorin nutzt als Fundament für ihre Geschichte die napoleonischen Kriege. Die historischen Fakten rund um die turbulenten Seeschlachten zwischen England und Frankreich im frühen 19. Jahrhundert hat sie auf spannende Weise mit fantasievoller Handlung vermischt und lässt so eine alternative Realität vor den Augen des Lesers entstehen - eine Realität, in der die Franzosen siegreich aus dem Krieg hervorgegangen sind und England besetzt haben. Eine Realität, die Joe Tournier so furchtbar falsch vorkommt.

Natasha Pulley steckt nicht nur viel Aufmerksamkeit in die Beschreibungen der Handlungsorte, die feine Charakterisierung der Figuren und die facettenreichen Schilderungen des Geschehens, sie spart auch nicht an Emotionen, so dass man prima mit Joe und seinen Wegbegleitern mitfiebern und mitfühlen kann. Eine Liebesgeschichte gibt es auch, diese verläuft aber über die Zeiten hinweg eher im Hintergrund.

Man sollte sich für das Buch ausreichend Zeit nehmen. Die Geschichte ist durch die verschachtelten Zeitebenen sehr komplex und erfordert konzentriertes Lesen, um den Faden nicht zu verlieren.

„Der Leuchtturm an der Schwelle der Zeit“ hat mir sehr gut gefallen - es hat Spaß gemacht, Joe auf seiner ereignisreichen Reise durch die Zeiten zu begleiten.

Bewertung vom 11.09.2022
Nordfriesische Verschwörung
Kramer, Gerd

Nordfriesische Verschwörung


ausgezeichnet

Gerd Kramer beginnt den sechsten Band seiner in Nordfriesland spielenden Krimireihe mit einem spannenden Prolog - Florian, Winfried und Jenna wollen ein paar Tage mit einer Segelyacht durchs Wattenmeer schippern. Doch der Törn findet ein jähes Ende: ein riesiges Leck lässt das Boot innerhalb kürzester Zeit untergehen.

Dreißig Jahre später bekommen die Husumer Kommissare Flottmann und Hilgersen es mit einer Serie von Mordanschlägen zu tun. Zwei auf den ersten Blick unbescholtene Männer werden durch kriminelle Machenschaften auf ganz unterschiedliche Weise aus ihrem normalen Alltag gerissen. Flottmann und Hilgersen nehmen die Ermittlungen auf und finden sich plötzlich im Umfeld von Verschwörungsgläubigen wieder.

Verschwörungsmythen - ein interessantes und sehr aktuelles Thema, das Gerd Kramer in „Nordfriesische Verschwörung“ nicht nur umfassend beleuchtet, er zeigt auch auf, wie einfach es ist, labile Menschen, die von persönlichen Verlusten und Angstzuständen geplagt werden, mit Verschwörungserzählungen zu manipulieren, zu radikalisieren und sie zu willigen Mordwerkzeugen zu machen.

Mit von der Partie ist auch diesmal der hochsensible Musiker Leon Gerber. Dieser bereichert die Handlung nicht nur mit Einblicken in die faszinierende Welt der Akustik, er ist auch wieder mittendrin im Geschehen und unterstützt die Kommissare einmal mehr bei ihren Ermittlungen.

Abgerundet wird die spannende Krimihandlung durch eine kräftige Portion Humor - sowohl die herrlichen Wortgefechte zwischen Flottmann und Hilgersen wie auch der neueste Schabernack von Kater Bogomil, der sein Herrchen wieder einmal an den Rand der Verzweiflung bringt, sorgen für gute Unterhaltung. Außerdem hält Gerd Kramer allerlei Wissenswertes über Land und Leute für den Leser bereit.

„Nordfriesische Verschwörung“ hat mir sehr gut gefallen - ein Küsten-Krimi, der mit einem spannenden Thema, genau der richtigen Dosis Humor und viel Lokalkolorit punkten kann.

Bewertung vom 04.09.2022
Raue Havel
Pieper, Tim

Raue Havel


ausgezeichnet

Tim Pieper beginnt den sechsten Band seiner Havel-Krimi-Reihe mit einer neugierig machenden Rückblende in das Jahr 1946 - mehrere Jugendliche befinden sich unter grausamsten Umständen im Untersuchungsgefängnis des sowjetischen Geheimdienstes in Potsdam und sollen alle bis auf den Jüngsten wegen einer Lappalie exekutiert werden.

In der gegenwärtigen Handlung hat der kräftezehrende Arbeitsalltag Hauptkommissar Toni Sanftleben schon wenige Wochen nach einer längeren Auszeit wieder fest im Griff. Neben dem Fund dreier jahrzehntealter Skelette in einem alten Bootshaus an der Havel fordert der brutale Mord an der Journalistin Katharina Ihlow seine ganze Aufmerksamkeit. Tonis Privatleben hält unterdessen eine Überraschung für ihn bereit: Seine Mutter, zu der er schon immer ein sehr distanziertes Verhältnis hatte, kündigt plötzlich ihren Besuch an.

Die spannenden Ermittlungen im Mordfall Ihlow werden immer wieder von Abschnitten unterbrochen, die in der zweiten Hälfte der 1940er Jahre spielen. Hier steht ein Spionagefall im Mittelpunkt, der auf wahren Begebenheiten beruht. Tim Pieper hat historische Fakten und Gegebenheiten rund um die Geheimdienststadt „Militärstädtchen Nr. 7“, die viele Jahre Deutschlandsitz der sowjetischen  Militärspionageabwehr war, gekonnt mit einer mitreißenden fiktiven Geschichte verwoben, in der die junge Vera Sanftleben die Hauptrolle innehat.

Ich lese gerne Geschichten, die auf unterschiedlichen Zeitebenen spielen, weil man prima darüber spekulieren kann, wie sich Ereignisse aus früheren Zeiten auf das aktuelle Geschehen auswirken. Diese Möglichkeit hat mir Tim Pieper mit diesem Krimi geboten - es hat großen Spaß gemacht, über die Hintergründe der Vorkommnisse und die Zusammenhänge zwischen dem Mord an der Journalistin und dem alten Spionagefall zu rätseln, und es war äußerst spannend mitzuverfolgen, welch Kreise manche Taten auch nach über einem halben Jahrhundert noch ziehen können.

„Raue Havel“ hat mir sehr gut gefallen - eine rasant erzählte Mischung aus historischen Fakten und spannender fiktiver Handlung.