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Kwinsu
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Salzburg

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Insgesamt 49 Bewertungen
Bewertung vom 01.10.2023
Kajzer
Kaiser, Menachem

Kajzer


gut

Ambivalenz und Aufarbeitung

„[…] wogende Hügel, fette Heuballen, Berge in der Ferne. Ein paar große moderne Häuser, weit genug auseinander, um als Teil der Szenerie durchzugehen. Es fühlte sich vertraut an, oder vielleicht meine ich nicht vertraut, sondern erwartet: So sieht ein Ort mit der schrecklichsten Geschichte aus, so etwas geschieht, wenn die Zeit sich darüber hergemacht hat. Je düsterer die Geschichte, desto opulenter die Landschaft? Schotterwerk hatte zumindest elf Baracken und beherbergte mindestens 1250 Häftlinge. Ich blieb nicht länger; das Malerische verstimmte mich.“ (S. 235)

Menachem Kaiser, kanadischer Autor mit Jüdischen Wurzeln, macht sich auf, die Geschichte seiner Familie zu ergründen. Schnell gerät sein Großvater, den er nie kennengelernt hatte, in den Fokus seines Interesses. Wenig weiß er über ihn, doch plötzlich findet er heraus, dass sich der Vater seines Vaters über 20 Jahre darum bemüht hatte, Restitution für ein Haus in einer polnischen Stadt, welches die Familie durch die Shoa verloren hatte, zu erlangen. Hier beginnt die abenteuerliche Reise, die den Autor zahlreiche Male nach Polen führt; die ihn wundersame Menschen treffen; die berührende Geschichten über seine Verwandtschaft zutage treten und die ihn die schrecklichste aller Geschichten ein Stück weit aufarbeiten lässt.

Die Erzählung über seine Familie und die Idee seines Großvaters, das Haus in Polen wieder in Familienbesitz zurückzuholen, wiederaufzunehmen und selbst dabei sein Glück zu versuchen, beginnt spannend und kurzweilig. Immer wieder lässt der Autor die Leser/innen an seinen teils philosophischen und moralischen Gedankengängen teilhaben. Es ist durchaus erhellend mitzuverfolgen, wie er sich in Polen auf Spurensuche begibt, die Bewohner/innen des mutmaßlichen Familienhauses kennenlernt und sich mit dem Polnischen Justizsystem durchschlägt. Doch dann, nach rund 60 Seiten, beginnen weitere knapp 100 Seiten, die mich fast zur Aufgabe getrieben hätten. Für meinen Geschmack viel zu ausführlich beschreibt er Begegnungen mit sogenannten Schatzsuchern, die eine Obsession mit einem mysteriösen, unterirdischen Nazi-Bauwerk, genannt „Riese“, entwickelt haben und ihr Leben scheinbar der Schatzsuche in diesem Gebilde verschrieben haben. Kaiser fühlt sich wohl von ihnen angezogen als auch abgestoßen zugleich – die Faszination muss aber doch so stark gewesen sein, dass er es wert fand, beinahe 100 Seiten über sie zu schreiben. Warum dies so ausführlich geschehen musste und was das zum Fortgang der Geschichte, die er erzählen mag, beigetragen hat, ist mir nach (doch noch geschaffter) Beendigung des Buches überhaupt nicht klar. Ein kurzes Kapitel darüber wäre meines Erachtens ausreichend gewesen. So habe ich das Buch genommen, ein paar Seiten gelesen, es aus Langeweile wieder weggelegt, pflichtbewusst wieder aufgenommen – und nach kurzer Zeit wieder weggelegt. Immer und immer wieder habe ich mir gedacht, ich muss dem Buch noch eine Chance geben. Und nachdem die Ergüsse über die Schatzsucher ein Ende nahm, wurde ich belohnt: es wurde wieder lesbar! Wie ein Detektiv ergründet er die Geschichten seiner Verwandtschaft – besonders jene von Abraham, einem Cousin seines Großvaters (auf den er zugegebenermaßen durch die Schatzsucher gekommen ist) – seine Erlebnisse sind berührend und unergründlich zugleich. Das Ende des Buches finde ich jedoch irgendwie wieder unbefriedigend. Für mich wirkt es nicht abgerundet – eine Sache bleibt unabgeschlossen – ich möchte hier nicht spoilern, aber er hätte mit dem Abschluss des Buches ruhig noch den Ausgang abwarten können. Auch wenn das noch 20 Jahre gedauert hätte, die erzählte Geschichte hat nichts an Dringlichkeit.

Für mich ist das Buch sehr ambivalent – einerseits hochspannend und stilistisch gut geschrieben, andererseits nervtötend und das Ende nicht zufriedenstellend. Der Autor lässt einen in die Jüdische Lebenswelt eintauchen, bringt den Lesenden aber auch seine Wahrnehmung der Polnischen Gesellschaft näher und gibt Einblicke in den Umgang mit deren Nazi-Vergangenheit. Ich bin überzeugt, dass es bessere Bücher über die Spurensuche in die Jüdische (Familien-)Vergangenheit gibt, nichts desto trotz hat „Kajzer“ seine interessanten und bereichernden Seiten.

Bewertung vom 28.09.2023
Der Wald
Rode, Tibor

Der Wald


ausgezeichnet

Das geheime Leben der Pflanzen

"Haben die Menschen die Natur erschaffen, oder hat die Natur den Menschen erschaffen? Hat die Pflanze weniger Berechtigung, auf diesem Planeten zu leben, als der Mensch? Insbesondere wenn man bedenkt, dass sie offenbar in der Lage ist, sich gegen andere Pflanzen und sogar den Menschen evolutionär zu behaupten?" (S. 280)

Wir befinden uns in einer Dystopie: überall auf der Welt wuchert eine unbekannte Pflanze in rasanter Geschwindigkeit, sie vernichtet alles, was um sie herum wächst und ist auch für Menschen lebensbedrohlich. Sie vereint alle Eigenschaften von den unterschiedlichen Pflanzengattungen und es scheint, als wäre sie unzerstörbar. Im Kampf gegen die Ausbreitung der Pflanze begleiten wir drei Hauptprotagonist:innen: den Pflanzen-Neurobiologen Marcus Holland, der versucht die Pflanze zu verstehen, um ihrer so Herr zu werden; die Archäobotanikerin Waverly Park, die unwissentlich daran beteiligt ist, die „Teufelspflanze“ überhaupt erst zu ihrer Existenz zu verhelfen; und die Informatikerin Ava, die an einem Forschungsprojekt im Kanadischen Urwald arbeitet, das schlussendlich mehr mit der Pflanze zu tun hat, als zu Beginn angenommen werden kann. In einer Reise um den Globus trifft wissenschaftlich Gutes auf kapitalistisches Böses, spielt die Geschichte der Erde und die Geschichte der Illuminaten sowie der Blick in die Zukunft der Künstlichen Intelligenz eine zusammenhängende Rolle und letztendlich ist – fast – nichts so, wie es scheint.

Der Biothriller ist rasant im Tempo und durchgehend spannend, es ist mir sehr schwer gefallen das Buch wegzulegen. Immer wieder tauchen neue Aspekte und Wendungen in der Story auf, die größtenteils unerwartet sind. Tibor Rode schafft es gesellschaftliche Fehlentwicklungen in einer dystopischen Geschichte aufzuzeigen und komplexe Lebewesen zu thematisieren, die in unserer Gegenwart im Bewusstsein eine viel zu untergeordnete Rolle spielen: Pflanzen. Wie das oben angeführte Zitat aus dem Roman darlegt, regt die Entwicklung der Geschichte die Leser:innen dazu an, die gesellschaftlichen Gegebenheiten zu hinterfragen. Es wird ein Bild gezeichnet, das sich durchaus in unserer Welt ereignen kann – eine neue Bedrohung, die die Menschheit in ihrer Existenz bedroht. Es eröffnet einen Horizont, der zugleich realistisch als auch utopisch bzw. dystopisch erscheint.

So fesselnd die Geschichte auch ist, hat das Buch auch seine Schwächen. Einige Geschehnisse sind für die Geschichte völlig unnötig und es ist schwer nachvollziehbar, weshalb diese eingeflochten wurden – der Autor hätte diese schlicht sein lassen können (beispielsweise eine kurz nebenbei erwähnte Liebesgeschichte). Bei anderen Wendungen fragt sich eine, weshalb sie eingebaut wurden, weil sie als ziemlich unrealistisch und für die Story unrelevant erscheinen. Ich möchte nicht näher darauf eingehen, um nicht zu spoilern, aber der Austausch mit anderen Lesenden hat mich in dieser Ansicht nur bestätigt. Teilweise ergeben gewisse Entwicklungen einfach keinen Sinn. Anderes bleibt unerklärt und hinterlässt eine mit dem Gefühl, dass Erklärungen fehlen.

Nichtsdestotrotz spreche ich für „Der Wald“ eine absolute Leseempfehlung aus! Es ist eines der spannendsten Bücher das ich seit langer Zeit gelesen habe und der Autor schafft es, eine so zu fesseln, dass es schwer ist, das Buch wegzulegen und nicht darüber nachzudenken! Er zeichnet eine absolut realistische Dystopie, bei der nur gehofft werden kann, dass sie niemals so eintritt. Ihm gelingt es, dass sich die Lesenden über die derzeitigen global-gesellschaftlichen Entwicklungen hinterfragende Gedanken machen und dazu anzuregen, etwas für die Verbesserung im Umgang mit der Natur zu tun!

Bewertung vom 14.09.2023
Als wir an Wunder glaubten
Bürster, Helga

Als wir an Wunder glaubten


ausgezeichnet

Der Weltuntergang, der nicht kam

"In den Nachbardörfern ist die Welt auch schon untergegangen, aber keiner hat's gemerkt." (S. 13)

1949: Es ist eine Welt zwischen den Welten - in Unnenmoor tickt die Zeit noch anders. Es gibt kaum Strom, überall herrscht Armut und das einzige Telefon ist im Dorfwirtshaus zu finden. Die Menschen leben fest mit dem Moor verbunden, weit verbreitet ist der Glaube an Hexerei und die Moorgeister. Stetes Misstrauen beherrscht das Denken der Dorfbewohner/innen. Das bekommt auch Edith zu spüren, die mit ihren roten Haaren prädestiniert dazu ist, als Hexe verunglimpft zu werden. Besonders Fritz, der Dorfquaksalber, hat es auf sie abgesehen und hetzt ihre ehemals beste Freundin, Anni, und deren vom Krieg stark gezeichneten Mann Josef, aufs Übelste gegen sie auf. Doch Edith glaubt an das Gute und kämpft mutig - gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten Theo und ihrer jugendlichen Tochter Betty - gegen die gesponnenen Intrigen an.

Helga Bürster entführt uns in "Als wir an Wunder glaubten" in einen mystischen Mikrokosmos der Nachkriegszeit in der Peripherie, der gleichermaßen brutal wie auch liebenswert ist. Ihren Schreibstil empfand ich als kühl, hart und distanziert, gleichzeitig schaffte sie es aber auch, mich durch die doch vorhandene Herzlichkeit und Wärme einzufangen. Stilistisch erinnerte mich "Als wir an Wunder glaubten" ob der besonderen Atmosphäre an den Schwedischen Schriftsteller Torgny Lindgren. Das Buch liest sich wie ein zeitgeschichtliches Märchen, die Protagonist/innen sind einfach, aber doch komplex gestrickt, die Moral steht stetig als verhandelbare Instanz an der Seite. Der Wahn, der manchen der Figuren innenwohnt, ist greif- und, aufgrund der dunklen Vergangenheit und den damit verbundenen schrecklichen Erlebnissen, nachvollziehbar. Die Natur hat im Roman einen ganz speziellen Stellenwert - das Moor scheint für die Menschen im Dorf eine besondere, magische und zugleich schöne wie auch schreckliche Macht zu sein, die aber letztendlich durch den Fortschritt in ihrer Existenz bedroht ist. Kontinuierlich wird die Vergangenheit und die Zukunft des Dorfes verhandelt, vermutlich um die Gegenwart zu verdrängen. Über allen Charakteren steht die Schuld, die sie im Nationalsozialismus durch aktive Teilnahme oder passive Ignoranz auf ihre Schultern geladen haben - doch gesprochen wird darüber nicht. Die Atmosphäre des Romans ist getragen von Negativität, dem Bösen und dem Unerklärlichen, die durchbrochen werden von dem Glauben an die Zukunft. Die Protagonist/innen sprechen oft in Plattdeutsch, was unübersetzt bleibt, aber so eingebaut wurde, dass es verständlich bleibt. Das spezielle Stil hat es mir anfänglich sehr schwer gemacht, in die Geschichte hineinzufinden, doch je weiter sie voran schreitet, desto fesselnder wurde sie. So schmerzlich es auch ist, die Ungerechtigkeit, die sich die Menschen selbst aufbürden, auszuhalten, so schön und bereichernd ist es, die Hoffnung auf eine bessere Zukunft zu begleiten.

Mein Fazit: ein absolut lesenswerter Roman, der etwas Zeit braucht um zugänglich zu werden. Getragen wird er durch eine mystische, düstere Stimmung, über der aber immer Hoffnung schwebt. "Als wir an Wunder glaubten" ist keine Lektüre wenn sich der oder die Leser/in nach einem heiteren, kurzweiligen Roman sehnt, aber umso lohnenswerter, wenn einer/m nach Literatur mit Anspruch zu mute ist.

Bewertung vom 10.09.2023
Am Tag des Weltuntergangs verschlang der Wolf die Sonne
Scherzant, Sina

Am Tag des Weltuntergangs verschlang der Wolf die Sonne


ausgezeichnet

Vom Sehen und gesehen werden

"Ohne es zu wissen, lechzte ich offensichtlich danach, gesehen zu werden, und die Sehende zu teilen kam nicht infrage."

Katha ist vierzehn und nicht nur ihr Alter garantiert Umbruch, sondern auch das Leben, das sie nicht beeinflussen kann. Ihre Eltern trennen sich, sie ziehen mit Mutter und Schwester in eine neue Stadt und sie hat viel damit zu tun, es allen recht zu machen. Ihre Mutter versinkt in Selbstmitleid, ihre Schwester rebelliert biestig, aber liebenswürdig gegen alles und jeden. In der neuen Schule findet sie auf Anhieb Anschluss, weil sie es perfekt beherrscht, sich einzufügen. Durch ihre neue Clique kommt es zu einer Begegnung, die ihr ganzes Leben, ihre ganze Identität auf den Kopf stellen wird: Angelica, die Mutter der Cliquen-Anführerin Sofie, ist anders; rebellisch, unangepasst, bunt, Frauen liebend. Und sie ist die Erste, die Katha scheinbar sieht.

Sina Scherzant erzählt in "Am Tag des Weltuntergangs verschlang der Wolf die Sonne" eine vielschichtige, einfühlsame und feministische Geschichte vom Erwachsenwerden, vom Sich-Finden und vom Empfinden tiefer Verbundenheit, die sich nicht kategorisieren lässt. Haarscharf analysiert sie das Komplizierte an Beziehungen, an Freundschaft, Liebe und der eigenen Identität, verpackt es in einer auto-fiktionalen Erzählung und schafft es gekonnt, die Protagonistin zum Wachsen zu bringen. Die Geschichte ist packend von der ersten Zeile weg, sofort ermöglicht es die Autorin sich in Katha hineinzuversetzen. Die Lesenden fühlen die Zerrissenheit und die Forderung endlich gesehen zu werden; das Für und Wider es allen stets recht zu machen - und den Ausbruch daraus. Der Schreibstil ist kurzweilig und herausfordernd zugleich, denn philosophische und gesellschaftskritische Gedanken begleiten stets den Fortgang der Geschichte. Zwischendurch, in einer Phase der Trauer, werden die Gedanken so selbstzerstörerisch, dass es beinahe unaushaltbar ist. Aber darin liegt die große Stärke des Geschriebenen, denn auch dieser Prozess ist nachvollziehbar und nachfühlbar. Und schließlich versöhnt uns die Autorin mit der Trauer und der Tatsache, dass sich das Leben weiterentwickelt.

Sina Scherzant ist ein ganz großer, einfühlsamer und feministischer Debütroman gelungen, der lange nachhallen wird und es definitiv verdient hat, (mindestens) ein weiteres Mal gelesen zu werden!

Bewertung vom 26.08.2023
Hinter der Hecke die Welt
Molinari, Gianna

Hinter der Hecke die Welt


ausgezeichnet

Wow - was für ein Buch! In den 176 Seiten (E-Book) passiert kaum etwas, trotzdem ist das Lesen dieser Geschichte eine enorm wohlig-traurige Bereicherung!

"Hinter der Hecke die Welt" ist eine Erzählung, die einerseits greifbar macht, wie der Mensch die Erde Untertan macht und unwiederbringbar verändert. Anhand der Reise mit einem Expeditionsschiff in die Arktis und der Protagonistin Dora, die sich an eine unbekannte Welt herantastet und doch deren Veränderungen spürt, wird der Eingriff der Menschheit auf die Natur veranschaulicht. "Vielleicht, sagen sie, gibt es oben im Norden unter dem nun nicht mehr ewigen Eis noch Stellen, die kein Mensch je sah. Vielleicht ist in der Arktis noch mehr Arktis als Mensch."

Andererseits utopisiert und/oder dystopisiert Molinari den Untergang eines Dorfes, das sich kontinuierlich im Schrumpfen befindet; mit all dem Leerstand, der Dorfkasse und den wenigen verbliebenen Menschen, die immer noch weniger werden. Aber auch der Stillstand kommt vor, der nicht sein darf und deshalb akribisch untersucht wird. Nur die Hecke wächst unweigerlich und wird zu DER Touristenattraktion, der einzigen weit und breit. Bis zu einem Ereignis, das dazu führt, dass auch die Besucher*innen ausbleiben... Hier im Mittelpunkt sind die nicht mehr wachsenden Kinder Pina (Doras Tochter) und Lobo, die das Dorf und die Vorgänge darin intensiv und philosophisch betrachten. "Pina und Lobo fragten sich, ab wann ein Dorf als Dorf bezeichnet werden kann. [...] Sie standen auf dem Hügel und hielten sich die Hände so vor das Gesicht, dass sie Teile des Dorfes verdeckten, und überlegten sich, ob das Dorf auch dann noch ein Dorf war, wenn Lobos Haus wegfiel, der Schuppen daneben oder der Steg am Teich."

Um einzelne Gedanken der Protagonist*innen zu unterstreichen, sind Skizzen eingefügt, was der Erzählung auch einen humorvollen Aspekt zukommen lässt. Der Schreibstil ist fast kindlich, die Gedanken oft im Konjunktiv gehalten, was der ganzen Geschichte zusätzliche Phantasterei und magischen Glanz verleiht.

"Hinter der Hecke die Welt" ist sicher kein Buch für jedermann oder jedefrau! Wer ein außergewöhnliches, märchenhaftes Flair in der Gegenwart schätzt, das mit traurig anmutender Gesellschaftskritik und philosophischen Gedankengängen gepaart ist, findet hier jedoch ein Goldstück!

Bewertung vom 24.08.2023
Wellenkinder
Bahrow, Liv Marie

Wellenkinder


sehr gut

Spannend bis zum Schluss, aber etwas schnulzig

In "Wellenkinder" verfolgen wir drei unterschiedliche Menschen - Jan, Oda und Margit. Jan ist scheinbar der Protagonist der Gegenwart, wir erfahren, dass er Eheprobleme hat, aber alles dafür tun will, seine Frau zurückzugewinnen. Oda ist auf der Flucht vor dem DDR-Regime, wird aber dabei erwischt und gefangengenommen. Unklar ist, was mit ihrem in ihr heranwachsenden Kind passieren wird. Und dann ist da noch Margit, ein Mädchen, das auf einem Flüchtlingsschiff im 2. Weltkrieg ein Waisenkind an sich nimmt und versucht, es als Geschwisterchen aufzuziehen. Je weiter die Geschichten gesponnen werden, desto klarer wird, dass sie irgend etwas miteinander zu tun haben müssen. Die drei Fäden werden langsam zu einem und bis kurz vor dem Ende bleibt offen, wie eng sie miteinander verwoben sind.

Die Autorin schafft es die Spannung bis ans Ende aufrecht zu erhalten. Immer wieder treffen unerwartete Ereignisse oder Erklärungen ein. Die einzelnen Charaktere sind so beschrieben, dass die Leserin oder der Leser sich gut in sie hineinversetzen kann. Besonders bei Odas Leid als Gefangene im DDR-Regime glückt es der Autorin ihren Schmerz absolut nachvollziehbar zu machen. Was mich allerdings etwas genervt hat, war die pathetische Liebe, die die jeweiligen Protagonist/innen für jemanden empfanden - immer wieder wird in überschwänglicher Art und Weise betont, wie das Herz der Figur zerspringt oder für jemanden schlägt - für meinen Geschmack etwas zu viel des Guten. Das hat für mich leider die unterschiedlichen Charaktere, die an und für sich schon unterschiedlich ausgearbeitet waren, doch wieder irgendwie gleich werden lassen.

Mein Fazit: Wellenkinder ist ein spannender, unterhaltsamer und kurzweiliger Roman, der sich über die deutsche Zeitgeschichte streckt, absolut lesenswert, aber insgesamt etwas zu schnulzig geraten ist.

Bewertung vom 19.08.2023
Terafik
Karkhiran Khozani, Nilufar

Terafik


gut

Nilufars Vater Khosrow ist Iraner; nachdem sich seine Frau von ihm getrennt hatte, verließ er Deutschland und kehrte in den Iran zurück. Nun, mit Anfang 30, soll Nilufar ihn in dem diktatorischen Land besuchen. Die Lust dazu ist enden wollend, doch Wahl bleibt ihr scheinbar keine. So bricht sie auf in ein Land, dass ihr surreal und fremd erscheint und doch ist es ein Teil von ihr. Dort angekommen, wird sie in die komplizierten Verstrickungen ihrer Familie hineingezogen und wie am Präsentierteller herumgereicht. Anstatt das Land kennenzulernen, trifft sie auf die komplexen Verflechtungen ihrer Großfamilie und fühlt sich von Tag zu Tag mehr eingesperrt.

Mutmaßlich verarbeitet die Autorin in "Terafik" ihre eigene Lebensgeschichte, ihre Suche nach ihrer eigenen Identität. Stilistisch durchaus spannend, wechseln sich die Erzählperspektiven ab: Nilufar lässt den/die Leser*in an ihrer inneren Zerrissenheit bezüglich ihrer Identität, der Beziehung mit ihrem Vater, ihrer Mutter und mit ihrer Lebensgefährtin teilhaben. Zwischendurch - mittels kursiver Schrift gekennzeichnet - wird das Leben ihres Vaters, vor allem jenes in Deutschland, nachgezeichnet. Immer wieder werden auch Antworten auf Fragen, die Nilufar an ihn stellt, eingestreut. Ausführlich wird auch berichtet, wie es ist, als "Ausländerkind" in Deutschland aufzuwachsen und wie Menschen aus anderen Ländern als Menschen zweiter Klasse behandelt werden - diese Schilderungen zu lesen, ist schmerzhaft! Ein seltsames Bauchgefühlt bot sich auch bei den Beschreibungen der Familienzusammenkünfte im Iran - die strikte Rollenaufteilung der Geschlechter, die vorausgesetzte Gastfreundlichkeit und ein Interesse für Nilufar, bei dem der/die Leser*in nicht weiß, ob es ehrlich ist, oder auch als Teil des Rollenspiels Familie gilt. Immer wieder verfällt die Autorin stilistisch auch in sinnsuchende Poetik.

Nach Beendigung des Buches bin ich mir aber nicht sicher, um was es in Terafik tatsächlich gehen sollte. Der rote Faden taucht zwar immer wieder auf, verläuft sich aber zwischendurch auch wieder im Sande. Dramaturgisch beginnt Terafik interessant, mit den unterschiedlichen Erzählebenen, diese werden aber im Laufe des Buches immer weniger und das Autobiographische - durchmischt mit philosophischer Poetik - dominiert. Trotzdem ich die Thematik spannend fand und der Schreibstil grundsätzlich ansprechend ist, hat mir aber der Spannungsbogen komplett gefehlt. Wie ich das Buch beendet habe, blieben viele Fragezeichen und ein runder Abschluss fehlte. Gestört hat mich auch, dass doch recht viele Rechtschreibfehler im Buch sind (ich habe das Ebook gelesen. Natürlich meine ich bei diesen Rechtschreibfehlern nicht die Zitate des Vaters, der in gebrochenem Deutsch schreibt, sondern tatsächliche "Schlampigkeitsfehler"). Was aber auf alle Fälle hängen bleibt, ist, dass das Konstrukt "Familie" im Iran sehr unterschiedlich zum Mitteleuropäischen Konzept ist - und das ist spannend und erweitert den Horizont!

Bewertung vom 13.08.2023
Simone
Reich, Anja

Simone


ausgezeichnet

Auf den Spuren eines Todes

Was muss geschehen sein, dass sich ein Mensch das Leben nimmt? Hätte der Tod verhindert werden können? Und gibt es eine Person oder ein Ereignis, die bzw. das Schuld am selbstgewählten Ableben ist? Diese und mehr Fragen stellt sich auch die Journalistin und Autorin Anja Reich. Ihre gute Freundin Simone hat sich Mitte der 1990ern das Leben genommen, scheinbar vollkommen unvorhersehbar. In "Simone" begibt sich Reich auf Spurensuche und zeichnet den Lebensweg ihrer Freundin und deren Familie nach: von der Lebensgeschichte ihrer Großeltern und Eltern, über das Aufwachsen Simones in der DDR, hin zum einschneidenden Ereignis der Wiedervereinigung bis zum mutmaßlichen Selbstmord der knapp 27-Jährigen.

Zugegebenermaßen bin ich, wie ich begonnen habe das Buch zu lesen, davon ausgegangen, dass es sich bei "Simone" um einen fiktiven Roman handelt - aus dem Klappentext war für mich nicht ersichtlich, dass Anja Reich tatsächlich über reale Begebenheiten schreibt. Dementsprechend langatmig empfand ich den Beginn des Buches - Schilderungen über die Vorfahren Simones, geschichtliche Überblicke, es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis sie zu der "Hauptprotagonistin" kam. Doch als Simone die Bühne des Buches betritt und klar wird, dass Reich versucht ihr Leben und ihren Tod bestmöglich nachzuzeichnen, um eine Erklärung für das Unvorstellbare - den Suizid - zu finden, wird das Werk spannend. Einfühlsam aber schonungslos ehrlich porträtiert sie Simone, ihre anziehende offene Art genauso wie ihre scheinbare Herrschsucht und Unsicherheit. Sie setzt ihrer Freundin ein Denkmal, das als Beispiel dienen kann, nachzuempfinden, wie psychische Erkrankungen Menschen beeinflussen und verändern - für Außenstehende oft nicht erkennbar.

Das Buch ist harte Kost. Es ist berührend, mitnehmend und anstrengend zugleich. Ich finde es empfehlenswert für alle, die sich dafür interessieren, was in einem Menschen mit einer psychischen Erkrankung (mit Suizidgedanken) vorgeht; es kann anhand einer tatsächlichen Lebensgeschichte einiges erklären und fühlbar machen. Abraten würde ich aber jenen, die sich in akuten Krisen befinden oder die eine Trauerbewältigung nach dem Verlust eines nahestehenden Menschen noch nicht abgeschlossen haben, zu schwer und bedrückend wiegt das Thema.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 24.07.2023
Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe
Knecht, Doris

Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe


ausgezeichnet

Doris Knechts namenlose Protagonistin stellt in "Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe" fest, dass sie viele Begebenheiten ihres Lebens tief ins Un(ter)bewusste vergraben hat. In einer Phase des Umbruchs - ihre Kinder werden flügge, weshalb sie sich auf die Suche nach einer anderen, leistbaren Wohnung machen muss - gräbt sie ihre Erinnerungen aus und entdeckt nach und nach, was sie zu der Person machte, die sie heute ist.

Der neue Titel von Doris Knecht lockt mit einem ansprechenden Titel und Cover - es lässt sich erahnen, dass auch ein Hund eine gewisse Rolle in dem Roman spielen wird. Die Story wird autofiktional erzählt. Die gewählte Sprache erschien mir anfänglich sehr galoppierend, doch gewöhnte ich mich schnell an das Tempo und rasch konnte ich mich in die Titelfigur hineinversetzen. Die einzelnen Kapiteln sind mit einem eingängigen Header tituliert und halten sich meist recht kurz, was das Buch zusätzlich sehr kurzweilig macht. Die Plots sind nachvollziehbar, aber spannend und durchaus humoristisch. Die Hauptprotagonistin lässt die Leser*innen in fesselnder Art und Weise an der Entdeckung ihres Vergessenen teilnehmen. Treffend analysiert sie dabei ihre Beziehung zu ihrer Familie, ihren Kindern, ihren Freund*innen und auch zu den Männer, die in ihrem Leben immer wieder auftauchten. Lediglich der Kindsvater wird eher ausgeklammert und auch die Tatsache, dass ihr Hund nur "der Hund" genannt wird, wirkt etwas unpersönlich.

Ich hätte gerne noch viele Seiten mehr an dem Leben der Protagonistin teilgenommen, so sympathisch ist sie mir geworden. Von Beginn an schafft es die Autorin ein Kopfkino bei der bzw. dem Leser*in zu starten. Das Buch hinterlässt ein wohliges Gefühl und ist definitiv ein Werk, was mir in Erinnerung bleiben und in Zukunft erneut gelesen wird.