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Benutzername: 
Gela
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Niedersachsen
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Ob Krimi, Belletristik, Biografie oder Dokumentation. Ich mag Bücher und reise gerne mit ihnen in andere Welten.
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Insgesamt 141 Bewertungen
Bewertung vom 14.07.2021
Die Geschichte von Kat und Easy (MP3-Download)
Pásztor, Susann

Die Geschichte von Kat und Easy (MP3-Download)


sehr gut

Mutige Vergangenheitsbewältigung

Mit 16 ist es wichtig, alles mit der besten Freundin zu teilen. So halten es im Jahr 1973 auch Kat und Easy, die ihre geheimsten Wünsche und Sehnsüchte gemeinsam ausleben wollen. Selbst als sich beide in den älteren Fripp verlieben, bleibt ihre Freundschaft bestehen. Ein Schicksalsschlag führt zur Trennung der beiden Mädchen, die sich erst 46 Jahre später über einen Lebensberater-Blog wiederfinden. Die eine sucht Hilfe, die andere erteilt ihr Ratschläge, bis ihnen klar wird, mit wem sie sich austauschen. Gemeinsam planen sie einen Urlaub auf Kreta, um sich den Dämonen ihrer Jugend zu stellen.
Susann Pàsztor greift ein zeitloses Thema auf. Die Freundschaft im Teenageralter und später die Erkenntnis des Erlebten aus der Sicht reifer Frauen mit all seinen komplizierten und emotionsgeladenen Facetten. Zwei unterschiedliche Charaktere, die sich ergänzen und stützen. Kat, die kluge Einzelkämpferin und Easy, die beneidenswert schöne und strahlende Erscheinung. Obwohl die beiden Mädchen sich so gut verstehen, wissen sie tatsächlich wenig voneinander. Sie bleiben an der Oberfläche, lassen sich treiben und experimentieren mit Drogen, der Liebe und dem Erwachsenwerden.

Gelungen ist die Umsetzung als Hörbuch durch die Sprecherinnen Nina Petri, Anna Thalbach und Anne Weber, die jeweils den jungen Mädchen, wie den reifen Frauen ihre Stimme geben. Da es viele Dialoge zwischen den Frauen gibt, verleihen die wechselnden Sprecherinnen der Handlung etwas Lebendiges und Glaubwürdiges, welches die Stimmung des Moments sehr gut einfängt.

Obwohl Kat als Lebensberaterin mit ihrem Blog sehr erfolgreich ist, verfällt sie auf Kreta doch in ihre junge Rolle als Statistin in Easys Leben. Sie beobachtet, wie die einstige Freundin mit den Männern spielt, sich mit ihren 60 Jahren noch immer unverschämt frei und sorglos durchs Lebens bewegt.

Besonders die Beschreibungen der Landschaft, der Menschen und der Umgang mit anderen ist warm und spürbar beschrieben. Die wundervolle griechische Gastfreundschaft trägt viel dazu bei, dass sich die beiden Frauen annähern und die anfänglichen Blockaden abgebaut werden können.

Was als ein leichter Roman mit ausschweifenden Partys, Drogen und Liebeserlebnissen beginnt, entwickelt sich immer mehr zu einer tragischen Geschichte, die über Jahrzehnte verdrängt und verschwiegen wurde. Es hat mich sehr nachdenklich gestimmt, wie schnell eine vermeintlich tiefe und enge Freundschaft verloren gehen kann.

Sich der Vergangenheit zu stellen, erfordert eine große Portion Mut und Offenheit auch den eigenen Fehlern gegenüber. Kat und Easy stellen sich dieser Aufgabe, wenn anfänglich auch zaghaft und ungewöhnlich. Denn statt sich auszusprechen, korrespondieren sie weiter über den Blog im indirekten Dialog, obwohl sie nur eine Tür weit voneinander entfernt sind. Dieses langsame aneinander Herantasten hat die Autorin gelungen herausgearbeitet.

Bewertung vom 09.06.2021
Laudatio auf eine kaukasische Kuh
Jodl, Angelika

Laudatio auf eine kaukasische Kuh


gut

Kurzweilig und unbeschwert

In Bonn fühlt sich Olga, eine georgische Migrantin, sicher vor ihrer Familie und ihren Wurzeln. Sie hat ein festes Ziel vor Augen, Karriere als Ärztin machen und einen Mann mit kurzem Namen finden. Ihr Kollege Felix scheint in ihren Plan hineinzupassen, auch wenn er bisher niemanden aus ihrer Familie kennengelernt hat. Der aufdringlich hartnäckige Jack will dagegen gar nicht zu Olga passen, auch wenn er regelmäßig für Schmetterlingsgefühle in ihr sorgt. Erst in Georgien findet Olga überraschend ihren eigenen Weg.

Angelika Jodl hat bereits mit ihrem Roman "Die Grammatik der Rennpferde" die Verbindung zwischen verschiedenen Kulturen beschrieben. In ihrem aktuellen Roman widmet sie sich in leicht und flüssigem Schreibstil der 26-jährigen Olga, die am liebsten ihre georgisch-griechischen Wurzeln vergessen würde. Ihre Familie ist ihr peinlich, zu laut, zu aufdringlich, zu anders. Viel sicherer fühlt sie sich im routinierten Umgang mit Freund Felix. Weder Familie noch Freund haben sich bisher kennengelernt und nach Olgas Bauchgefühl ist dies wohl auch besser so.

Olgas Alltag wird gründlich durchgewirbelt, als Jack Jennerwein ihr zufällig begegnet und von ihr hingerissen ist. Ohne das Olga etwas ahnt, nimmt er Kontakt zu ihrer Familie in München auf, die ihn begeistert als neuen Bekannten aufnimmt. Unvoreingenommen und begeistert lässt sich Jack von der temperamentvollen Art mitreißen. Als Olga zusammen mit ihrer Familie nach Georgien reist, findet Jack einen Weg, ihnen dorthin zu folgen. Eine klassische Verwicklungsgeschichte nimmt ihren Lauf.

Ich bin mit einer gewissen Erwartung an den Roman herangetreten, da mich der vorherige Roman der Autorin sehr angesprochen hat. Leider bin ich enttäuscht worden. Ich habe das Sprachspiel und den Wortwitz der Autorin vermisst. Sowohl die Protagonistin Olga wie auch die Handlung an sich haben mich nicht voll und ganz überzeugt. Die Zerrissenheit einer jungen Frau, die in Deutschland ein festes Ziel vor Augen, ihren Weg geht und der Tochter einer georgischen Großfamilie mit klaren Vorstellungen von Ehe und Familie wurde klamaukig und oberflächlich beschrieben. Ich konnte Olga nicht abnehmen, dass sie sich eher treiben und bevormunden lässt als zu handeln. Das laute und aufdringliche Auftreten ihrer Familie wirkt an einigen Stellen sehr überzogen, klischeehaft und unglaubwürdig. Besonders eine Szene mit einem pubertierenden Verwandten, der sich ziemlich daneben benimmt, hat mich innerlich den Kopf schütteln lassen.

Etwas mehr Ruhe und eine nachvollziehbarere Handlung hätte der Story gutgetan. Besonders die Szenen in Georgien lesen sich wie aneinandergereihte Erlebnisse und nicht wie eine zusammenhängende Geschichte.
So bleibt es ein unterhaltsamer, leichter Roman für zwischendurch.

Bewertung vom 07.06.2021
Kleine Wunder um Mitternacht
Higashino, Keigo

Kleine Wunder um Mitternacht


sehr gut

Wundersame Hilfe aus der Ausweglosigkeit

Ein alter verlassener Gemischtwarenladen wird zum Unterschlupf von jugendlichen Einbrechern, die sich auf der Flucht befinden. Bis zum Morgengrauen wollen sie sich verstecken und mit dem nächsten Zug verschwinden. Doch statt ruhiger Sicherheit erleben Atsuya, Shota und Kohei ein mysteriöses Abenteuer. Durch einen Schlitz im Laden werden anonyme Briefe eingeworfen, die offensichtlich an den ehemaligen Besitzer des Ladens gerichtet sind.

Keigo Higashino hat mit diesem Roman ein modernes, leises und tragisches Märchen geschrieben, das dennoch Hoffnung gibt. Ein alter, leer stehender Gemischtwarenladen mit drei jungen Kriminellen dient als Rahmenhandlung. Eine wundersame Briefkorrespondenz über einen Schlitz im Laden und dem an der Außenwand hängenden Milchkasten wird über die Jahrzehnte hinweg geführt. Verblüffend ist, dass dieser Briefverkehr mehr als 30 Jahre überspringen kann und tatsächlich nur in einer Nacht stattfindet. Der Wechsel zwischen Gegenwart und Vergangenheit wird vom Autor gekonnt dargestellt. Die Inhalte der Briefe geben Aufschluss über die Zeit der Erstellung und interessante Informationen über Japan zu dieser Zeit. Anfänglich wirken die Briefe der Ratsuchenden wie Kurzgeschichten, die nach der Beantwortung abgeschlossen sind. Doch desto mehr Briefwechsel geführt werden, desto mehr Fäden werden zu einem Gesamtbild gesponnen.

Auch wenn alle Ratsuchenden sehr unterschiedliche Anliegen haben, haben sie doch eines gemeinsam: Sie befinden sich in einer offensichtlich ausweglosen Situation und hoffen auf den Rat des alten Yuji Namiya, dessen Ruf bekannt ist für seine wertfreien und weitsichtigen Ratschläge. Die Antworten, die der Musiker, die Sportlerin oder der junge Schüler erhalten, sind nicht immer wie erhofft und wecken nicht nur positive Gefühle in ihnen. Doch sie helfen ihnen, über ihre Situation nachzudenken und ihren eigenen Weg zu finden.

Am Ende schließt sich der Kreis und man erfährt nicht nur die Geschichte des alten Namiya und wie er zum Ratgeber wurde, sondern auch, welche Verbindung alle Protagonisten zueinander haben. Besonders dieses letzte Detail wurde sehr gut herausgearbeitet und mit viel Gefühl langsam aufgebaut.

Auch wenn der Roman mit sehr schlichtem und einfachem Schreibstil aufwartet, wird die erzählte Geschichte doch von Magie, Tragik und Hoffnung getragen. Es sind die kleinen Momente der Erkenntnis, die jeden Briefwechsel zu etwas besonderem machen. Manch einer mag sich nach der Lektüre so einen magischen Briefschlitz wünschen, um seine Sorgen jemandem anvertrauen zu können.

Was mir sehr gefallen hat, war das wunderschöne Cover mit den changierenden Farben, die an einen Kimonostoff erinnern und die schmeichelnde Haptik des Papiers.

Bewertung vom 06.05.2021
Ach, Meno!
Cornely-Peeters, Ellen

Ach, Meno!


ausgezeichnet

Ein vielseitiger und detaillierter Ratgeber auf dem Weg in eine neue Lebensphase

Wenn man plötzlich das Gefühl hat, glühende Kohlen unter dem Stuhl zu haben und sich dies mehr als der Vorbote der Hölle als ein laues Urlaubslüftchen anfühlt, dann stellt sich die Frage: Wechseljahre? Vieles kennt man nur vom Hörensagen. Man selbst ist ja noch nicht betroffen, ist noch nicht alt. Mich hat es tatsächlich "eiskalt" heiß erwischt und just in diesem Moment hatte ich das Glück, diesen Tour-Guide durch die Wechseljahre zu finden.

Die Wechseljahre-Beraterin Ellen Cornely-Peeters hat einen sehr detaillierten und interessanten Ratgeber geschrieben, der anschaulich durch Fallbeispiele, Hilfestellungen zur Selbsthilfe, Ernährungsratgeber und Fitnessanregungen ein breit gefächertes Spektrum an Informationen bereithält.

Vor allem tut es gut, dass man mit diesen Symptomen nicht allein ist. Laut Autorin sind es 16 Millionen Frauen zwischen 38 und 65 Jahren. Ob es um Probleme mit dem Ein- und Durchschlafen oder Gelenkschmerzen geht, hier kennt sich jemand aus und gibt nachvollziehbare und verständliche Tipps. Besonders hilfreich für schnelle Hilfe ist das im Anhang zu findende Glossar mit den 100 meistgestellten Fragen & Antworten rund um die Wechseljahre.

"Früher oder später begeben sich alle Frauen auf die Reise. Jede auf ihre Weise, in ihrem eigenen Tempo, mit ihren ganz persönlichen Erlebnissen. Auch wenn gefühlt nie die (richtige) Zeit für die Wechseljahre ist."

Gezielt kann man sich auch einzelne Kapitel herausgreifen und wird ausführlich informiert. Eine Prise Humor darf bei all den sachlichen Betrachtungen nicht fehlen. Vor allem wird mit dem Negativimage der Übergangszeit abgerechnet. Wir dürfen so sein wie wir sind, denn unser Körper bestimmt, wo es lang geht.
Oder wie die Autorin schreibt: "Das Ende deiner Tage ist nicht das Ende aller Tage."

Bewertung vom 05.05.2021
Die Erfindung der Sprache
Baumheier, Anja

Die Erfindung der Sprache


sehr gut

Eine sommernachtswarme, sandpapierraue und wohlige Leseerfahrung

Der 32-jährige Adam, Doktor der Sprachtheorie und angewandten Sprachwissenschaft wird aus seinem geradlinig geregelten Leben katapultiert. Durch eine zufällige Sichtung eines Buches erstarrt seine Mutter und durch den Schock spricht sie nicht mehr. Adams vermeintlich verschollen und für tot gehaltener Vater Hubert lebt offensichtlich noch. Um sich Klarheit zu verschaffen und seiner Mutter zu helfen, macht sich Adam, der sich lieber mit Koffern und Leuchtreklametafeln als mit Menschen unterhält, auf eine verrückte Reise durch Deutschland, Prag und die Bretagne.

Anja Baumheier spielt gekonnt und emotionsvoll in zwei Zeitsträngen mit der Sprache. Mal ernst, wissenschaftlich - jetzt weiß ich, was ein Onomatopoetikum ist - und ruhig, dann wieder ausgelassen, überladend, humorvoll. Ihre Charaktere sind so bunt wie das Leben und grundweg sympathisch, liebenswert.

Bei Oda - Adams Mutter - sind es die Hände ihres Ehemannes, die ihr seine Stimmung vermitteln. "Sommernachtswarm, sandpapierrau und wohlig". Als Leser wartet man förmlich darauf, dass die beiden sich an den Händen fassen, um ihre Gefühlslage zu erkennen.

Gedichte von Rilke untermalen die Stimmung, besonders wenn es dramatisch und emotional wird, genauso wie meteorolische Wolkenbetrachtungen (eine düstere Altocumuluswolke) diese noch unterstreichen. Etwas schräg trägt Adam eine innere Leuchtreklametafel mit sich herum, die ihn immer wieder mit bissigen Bemerkungen drangsaliert.

Adam geht einem ans Herz. Der hochintelligente, aber menschenscheue Mann mit autistischen Zügen kommt nur mit präzise definierten Listen - immer mit sieben Punkten - durchs Leben.
Ihn zu begleiten und seine Zerrissenheit zu erleben, wie er sich nach dem Alltäglichen zurücksehnt und gleichzeitig das Neue und Unerwartete schätzen lernt, ist unglaublich unterhaltsam und gleichzeitig berührend. Seine Familie gibt ihm immer wieder Halt und vor allem die wundervolle Großmutter Leska mit ihrem herrlichen Dialekt und ihrer übers Telefon brodelnden Herzlichkeit steht ihm bei.

Die Autorin hat es in einigen Passagen zu gut mit der Sprache gemeint und zeilenweise wunderschöne, aber anstrengend viele Beschreibungen eingefügt:
"Die Stimmung legte sich auf urige Wanderwege, knorrige Wurzeln, felsiges Granitgestein, schroffe Täler, verwitterte Bohlenstege, zauberhafte Fichten, märchenhafte Buchen, verführerische Moore, hurtige Stromschnellen, muntere Haubenmeisen und dunkelgraubraune Sperlingskäuze."

Das fulminante Ende schießt ein wenig über das Ziel hinaus, sorgt aber für ein gutes Gefühl und ein Lächeln.
Mich hat dieser herzenswarme Roman, der ein Statement für Familie und Liebe setzt, sehr unterhalten.

Bewertung vom 04.05.2021
Der Schneeleopard
Tesson, Sylvain

Der Schneeleopard


sehr gut

Inspirierende Suche, die über das Erwartete hinausgeht

Es gehört schon eine Portion Verrücktheit oder Naturliebe dazu, sich auf 4000 Metern Höhe bei minus 30 Grad stundenlang auf die Lauer zu legen. Die Suche nach dem Schneeleoparden führt den Schriftsteller und Reisenden Sylvain Tesson an der Seite des bekannten Tierfotografen Vincent Munier nach Tibet. Was als Abenteuer in einer unglaublich eindrucksvollen Natur beginnt, wandelt sich mehr und mehr zu philosophischen Betrachtungen fern aller Zivilisation.

Sylvain Tesson gelingt es, die abenteuerliche Fotoexpedition des Fotografen Vincent Munier in einer ungewöhnlich stillen und philosophischen Art zu schildern. Wer eine Tierdokumentation oder Details über den Schneeleoparden erwartet, darf das Buch getrost zur Seite legen, denn viel wird man über das Tier nicht erfahren.

Vielmehr widmet sich der Autor der Reise an sich. Die Zurücklassung der Zivilisation mit all seiner Hektik, den urbanen Bedürfnissen oder Bindungen. In Tibet ist man Mensch in einer rauen, ehrlichen Natur. Die wenigsten von uns werden jemals in solche Regionen gelangen oder sich solchen körperlichen Belastungen aussetzen. Für mich unvorstellbar, sich über Stunden in einer Höhle bei utopisch kalten Gradzahlen zu verschanzen, um einen Blick auf eines der seltensten Tiere überhaupt werfen zu können. Vier Menschen, ein Fotograf, eine Filmemacherin, ein Assistent und der Autor über Wochen auf sich selbst gestellt im eisigen Nichts.

"Die Temperatur machte alles unmöglich: Bewegungen, Worte, Melancholie. Wir waren bestenfalls in der Lage, mit dumpfer Hoffnung den Tag zu erwarten. ... Die Welt war gefrorene Ewigkeit."

Besonders interessant finde ich die Betrachtungen von Vincent Munier. Ein Mensch, der sich offensichtlich wohler in der Natur als unter Menschen fühlt. Durch seine Erfahrung als Fotograf und Beobachter bekommt man eine neue Sichtweise auf die Tiere und ihr Verhalten. Man fühlt sich hineingezogen in diese besondere Stimmung, wenn Yaks über die Ebenen ziehen, ein Wolfsrudel heult oder Wildesel davonpreschen.

"Und wir standen hier, in diesem gleißend hellen, morbiden Garten des Lebens. Munier hatte uns gewarnt, es sei das Paradies bei -30 °C. Das Leben verdichtete sich: geboren werden, laufen, sterben, verwesen, in einer anderen Gestalt wiederkehren."

Bei all der Einsamkeit und Warterei kann man Tessons philosophische Betrachtungen nachvollziehen und verstehen. Wer würde die Welt nicht mit anderen Augen sehen, wenn sie so ursprünglich und klar vor einem liegt. Vieles berührt oder macht nachdenklich. Manchmal verliert sich der Autor allerdings auch in seinen Ausführungen. Eine verflossene Liebe vergleicht er mit dem Schneeleoparden und widmet ihr mehrere Passagen. Sicherlich eine schöne Erinnerung, doch für den Leser schwer nachvollziehbar. Sozialkritisch und mit eindringlichen Worten weist er dagegen auf den Einfluss der chinesischen Republik hin. Unglaublich mit was für einer brachialen Gewalt hier die Natur zerstört wird.

Für mich ist dieses Buch auch eine Anregung, sich seine eigenen Rückzugsorte zu bilden. Die Anregung von Tesson, Beobachtungen in den Alltag einzubauen, finde ich interessant. Überall gibt es Dinge zu entdecken, wenn man die nötige Geduld dazu aufbringt.

"Ich hatte gelernt, dass die Geduld eine höchste Tugend war, die eleganteste und meistvergessene. Sie half dabei, die Welt zu lieben, statt sie verändern zu wollen. Sie lud dazu ein, sich vor die Bühne zu setzen, die Vorstellung zu genießen - und sei es nur ein zitterndes Blatt."

Vielleicht braucht es ein wenig Geduld, dieses Buch schätzen zu lernen. Aber mit jeder Zeile wurde ich mehr in dieses wunderschöne Tibet hineingezogen und habe die Stille genossen.

Bewertung vom 13.04.2021
Über Menschen
Zeh, Juli

Über Menschen


ausgezeichnet

Am Ende sind wir alle nur Menschen

2020 - Dora beschließt ihren persönlichen Lockdown und flieht zusammen mit ihrer Hündin Jochen der Rochen aus Berlin hinaus aufs Land. Doch statt ruhiger Landidylle zieht es sie in ihr neu erworbenes Domizil mitten im Nichts nach Bracken in Brandenburg. Sie hofft auf Abstand und Ruhe nach der Enge einer komplizierter werdenden Beziehung, die immer stärker von Klima- und Pandemieaktivismus durchdrungen wird. Doras innere Zerrissenheit will trotz allem nicht zur Ruhe kommen. Erst als die Dorfbewohner mehr Raum in ihrem Leben einnehmen und ihre vorgefertigten Schubladenraster nicht mehr passen wollen, kann sie sich ihren Ängsten stellen und gewinnt eine neue Sicht auf sich und die Menschen.

Juli Zeh gibt mit Covid 19 nur den Zeitrahmen vor, nicht die Handlung. Es geht um unsere Gegenwart, den Umgang miteinander, das Vergessen von kleinen wunderbaren Dingen, Ängsten und deren Bewältigung und um Stärke im richtigen Moment zu handeln.

Bracken, ein fiktiver Ort in Brandenburg, ist so beschrieben, wie man sich als Außenstehender ein ostdeutsches Dorf mit schwacher Infrastruktur, Arbeitslosigkeit und desillusionierten, wortkargen Menschen vorstellt. Hier möchte man nicht tot über den Zaun hängen. Aber genau an diesen Ort zieht es die 36-jährige Werbetexterin Dora. Nur weg aus Berlin und aus der Beziehung. Sie stört sich weder an dem maroden Zustand ihrer erworbenen Immobilie, noch an fehlenden Möbeln. Plan- und ahnungslos widmet sie sich ihrem Garten in der Hoffnung, einmal Freunde einladen zu können, sie sie gar nicht besitzt.

"Inzwischen kennt sie eine Menge Formen von Unruhe, Furcht und Aufregung. Sie hat die verschiedenen Zustände beobachtet, analysiert und katalogisiert. Sie ist eine Archivarin der Nervositäten."

Wer Dinge gerne nach Schwarz und Weiß sortiert, sollte sich auf ein Leseabenteuer gefasst machen. Juli Zeh ist es glaubhaft gelungen, einem "Dorf-Nazi", wie sich Doras Nachbar Gote selbst vorstellt, ein fast schon liebenswertes Profil zu verpassen. Der anfänglich grobe Nachbar, der sich hinter einer Mauer von Doras Grundstück abgrenzt, zeigt mehr und mehr raue, liebenswürdige Facetten. Heimlich wandern Möbel von ihm in Doras Haus, er organisiert einen weiteren Nachbarn, um dem Unkraut den Garaus zu machen. Aber gleichzeitig lernt man seine Vergangenheit kennen: eine Messerattacke, Nazigesänge und offen gezeigte Fremdenfeindlichkeit. Doras anfängliche Abneigung Gote gegenüber bröckelt, weiß sie doch die guten Seiten zu schätzen. Fragen und Ängste türmen sich dennoch in Dora auf. Darf man einfach wegschauen? Sollte man etwas unternehmen?

"Das Gehirn gewöhnt sich an die Vorgaben der Angst, integriert sie ins Denken und verwischt die Spuren. Man leidet nicht unter der Angst, man praktiziert sie."

Vorbei ist es mit der selbst gewählten Einsamkeit, denn das brandenburgische Dorfleben schwappt ungefragt in Doras Leben. Trotz aller Gesellschaftskritik fließt auch eine Welle Humor durch die Handlung. Nachbar Heini schreckt vor keinem zu platten Witz zurück und zwei schräge Unternehmer, die anfangs als Drogenanpflanzer verdächtigt werden, stellen sich als blumensträußchenbindende AfD'ler und Comedian heraus. Zu lange darf man sich aber nicht an den unterhaltsamen Stellen aufhalten. Denn wie so oft im Leben wendet sich das Blatt und die Angst gewinnt wieder die Oberhand.

"Auf der Rückseite dieser Liebe wohnt die Angst, einander zu verlieren. Ebenso grenzenlos, ebenso abgrundtief. Das ist mehr, als ein Mensch ertragen kann."

Mich hat dieser Roman überraschend in seinen Bann gezogen. Nicht nur die besonders gut herausgearbeiteten Charaktere, sondern auch die politische Grundstimmung dieser Zeit ist deutlich spürbar. Die Handlung regt an vielen Punkten zum Nachdenken und Hinterfragen an und macht deutlich: Es geht hier nicht um Rollen, Schubladen oder Kategorien. Am Ende sind wir alle nur Menschen.

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Bewertung vom 07.04.2021
Als wir uns die Welt versprachen
Casagrande, Romina

Als wir uns die Welt versprachen


gut

Schräger Roadtrip über die Alpen

Mit ihren knapp 90 Jahren soll die Südtirolerin Edna bald ins Heim ziehen. Bevor es dazu kommt, entdeckt sie in einer Illustrierten einen Bericht über ihren Kinderfreund Jacob, den sie jahrzehntelang nicht mehr gesehen hat. Spontan beschließt die alte Dame ihre einst als Kind angetretene Fußreise von Deutschland nach Südtirol auf umgekehrten Weg erneut zu gehen, um eine alte Schuld zu begleichen. Zusammen mit Papagei Emil beginnt eine abenteuerliche Reise mit Hindernissen, erstaunlichen Begegnungen und vielen schmerzhaften Erinnerungen an die Zeit als Schwabenkind in einem fremden Land.

Der Klappentext hatte mein Interesse geweckt. Die unglaublich tieftraurige und bewegende Geschichte der Schwabenkinder wird viel zu selten thematisiert. Kleinkinder wurden ihren Familien entrissen und mussten auf schwäbischen Landgütern praktisch als Sklaven harte Arbeit verrichten. Genau dieses Thema greift Romina Casagrande mit der Geschichte der Südtirolerin Edna auf.

Die Haupthandlung widmet sich aber mehr der 260 km langen Reise der alten Dame von Südtirol nach Ravensburg. Auch wenn man im hohen Alter noch sehr rüstig ist, wirkt die Wanderung mehr als unglaubwürdig. Zwar gibt es Zug- und Buspassagen, aber die langen Fußwanderungen und Übernachtungen unter freiem Himmel sind schwer nachvollziehbar. Im Schlepptau zieht sie immer einen Transportwagen mit einem Ara hinter sich her, der eine zusätzliche Belastung darstellt.
Immer wieder trifft Edna, die zwar nicht sympathisch, aber sehr resolut und zielstrebig auftritt, helfende Mitmenschen, die ihr aus hoffnungslosen Situationen heraushelfen. Die Begegnungen haben fast schon klamaukartige Züge, wie der einsiedelnde Rocker oder der todesmutig fahrende Imker.

Berührend wird es immer, wenn der Sprung in die Vergangenheit kommt:

"Gedanken und Erinnerungen waren wie Spinnennetze, in denen sie sich verfing, klebten an ihrer Hand, wie die Haarsträhnen, die sich nicht aus der Stirn schieben ließen."

Besonders Ednas Freund Jacob ist ein tragisch liebenswerter Charakter, der mehr Raum in der Geschichte verdient hätte. Ohne ihn hätte die kleine Edna auf dem Bauernhof schwer überlebt. Auch mit seiner Unterstützung musste sie viel unaussprechlich grausame Dinge erleben, aber er gibt ihr den Halt, um auf eine Rückkehr nach Südtirol zu hoffen.

Warum in der Handlung unbedingt ein Papagei mit eingebaut wurde, hat sich mir nicht erschlossen. Dieses Tier wollte so gar nicht in die Welt der Schwabenkinder passen. Im Nachhinein habe ich gelesen, dass die Autorin Papageien liebt.

Mich konnte die Mischung aus trauriger Vergangenheit und bonbonbunter überzogener Reise nicht überzeugen. Es gibt viele gute Ansätze und einige wenige besondere Momente, aber alles in allem bleibt der Roman zu sehr an der Oberfläche.

Bewertung vom 26.03.2021
Der Buchspazierer
Henn, Carsten Sebastian

Der Buchspazierer


sehr gut

Ein märchenhafter Buchspaziergang

Jeden Abend sieht man Carl Kollhoff, einen alten Mann mit Schlapphut, durch die Stadt gehen. Ziel des Buchhändlers sind ihm lieb gewonnene besondere Kunden, die jeder für sich eine Last zu tragen haben. Carls empfohlene Bücher scheinen ihre Welt ein wenig leichter erträglich zu machen und sein persönlicher Lieferservice scheint allen gutzutun. Doch erst als sich die neunjährige Schascha dem Buchhändler auf seinen Buchspaziergängen anschließt, werden auf nie gestellte Fragen wichtige Antworten gefunden.

Mit diesem Roman hat der Autor Carsten Sebastian Henn allen Buchliebhabern tief aus dem Herzen gesprochen. Mit seinen warmen und berührenden Worten lässt er diesen sympathischen Buchspazierer lebendig werden. Wer möchte nicht von diesem wundervollen Mann ein Buch gebracht bekommen. Seine Kunden gewinnen durch ihn ein Stück Zuversicht in ihrem teils düsteren Leben.

"Carl unterschied Leser in Hasen, Schildkröten und Fische. Er selbst war ein Fisch und ließ sich in einem Buch treiben, mal gemächlich, mal schnell. Hasen waren Schnellleser, sie rasten durch ein Buch und vergaßen ganz schnell, was sie wenige Seiten zuvor gelesen hatten."

Der Buchhändler hat ihnen allen einen literarischen Spitznamen wie zum Beispiel Frau Langstrumpf und Mr. Darcy gegeben, der sie treffend beschreibt. Der Handlung haftet dann auch etwas Märchenhaftes an. Als die kleine Schascha in der Geschichte auftaucht, ist sie wie eine gute Fee, die mit ihrer kindlich spielerischen Art die Menschen zueinander bringt. Der Abstand zwischen den Erwachsenen verringert sich von Buch- zu Buchlieferung.

Hier wird ein Gefühl transportiert, welches jeder Leser kennt, der ein besonderes Buch gelesen hat. Die Handlung ist vielleicht ein wenig zu konstruiert und geht nicht allzu sehr in die Tiefe. Aber man fühlt sich wohl beim Lesen, freut sich über die Besuche bei den Buchlesern und lacht zusammen mit Schascha über ihre Lebendigkeit.

Das Ende drückt arg auf die Tränendrüse und hätte sicherlich ohne Dramatik ein schönes Finale erreicht. Mir ging dadurch ein wenig der Wohlfühlaspekt verloren, der das ganz Buch getragen hat.