Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
Volker Jentsch

Bewertungen

Insgesamt 50 Bewertungen
Bewertung vom 14.02.2013
Die Ökonomie von Gut und Böse
Sedlacek, Tomas

Die Ökonomie von Gut und Böse


schlecht

Die Ökonomie nach gut und böse klassifizieren? Warum nicht, wenn auch an vielen anderen Stellen in der Gesellschaft das Gute und das Böse Konjunktur haben, in der Kirche sowieso, aber auch in der Politik und den Medien, die gerne (und häufig unberechtigterweise, weil selbst so unmoralisch) moralische Kriterien anwenden. Das Problem aber ist: was ist Gut und was ist Böse? Angesichts der globalen Verwirrung, die so oft das Böse für das Gute, und das Gute für das Böse ausgibt, ist diese Frage von grundsätzlicher Bedeutung.
Was also ist gut? Wenn ich Sedlácek richtig verstanden habe: gut ist eine beseelte, sittliche und genügsame, sich selbst mäßigende Ökonomie, die weitgehend frei von Gier, zurückhaltend wächst oder schrumpft(?), vor allem aber, die Mythen der ökonomischen Vorzeit berücksichtigt, wenn nicht sogar inkorporiert.
Sedlácek versäumt, seine beseelte Ökonomie zu konkretisieren. Insoweit bleibt er weit hinter den Konzepten der Postwachstums-Apologeten zurück, die immerhin Wege aufzeigen, wie sich auch mit Nichtwachstum („acroissance“) wirtschaften lässt. Auch gelingt es ihm nicht, mit der Mathematisierung der Ökonomie ins Reine zu kommen. Er hat Recht, wenn er die Überbetonung der technischen Seite in den mathematischen Wirtschaftsmodellen kritisiert, ihm fehlt die ökonomische „Seele“ oder um mit den von ihm gewählten Begriffen zu sprechen, die „animal spirits“. Recht hat er auch, wenn er Modelle fordert, die auch die anderen Disziplinen, wie etwa die Soziologie und Philosophie, stärker berücksichtigen. Er sieht aber offenbar nicht, was die moderneren Modelle leisten, die Ökonomie als komplexes System behandeln: 1) Die Verabschiedung der Gleichgewichts-Wirtschaft; 2) die Modellierung statistisch-dynamisch-zufälliger Strukturen, die das ökonomische Leben antreiben.
Das Buch leidet unter einer eher schwerfälligen und ungeschickten Erzählweise und zahllosen Wiederholungen, die das Ganze unnötig aufblähen. Und leider gelingt es Sedlácek nicht, so mein Eindruck, der Kategorien von gut und böse im ökonomischen Kontext habhaft zu werden. Wie bei so vielen Büchern, verspricht der Titel weit mehr, als er einzulösen imstande ist. Ich kann dieses Buch nicht zum Kauf empfehlen, auch wenn das Geld dafür vorhanden sein sollte.

4 von 7 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 04.01.2013
Der Hals der Giraffe
Schalansky, Judith

Der Hals der Giraffe


gut

Viel ist über das Schöne in unserer Welt geschrieben worden. Zu wenig über das Hässliche, mag Judith Schalansky gedacht haben und so hat sie sich aufgemacht, die schöne Welt in eine hässliche umzuschreiben. Hat sie Celines "Reise ans Ende der Nacht" gelesen? In ihrem Blick auf das Häßliche ist sie Celine ähnlich. Celine überschüttet damit die ganze Welt, sie dagegen ist bodenständiger: sie gießt die konzentrierte Säure über eine Schule in Ostdeutschland.
Wer lernt vom „Bildungsroman“? Wer noch nichts von Entwicklungsbiologie, Genetik oder Anthropologie gehört hat, der wird, zum Beispiel, die Seiten über die Entwicklung des Halses der Giraffe zu dem, was er jetzt ist, anschaulich und eingängig finden. Und die Bilder dazu? Von ihr gemalt? Jedenfalls auch ganz schön. Ein Bildungsroman? Das war wohl ironisch gemeint.
Ich habe aus dem Buch nicht viel mitgenommen, außer der Erkenntnis, dass die Dinge eben auch anders gesehen werden können, auf die umdeutende Weise von Schalansky. Erklärt das die überschwänglichen Lobeshymnen der Literaturkritiker? „Hellwach“ soll sie sein, die Judith, so eine von ihnen. „Maliziös“ ein anderer. Und so weiter. Nein. Für mich ist das ein gelegentlich fantasievoller Abstecher in den grauen Alltag einer bekannter Umgebung, der Schule. Das Neue daran ist deren „Biologisierung“. Alles Geschmackssache. Dennoch. Für mich kein großes Buch, nie und nimmer.

6 von 6 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 21.02.2012
Schönheit und Schrecken
Englund, Peter

Schönheit und Schrecken


ausgezeichnet

Dieses Buch hat mich in Bann gehalten, ich finde es gut, sehr gut, weil es so anders ist als all der Schund, in dem ich als Heranwachsender im Hause meines Großvaters geblättert hatte. Der Schund aus schwerem Papier und oft kunstvollem Einband enthielt hunderte heroischer Bilder und Geschichten, war gefüllt mit nationalistischen Ressentiments und sprach in dem Vokabular, mit dem später Hitler reüssierte und das auch heute noch, nicht nur bei der NPD, in Europa und sonst wo gern gehört wird. Und es ist auch anders als ernstzunehmende Darstellungen, wie z.B. das unvergessliche „Im Westen nichts Neues“ von Remarque. Peter Englund rekonstruiert das Leben von Kriegsteilnehmern aus den beteiligten Ländern, während des vierjährigen Krieges von 1914-1918, anhand der von ihnen verfassten Tagebuch-Aufzeichnungen. Das gibt Gelegenheit, Objektives und Subjektives, Berichte und Gefühle, Geschichte und individuelle Psychologie zusammenzubringen. Alle Menschen in diesem Buch sind bereit, zu Anfang des Krieges ihr Leben zu riskieren, ihrem Land zuliebe; die Ideologen, Propagandisten, Nationalisten und Kriegslüsternen, die in allen Ländern, nicht nur in Deutschland, ihr Unwesen trieben (das wird in diesem Buch sehr deutlich) hatten ganze Arbeit geleistet. Aber mit wachsender Länge des Krieges wächst bei allen auch der Abscheu, wenn auch nicht die Einstellung, sich dem mörderischen Krieg ganz und gar zu verweigern.

Zumindest bei den Historikern ist wohl inzwischen allgemein anerkannt, dass die Herrschenden in den kriegsführenden Ländern den Krieg wollten, um - vor allem - ihrem expansiven nationalen Kapital internationale Entfaltung und Macht zu garantieren. Das war der objektive Befund. Das Buch beschreibt den subjektiven Befund, und hier sehe ich seine besondere Stärke: unaufdringlich klar zu machen, daß in diesem Kriege die Willigen durch die Unwilligen missbraucht und ausgebeutet wurden: die willigen Soldaten, untere Offiziersgrade eingeschlossen, gegen den sicheren Tod aus den gegenüberliegenden Maschinengewehren immer und immer wieder anrennen zu lassen, während die Unwilligen, die höheren Militärs, die Befehlshaber, aus sicherer Entfernung und luxuriöser Umgebung zuschauten.

Egal auf welcher Seite die Helden dieses Buches stehen, es gilt für alle dasselbe, wenn sie Gefahr laufen, beschädigt, verwundet, verkrüppelt, erschossen oder von Granaten zerrissen zu werden: das eigene kostbare Leben zu retten. Warum sich folglich mit dem „Feind“ nicht verbrüdern? Aber wie kann ich das Nahe liegende auch nur aussprechen, wo doch die Kirchen die Waffen und somit den Krieg gesegnet hatten, und die Arbeiterparteien ihren Pazifismus und Internationalismus aufgegeben hatten und plötzlich zu glühenden Nationalisten wurden.

Der große englische Historiker Hobsbawn nannte das 20. Jahrhundert „the Age of Catastrophe“, in den etwa 180 Millionen Menschen ihr Leben gelassen haben, das war etwa ein Zehntel der Weltbevölkerung von 1900. Peter Englund hat den mörderischen Beginn des 20. Jahrhunderts, bei vielen vergessen, bei vielen sicher auch unbekannt, anhand von Einzelschicksalen lebendig gemacht. Schönheit und Schrecken nennt er sein Buch; der hässliche Schrecken ist allgegenwärtig, die Schönheit habe ich, auch wenn sie schrecklich sein sollte, darin nicht gefunden.

3 von 4 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 14.01.2012
Vatertage
Thimm, Katja

Vatertage


sehr gut

Dieses Buch ist ein gutes Buch, ein vernünftiges außerdem, klug und abwägend geschrieben, viel wenn nicht alle Umstände berücksichtigend – es ist das Portrait eines Vaters, das von der Tochter zu Papier gebracht worden ist. Er ist als 13-jähriger vor dem Kriege geflohen und doch von ihm eingeholt worden, er wurde aus Not zum Schwarzmarkthändler und Schieber und wurde zur Strafe in DDR-Gefängnisse eingesperrt. Dann kam der Aufstieg, er wurde Verwaltungsbeamter im Westen und in Bonn bis zum Ministerialrat befördert. Nach seiner Pensionierung der schnelle Abstieg, er wird krank, sterbenskrank. Erst angesichts des nahenden Todes und von seiner Tochter dazu gedrängt, ist der Vater bereit, die verschütteten Stationen seiner Vergangenheit: Vertreibung, Gefängnis und Beruf, mit Hilfe der Tochter wieder auszugraben. Dazwischen die Stationen der Gegenwart: Krankheiten, Pflege, Pflegeheime, Pflegepersonal, Ärzte; die Tochter dokumentiert den Prozess des geistigen und körperlichen Zerfalls des Vaters.

Das Buch erzählt nicht viel Neues, es gibt viele Geschichten dieser Art, auch wenn ich nur wenige davon kenne. Was macht das Buch dennoch so lesenswert? A) Das Buch ist glaubwürdig, ich habe den festen Eindruck, so kann es gewesen sein. B) Katja Thimm schreibt diszipliniert (die Tochter ihres Vaters!) aber nicht distanziert (die Tochter ihrer Mutter?), denn aus ihrer Darstellung lese ich Verständnis und eine zarte Form der Zuneigung C) Sie erklärt das Handeln, die Merkwürdigkeiten, die Entscheidungen, kurzum das ganze Leben dieses charakterfesten Sonderlings aus den Ereignissen, mit denen er konfrontiert war. Diese Ereignisse waren extrem, unvorhersehbar, lebens-bedrohlich und haben sein Leben zum großen Teil bestimmt.

Das Leben, das durch die Umgebung bedingte: Katja Thimm hat es aufgeschrieben. Die Pedanterie des Vaters passt zum Ministerialbeamten, seine Starrköpfigkeit oder besser Unbeugsamkeit eher weniger: auch in den Ministerien haben die Biegsamen die Mehrheit. Gleichwohl, nicht alles lässt sich durch äußere Einflüsse erklären, so seine Prinzipientreue, damit ist er zur Welt gekommen, das ist seine auch durch das Äußere nicht veränderbare Größe. Egal ob Flüchtling, Strafgefangener, Beamter, Vater oder Ehemann: ich behaupte, daß er in diesem Punkt immer derselbe geblieben wäre.

Seine Tochter hat ihm mit diesem Buch eine würdige Erinnerung geschenkt. Aber: wo bleibt seine Frau? Kein Mann ist so fest, auch der Herr Thimm nicht, dass er nicht durch das Zusammenleben mit einer Frau, selbst wenn es möglicherweise zeitlich begrenzt war, beeinflußt wird. In dieser Geschichte kommt seine Frau nur ganz am Rande vor. Aber auch das gehörte, so vermute ich, zu den Eigenarten des Vaters und den besonderen Umständen, denen er ausgesetzt war.

3 von 3 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 15.01.2011
Über die Alpen
Klinger, Nadja

Über die Alpen


gut

Während des Lesens des Buches war ich unschlüssig, was ich höher einschätzen sollte, die physische Leistung, die Alpen in wiederholtem Auf- und Ab zu überschreiten oder die intellektuelle Leistung, letzteres in Form eines Buches niederzuschreiben. Am Ende des Buches stand fest: ich halte die physische für die größere Leistung.

Was nicht heißen soll, dass ich das Buch schlecht finde. N.K. hat eine Menge relevanter Geschichten über die Alpen zusammengetragen, und im Großen und Ganzen hat sie wohl korrekt recherchiert, denn das meiste davon ist vom Hörensagen bekannt. Neu war für mich, z.B., daß man unten nackt ankommt, wenn man vom Matterhorn oder ähnlich exponierten Bauwerken runterfällt. Die Ausflüge ins Sachliche halte ich durchweg für gelungen, was die Berichte über das Schweizer Leben und Mentalität betrifft, eher für entbehrlich, weil ziemlich langweilig, aber das ist Geschmackssache. Die Klage über den Verlust an Natürlichkeit in den Alpen kommt erwartungsgemäß, ist darum aber nicht fehl am Platz.

Aber das Buch ist eben auch nicht richtig gut. Das liegt an zweierlei Dingen. Erstens fehlt eine gewisse Spannung. Auf der Wanderung passiert nicht allzu viel, außer daß es hin und wieder regnet, die Füße brennen, und Heidi ganz unvermittelt „schluchzt“. Kein Adler zerrt an Heidis Haaren, weder Heidi noch N.K. gleitet den Hang hinab, kein liebestoller Bergbauer, keine Romanze, auch nicht am Comer See. Daß letztere außen vor bleiben, und auch nicht über die daheim gebliebenen Liebhaber debattiert wird, empfinde ich gleichwohl als wohltuend, und ich habe auch nichts dagegen, im Gegenteil, kann es gut verstehen, wenn die Männer eher als Bedrängung in der gemeinsamen Schlafstätte denn als begehrenswertes Objekt dargestellt werden. Zweitens ist es die Sprache. Wenn es um die Fakten geht, kommt die Sprache daher, wie wir es gewohnt sind. Wenn die beiden wandern, wird N..K. expressionistisch, aber die Wörter stimmen nicht, da hat sich finde ich, N.K. ganz einfach vergriffen. Es „hocken“ und „kauern“ die Berge und die Häuser, da „klappt die Landschaft auf“, es „schluchzt“ die Heidi, und ich weiß nicht warum, Heidi übrigens „ein Name wie ein Berg“, auch das habe ich nicht verstanden. Die „Sonne saugt“, der „Halbschlaf ist kratzig“ und wird vom „Leib gerissen“, Betten und Häuser höre ich stets „ächzen“, und „Muskeln sind eine Wahrscheinlichkeit“, das muß mir N.K. irgendwann erklären. Sie ist vom Typ „Was, wenn nicht ist“. Auch dieser Sinn bleibt mir verschlossen. Die „Argumente rangeln“, der „Weg wirft sich in den Wildbach“, Heidi „raspelt“ (nicht Süßholz, sondern spricht) und dann das: „Glas, pass, Glas, pass“, und so geht es fort, ich glaube der Tag war etwas zuviel für N.K., er hat ihre Sinne beeinträchtigt. Aber einiges ist auch sehr gelungen formuliert, und die Beschreibung des gemeinsamen Nachtlagers auf Seite 100 erheitert das Gemüt nachhaltig.

Schlußendlich: so schlecht steht es um die Alpen nicht. Vielleicht kommt N.K. einmal ins Piemont, wo ich in einem Bergdorf ein wiedererbautes Haus bewohne. Dann zeige ich ihr, daß sich dieser Teil der Alpen, klein zwar im Vergleich zur Schweiz und nur mit den montagne dei poveri (Berge der Armen) ausgestattet, also ohne die spektakulären Gletscherstraßen und Spitzen der Zentralalpen, so ursprünglich wie eh und je präsentiert und hoffentlich so bleibt. Das setzt voraus, daß sich der Tourismus in Grenzen hält. Dafür, so scheint mir, sorgt die widerspenstige Beschaffenheit dieses Geländes schon selbst.

4 von 4 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 09.12.2010
Deutschland wird dir gefallen
Seligmann, Rafael

Deutschland wird dir gefallen


gut

„Rafi wird dir gefallen“

Das Leben eines anderen durchzulesen, ist normalerweise nicht mein Ding. Denn Biographien enthalten oft, was besser das Licht der Öffentlichkeit scheuen sollte – zu vieles ist nach meinem Geschmack ein Akt von Selbstentblößung, an der man nicht unbedingt teilhaben möchte. Daß ich bei Herrn Seligmann eine Ausnahme gemacht habe und sein auf 450 Seiten ausgebreitetes Leben tatsächlich gekauft und bis zur letzten Seite gelesen habe, lag zum ersten daran, dass ich bisher nichts von ihm gelesen noch gehört hatte, und deshalb neugierig war zu erfahren, warum einem Juden Deutschland gefällt; lag zum zweiten auch daran, dass ich Seligmann im WDR 3 gehört hatte, und sowohl seine Stimme wie auch seinen Kommentar zu Deutschland klug und sympathisch fand.

Natürlich ist auch Seligmann ganz und gar nicht frei von Peinlichkeiten, Aufdringlichkeiten, Trivialitäten und Eitelkeiten, aber alles das gibt er, bis auf die Aufdringlichkeit, ja auch zu. Um es gerade heraus zu sagen - ich finde sein Buch nicht gut, ich finde es aber auch nicht schlecht. Warum nicht gut? Seligmann überschüttet den Leser mit zu vielen Namen, Namen von Leuten, die ihm ein Interview gegeben haben, oder Namen von Frauen, die Gefallen an ihm gefunden haben sollen. Alle diese Namen bleiben aber irgendwie bloße Namen, soll heißen, dass es ihm nicht gelingt, sie uns näher zu bringen. Insofern hätte es auch gereicht, wenn er eine Tabelle im Anhang aufgenommen hätte, in dem der Interviewte bzw. die „Gefährtin“ (Orginal Seligmann) sowie das Datum und die Dauer des Interviews bzw. der Liebe aufgezeichnet wären. So hätte der Leser die Übersicht behalten. Andererseits: will wirklich jemand wissen (am wenigsten wohl die Beteiligten selbst), dass auf Ingrid Rachel, auf Rachel Doron, auf Doron Ruth und irgendwann Elisabeth folgt? Es ist wohl eher die Eitelkeit, die aus Seligmanns Mitteilungsdrang spricht. Die Veröffentlichung seiner Beziehungen halte ich sprachlich und inhaltlich allesamt für verunglückt.

Warum nicht schlecht? Seligmann geht es, und in diesem Punkt glaube ich ihm jedes Wort, um eine Normalisierung der deutsch-jüdischen Zusammenarbeit, vielleicht sogar um eine Wiederbelebung des jüdischen Weltbürgers, der bis 1933 vor allem in Deutschland bahnbrechende Ergebnisse in Wissenschaft, Kunst und Musik hervorgebracht hat. Ich habe Seligmann so verstanden: Juden können kritisiert und gelobt werden wie jedes andere Volk auf dieser Erde. Was ihnen angetan worden ist von den Deutschen während der Naziherrschaft, darf nicht vergessen werden. Aber dieses darf nicht die Grundlage der aktuellen Beziehungen sein. Sie müssen (und haben sich ja schon zu einem guten Teil) davon befreit. Diese Einstellung gefällt mir, und ihr gehört die Zukunft. Mir gefällt auch, wenn Seligmann Festigkeit gegenüber dem allgegenwärtigen Opportunismus und Anpassungsdruck zum Ausdruck bringt. Große Namen in Politik und Gesellschaft scheinen ihn nicht allzu sehr zu beeindrucken. Auch hier glaube ich ihm, dass er die Eitelkeit und Prahlerei der zahlreichen Meinungsmacher durchschaut. Es gibt ja in der Tat zu viele, die in ihren Artikeln und ihrer Meinungsmache gegen die Gewichtigen und Anmaßenden zu Felde ziehen, aber keine Gelegenheit auslassen, selbst gewichtig und anmaßend daherzukommen (u.a. auch der von ihm erwähnte Henrik Broder).

Aber hätte es zur Verkündigung seiner politischen Vorstellungen, die wichtig sind, und zur Charakterisierung seiner jüdischen Familie und Prägungen, die ich mit großer Aufmerksamkeit gelesen habe, 450 Seiten bedurft? Nein. Weniger wäre auch hier mehr gewesen.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 22.11.2010
Sommer des Lebens
Coetzee, J. M.

Sommer des Lebens


gut

Ambivalent: John Coetzees „Sommer des Lebens“

Sommer des Lebens? Wenn schon Sommer, dann ein eher düsterer. Der preisgekrönte, sogar nobelpreisgekrönte John Coetzee schreibt über John Coetzee, wobei letzterer mit ersterem wohl einiges gemeinsam haben dürfte. Das ganze ist kunstvoll konstruiert: ein nicht näher bezeichneter Mann interviewt vier Frauen und einen Mann zu John Coetzee.

Die Julia habe ich mit Begeisterung gelesen, denn sie ist eine Frau nach meinem Geschmack. Die Adriana fand ich wegen ihrer umwerfenden Deutlichkeit erfrischend, und die drei restlichen Figuren habe ich der Vollständigkeit halber mitgenommen, auch wenn ich zu diesem Zeitpunkt der sich wiederholenden Bespiegelungen eigentlich schon überdrüssig war.

Es gilt, wie schon gesagt, als ein Buch von Coetzee über Coetzee; ich habe es als Buch gelesen, in dem Frauen beschrieben werden. Die Reaktion von vier Frauen auf einen Mann, der keine auffallende Persönlichkeit ist und keine große Ausstrahlung hat, außerdem leidenschaftslos, gefühlsarm, beziehungsscheu und weich sein soll. „Nur eine Frau weiß, wer ein Mann ist“. So ist es. Und darin liegt für mich der Reiz des Buches: Der Mann erfährt in Coetzees Buch, wie und was eine Frau über den Mann denkt und vor allem: was sie vom Mann will und wünscht. Coetzee kommt schlecht weg im Buch, aber er erweist sich, so scheint mir, als hervorragender Kenner der weiblichen Bedürfnisse und Vorstellungen.

Zurück zu Julia. Sie ist jung und selbstbewusst, sexuell und intellektuell aktiv. Sie hat sich in der bürgerlichen Ehe eingerichtet und will doch etwas anderes, viel Aufregenderes, scheitert indes an den damit verbundenen Schwierigkeiten. Coetzee, der bemitleidete Kauz, geht seinen Weg zum Nobelpreis, während die vier Frauen, wiewohl vermeintlich stärker, allesamt in ihrem Gefühlsleben scheitern.

Eine Anmerkungen noch zu den Notizbüchern: Die Notizbücher, die die Interviews einrahmen, sind deprimierend, weil ungeschönt. Wie alles, was Coetzee schreibt. Die Notizbücher sind ungeschönte Ausschnitte aus einem gebrochenen Vater-Sohn Verhältnis, das in einer eingemauerten Umgebung ein Dasein fristet, dem Afrika der Apartheit.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 22.11.2010
Verlockung
Szekely, Janos

Verlockung


ausgezeichnet

Mitreißend: Janos Székelys Verlockung

Zuallererst ist dies ein wunderbares Buch, das tiefste und leidenschaftlichste, das mir bisher begegnet ist, und zugleich das spannendste und verrückteste, das traurigste und komischste, und ich weiß, dass selbst diese Superlative die Qualität des Buches nicht beschreiben können. Und es gibt Bilder in Székelys Sprache, die sind umwerfend, weil sie so gut sind.
Székely erzählt die Geschichte des Jungen Béla, der, in unfassbarer Armut aufwachsend, zum Liebhaber „Seiner Exzellenz“ aufsteigt und als Kämpfer zu den Seinen, den Mittel- und Rechtlosen, zurückfindet.

Es ist ein ganz und gar parteiisches Buch. Hier die Machtlosen, dem die Zuwendung des Autors gilt, und dort die Mächtigen, die er mit Spott, Hohn und Verachtung abhandelt. Und doch ist sein Roman alles andere als platt oder gar propagandistisch. Dafür sind die Machtlosen selbst zu fehlerhaft, lasterhaft und schwächlich. Und es gelingt dem Autor, seine Parteilichkeit auf den Leser zu übertragen. Ich habe mit Béla und seinen Leuten gelitten und gekämpft und gehofft, auf ein besseres Leben.

Gleichwohl, die Machtlosen sind nicht immer die Unterlegenen. Zwei Szenen, die ich für die besten des Buches halte, belegen dieses. Im Wettstreit des Händedrückens zerquetscht Bela die Hand des skrupellosen Abgeordneten, nachdem dieser zuvor das Gleiche bei Béla versucht hat und gescheitert ist. Und das im Angesicht „Seiner Exzellenz“, deren Schönheit und Laszivität alle Männer verrückt macht! Und dann die Szene, als Bela von „Seiner Exzellenz“ gerufen wird und sie ihn, halbnackt, in ihrem Zimmer empfängt. Sie spielt mit seiner Erregung, gerät selbst außer Sinnen und als er, angestachelt davon, über sie herfällt, nimmt sie sich, was ihr impotenter Mann nicht geben kann. Eindringlicher, leidenschaftlicher und ästhetischer kann Erotik nicht geschrieben werden; es ist das schärfste, was ich dazu gelesen habe. Und zugleich ist diese Szene viel mehr. Sie ist der Höhepunkt der gegenseitigen moralischen und psychischen Ausbeutung, und diese ist, naturgemäß, gegenseitig.

Insofern ist die Verlockung, der Béla erliegt, oberflächlich nichts anderes, als die Verlockung, der „Seine Exzellenz“ erliegt. Tatsächlich sind die Unterschiede aber eben doch gravierend, und deshalb entsagt Béla, als sein Verstand wieder die Oberhand gewinnt, seiner Leidenschaft, wenn auch unter großen Schmerzen, und kämpft hinfort auf der richtigen Seite um Leben und Freiheit, mit den Unterdrückten, gegen die Unterdrücker.

Warum leben Leute wie János Székely nicht länger? Der Roman ist ja nicht zu Ende, und ich hätte gern erfahren, was Béla die Jahre danach, in anderen Umständen, wie etwa unseren heutigen demokratisch verfassten Gesellschaftenn, widerfahren wäre. Verlockungen sind allgegenwärtig und entstehen in immer neuer Verkleidung, wie wäre er damit umgegangen?

2 von 3 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.