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Bories vom Berg
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Bewertungen

Insgesamt 874 Bewertungen
Bewertung vom 30.08.2024
Iowa
Sargnagel, Stefanie

Iowa


sehr gut

Das Land der unbegrenzten Möglichkeiten

«Iowa», das neue Buch der unter ihrem Künstlernamen Stefanie Sargnagel schreibenden, österreichischen Schriftstellerin S. Sprengnagel, trägt den Untertitel «Ein Ausflug nach Amerika». Dieses fiktional angereicherte Reisetagebuch beschreibt einen Aufenthalt der Wiener Autorin in der Kleinstadt Grinnell, mitten in der Einöde Iowas. Das exklusive Elite-College von Grinnell hat sie 2022 zu einem zeitlich begrenzten Lehrauftrag über Creative Writing eingeladen. Sie reist zusammen mit ihrer zwanzig Jahre älteren Berliner Freundin, der Sängerin Christiane Rösinger, die vom College für einen Festabend engagiert wurde. Und die ist es denn auch, die dem Buch äußerst amüsante, korrigierende Fußnoten hinzufügt. Wie schon der ulkige Künstlername vermuten lässt, geht es in dieser Road Novel ziemlich lustig zu.

Genüsslich arbeitet die Autorin in ihrer Geschichte alle, aber auch wirklich alle Klischees ab, die es über die USA gibt, und zwar alle, die man schon kennt, und viele, die es noch zu entdecken gibt in diesem Buch. Für die beiden Großstädterinnen ist das langweilige Kaff ein Kulturschock der besonderen Art. Und es ist nicht nur das allgegenwärtige Fast Food, es sind auch ansprechend erscheinende Restaurants, die sich als permanente Enttäuschung und resigniert hinzunehmendes Ärgernis herausstellen. Erstaunt sehen sie in einer Bar zum Beispiel ein Glas voller eingelegter Truthahnmägen, Gipfel der skurrilen Genüsse, die man in Iowa offensichtlich goutiert. Die beiden Frauen taumeln von einer kulinarischen Zumutung zur nächsten und landen in «abgeranzten Bierspelunken». Nichts schmeckt, alles ist lieblos zubereitet. Und das gilt nicht nur für die amerikanische Küche, sondern auch für die dort häufig vertretene asiatische, welche die Beiden aus Österreich oder Deutschland ganz anders kennen. Und bei den Getränken ist es besonders die überall gleiche Plörre, die man bekommt, wenn man Kaffee bestellt, was die Freundinnen dann jedes Mal aufs Neue verzweifeln lässt.

Die Beiden erleben bei ihren Ausflügen immer wieder skurril anmutende Überraschungen, sei es in den kleinen Läden des Ortes, in merkwürdigen Museen, in Second Hand Shops, in den Waffengeschäften oder im Walmart, dem riesigen Supermarkt. Oft spazieren sie durch den menschenleer erscheinenden Ort, wo niemand mehr zu Fuß unterwegs ist und man selbst für zweihundert Meter lieber ins Auto steigt als zu laufen. Die Menschen sind fast alle übergewichtig, ernähren sich falsch und bewegen sich zu wenig. Mit scharfem Blick erfasst die Autorin all die kulturellen Unterschiede und erzählt sie dann liebevoll spöttisch, aber schonungslos ehrlich, manchmal sarkastisch, aber unverkennbar auch voller Sympathie. Ihr Vergleichs-Maßstab dabei ist das für sie vermeintlich anarchische, politisch rechtslastige Österreich.

Die Kettenraucherin Stefanie Sargnagel gibt sich im Buch als typisch grantelnde Wienerin, die ihren Frust im Alkohol ertränkt, und ihre Freundin hält als bühnenerprobte Punksängerin dabei meistens wacker mit. Die Autorin, eine ausgewiesene Feministin, spricht mit ihr über ihren latent vorhandenen Kinderwunsch, übers Älterwerden, über Künstlertum, Geschlechterrollen oder über die Abtreibungs-Debatte in den USA. Sie verliert sich, meist leicht beschwipst, in unpathetischen Selbst-Analysen oder sinniert zum Beispiel über Frauen-Freundschaften. Und es ist denn auch gerade ihre Freundschaft, die verschiedenen Charaktere der Beiden, die den besonderen Reiz dieses Buches ausmachen, besonders in den funkelnden Wortgefechten. Sprachlich salopp und immer ironisch wird hier ein Klischee nach dem anderen bedient. Dabei bieten sich jedoch en passant auch viele erkenntnisreiche Einblicke in das «Land der unbegrenzten Möglichkeiten», zu denen leider auch eine durch keinerlei soziale Unterstützung abgemilderte, geradezu archaisch anmutende Armut gehört.

Bewertung vom 28.08.2024
Das Philosophenschiff
Köhlmeier, Michael

Das Philosophenschiff


gut

Falsch erzählt, aber gut erfunden

Zum riesigen Œuvre des österreichischen Schriftstellers Michael Köhlmeier ist nun der neue Roman «Das Philosophenschiff» hinzugekommen. Ein neugierig machender Buchtitel, der sich auf die Schiffe bezieht, mit denen die Bolschewiken unliebsame Intellektuelle ins Exil verfrachtet haben. Zu denen gehört auch die vierzehnjährige Tochter eines russisch-jüdischen Akademiker-Paares, die mit ihren Eltern und sieben anderen Geistesgrößen und Künstler 1922 auf einem solchen Schiff aus Russland deportiert werden. Niemand weiß wohin, und ob sie letztendlich nicht doch noch liquidiert werden wie all die anderen Opfer des bolschewistischen Terrors. Der Erzähler der Geschichte ist ein Schriftsteller namens Michael, der im Auftrag einer weltberühmten österreichischen Architektin einen Roman über deren Leben schreiben soll. Er ist dafür bekannt, Fakten und Fiktionen kaum unterscheidbar in seinen Erzählungen miteinander zu verflechten. «Deshalb glaubt man Ihnen oftmals nicht, wenn Sie die Wahrheit schreiben, und glaubt Ihnen, wenn Sie schummeln», begründet die exzentrische Anouk Perleman-Jacob bei einem Bankett zu ihrem hundertsten Geburtstag, warum sie ausgerechnet ihn mit diesem Buch beauftragen will.

In der äußeren Erzählfläche dieses Romans schildert der so gern fabulierende Ich-Erzähler, wie er sich im Haus der Architektin ihre Lebensgeschichte erzählen lässt. Diesen Sitzungen entsprechen die einzelnen Kapitel des Romans, jeweils eingeleitet durch kurze Erläuterungen und Fragen des Schriftstellers. In der inneren Erzählfläche werden, in Anführungszeichen gesetzt, die mündlichen Schilderungen der greisen Dame wiedergegeben, von ihm mit dem Smartphone aufgezeichnet. Während dieser mehrstündigen, interviewartigen Gespräche entwickelt sich zwischen ihnen eine gewisse Sympathie, der Ton wird deutlich lockerer. Eine mehrtägige Pause nutzt der Schriftsteller dazu, in der Wiener Staatsbibliothek Näheres über die Hintergründe der Lenin-Ära zu recherchieren, denen er dann ein eigenes Kapitel widmet.

Die zehn Personen auf dem «Philosophenschiff» haben keinerlei Kontakt zur Besatzung, Sie sind in Kabinen der dritten Klasse untergebracht und dürfen sich nicht frei bewegen auf dem riesigen, für zweitausend Passagiere ausgelegten Luxusdampfer. Nach einigen Tagen stoppt das Schiff ohne erkennbaren Grund mitten auf der Ostsee, durch die Bullaugen kann man einen Kutter beobachten, der am Schiff anlegt. Neugierig geworden findet Anouk einen allerdings gefährlichen Weg, aus ihrem abgesperrten Deck heraus zu kommen, indem sie aus einem zufällig nicht versperrten Kabinenfenster herausklettert und auf einer an der Außenwand des Schiffs angebrachten Leiter auf das Promenadendeck hochsteigt. Sie trifft dort einen alten Mann, der mutterseelenallein in einem Rollstuhl sitzt, halbseitig gelähmt. Es ist niemand geringerer als Wladimir Iljitsch Lenin, der nach dem historischen Motto «Die Revolution frisst ihre Kinder» in Ungnade gefallen ist. Die Vierzehnjährige kommt mit dem einsam dahin dämmernden, aber geistig hellwachen Revolutions-Führer ins Gespräch, sie reden über Macht und Liebe. Nach einigen Tagen wird Lenin dann einfach über Bord geworfen, Anouk ist heimliche Zeugin des Verbrechens. Eine Flunkerei natürlich, denn Lenin ist nicht ins Meer geworfen worden, er starb auch nicht 1922, sondern zwei Jahre später, wurde dann als Mitbegründer der UDSSR einbalsamiert und auf dem Roten Platz im Lenin-Mausoleum an der Kremlmauer aufgebahrt, ein Zuschauermagnet par excellence.

Neben den grausamen Verfolgungen ist das Scheitern des Bolschewismus ein dominantes Thema dieses Romans, der trotz aller historischen Schummeleien aufklärend und bereichernd wirkt. Brillant und oft lakonisch erzählt der Autor durch seine Protagonistin bedrückende, skandalöse, aber auch amüsante Geschichten, deren oft anekdotische Szenen aber manchmal doch etwas zu aufgesetzt wirken. Gleichwohl gilt: ‹Falsch erzählt, aber gut erfunden!›

Bewertung vom 26.08.2024
Nochmal von vorne
Suffrin, Dana von

Nochmal von vorne


gut

Da capo

Auch der zweite Roman von Dana von Suffrin mit dem Titel «Nochmal von vorne» widmet sich dem Thema jüdisches Leben in Deutschland, die promovierte Historikerin beschreibt darin die komplizierte Geschichte einer vierköpfigen Familie aus der Perspektive der jüngeren Tochter. Dabei deckt diese unverkennbar autobiografisch gefärbte, fragmentarisch erzählte Geschichte einen Zeitraum von mehr als dreißig Jahren ab. Sie beginnt in der Jetztzeit mit dem Tod des aus Siebenbürgen stammenden Vaters, um dann in vielen Rückblenden bis in die 90er Jahre hinein, bis in die Kindheit der Ich-Erzählerin Rosa zurück zu schweifen. Schon der Buchtitel deutet auf ein Da capo hin, denn der Debütroman «Otto» handelte von ebendieser chaotischen Familie, die in dem neuen, für den Deutsche Buchpreis nominierten Roman nun erneut im Fokus steht.

Diese deutsch-rumänische Familie ist von extremen Fliehkräften geprägt, denn alle Vier, Vater, Mutter, Rosa und ihre ältere Schwester Nadja, trachten aus ganz unterschiedlichen Gründen danach, ihrer Familie zu entkommen. Beweggründe dafür sind unerfüllte Sehnsüchte, Heimatlosigkeit, Freiheitsdrang, Überdruss der Ehepartner, dauernde Streitereien und die Divergenz der intellektuellen Fähigkeiten, die da ungebremst aufeinander prallen. Der Vater hat in Rumänien ein Studium der Chemie absolviert, das aber in Deutschland nicht anerkannt wird. Er arbeitet deshalb nun als Laborant der Münchner Stadtwerke und kontrolliert Proben des Abwassers. Studienabbrecher sind auch die beiden ungleichen Schwestern. Rosa ist wenigstens im Archiv ihrer Fakultät an der Uni untergekommen, Nadja hingegen schlägt sich mit ständig wechselnden Jobs mehr schlecht als recht durchs Leben. Am Ende des Romans lebt sie mit einer Professorin für Medien-Theorie in deren, nach Ansicht Rosas, hässlichem Einfamilienhaus zusammen und führt, ganz ungewöhnlich für sie, den gemeinsamen Haushalt.

Nach dem Tod des Vaters ist die Ich-Erzählerin gezwungen, sich um die Auflösung seiner Wohnung in Rumänien zu kümmern. Mit ihrer älteren Schwester hat Rosa seit sechs Jahren keinen Kontakt mehr, also muss sie sich alleine um den Nachlass kümmern. Sie bestellt eine Firma, um die Wohnung auszuräumen und den armseligen Hausrat zu entsorgen. Und da sie auch keine irgendwo versteckten Ersparnisse fand, muss sie auch noch allein für die Bestattungs-Kosten aufkommen, denn sie kann die exzentrische Nadja nicht mal mehr telefonisch erreichen. Zwischen Vater und Mutter tobte ein ständiger Streit, der meistens von der aggressiven Mutter ausging, die ihren Mann für einen Schlappschwanz hielt, der sich antriebslos in seiner unter-qualifizierten Stellung eingerichtet hat, wodurch die Familie zu einem sehr bescheidenen Leben gezwungen war. Ein Ausbruch der Mutter aus diesen bedrückenden Verhältnissen war dann ihre Selbstfindungs-Reise nach Thailand, von der sie nie mehr zurück gekehrt ist. Sie war zu weit ins Meer hinaus geschwommen, kam nicht mehr zurück und wurde nach zwei Wochen für tot erklärt. Schlimmer noch als die Mutter ist die launische Nadja mit ihren Neurosen, die oft nicht reagiert, wenn man sie anspricht, oder einfach mitten im Gespräch wegläuft. Sie ist eine Exzentrikerin durch und durch, die sich keinen Konventionen beugt, sich wie ein Paradiesvogel herrichtet und anzieht, manchmal von einem Tag zum anderen wieder ganz anders.

Unter Verzicht auf einen linear erzählten Plot und mit nicht immer nachvollziehbaren Szenewechseln wird in dieser Familiengeschichte ein Jahrhundert voller politischer Verwerfungen gespiegelt, ohne dass ein Holocaust-Roman daraus geworden ist. Erzählt wird in einer schlichten, leicht lesbaren und vorwärts drängenden Sprache, in der unverkennbar eine leichte Ironie mitschwingt und manchmal auch die jüdische Abart des schwarzen Humors.

Bewertung vom 23.08.2024
Unrast
Tokarczuk, Olga

Unrast


ausgezeichnet

Glückliches Polen

Die polnische Literatur-Nobelpreisträgerin Olga Tokarzuk hat 2007 ein Buch veröffentlicht, das in ihrer Heimat hoch gelobt wurde und zwei Jahre später dann unter dem Titel «Unrast» in deutscher Übersetzung erschien. Im Jahre 2018 wurde ihm schließlich der britische International Booker Prize verliehen. Die Resonanz in Deutschland war eher verhalten, und das Feuilleton war völlig uneins. Denn das als Roman veröffentlichte Buch entspricht kaum den Erwartungen an dieses literarische Genre, viele sehen darin eher eine Kurzgeschichten-Sammlung. Die Autorin selbst hat ihr Buch als «Konstellationsroman» bezeichnet, «eine genre-übergreifende Sammlung von Fiktion, Historie, Memoir und Essay». Und weiter: «Als ich es erstmals meinem Verlag geschickt habe, riefen sie mich zurück und fragten, ob ich vielleicht die Dateien in meinem Computer durcheinander gebracht hätte, denn das sei kein Roman». Wie auch immer! «Ein Roman wie dieser könnte niemals den Deutschen Buchpreis gewinnen», schrieb Ina Hartwig 2009 in der Frankfurter Rundschau. Und sie fügte hinzu: «Glückliches Polen, wo Bücher wie dieses mit dem wichtigsten Literaturpreis des Landes ausgezeichnet werden!» Wo sie recht hat, hat sie recht!

Im polnischen Original heißt das Buch «Bieguni», die Bezeichnung für eine orthodoxe jüdische Sekte, deren Mitglieder daran glaubten, in der ständigen Bewegung Gott näher zu sein. Neben vielen, manchmal nur eine halbe Seite umfassenden Notizen, Porträts, Glossen und Gedankensplittern der Ich-Erzählerin, neben zufälligen Beobachtungen, historischen oder mythologischen Randbemerkungen gibt es auch umfangreichere Geschichten. Da verschwindet zum Beispiel während eines Spaziergangs eine Frau spurlos mit ihrem Kleinkind. Die Suche der Polizei auf der kleinen, kroatischen Insel ist vergebens. Als sie drei Tage später wieder auftaucht, bleibt sie ihrem Mann jede Antwort schuldig, wo sie gewesen ist, - ihre Ehe zerbricht daraufhin. Ein ehemaliger Walfänger, der als Kapitän auf einer Fähre frustriert täglich mehrmals immer die gleiche Strecke fahren muss, nimmt plötzlich Kurs aufs offene Meer. Was die Passagiere zunächst ziemlich irritiert, aber ihr Protest schlägt schnell in Zufriedenheit um, alle finden den neuen Kurs prima. Auch die Mutter eines behinderten Kindes verlässt ohne ein Wort die Familie, streift ziellos durch Moskau, kampiert in der Metro und teilt das Leben der Obdachlosen. Wie lange, bleibt offen!

Erzählt wird auch von einem Altertums-Wissenschaftler, der auf einem Kreuzfahrtschiff Vorträge für die Passagiere hält. Berichtet wird zudem von Reise-Psychologen, die einem zufälligen, ständig wechselnden Publikum im Wartebereich eines Flughafens Vorträge halten über ihr Fachgebiet. Ein längerer Erzählstrang beschäftigt sich mit dem Thema Plastination und der Konservierung von Leichen. Dazu gehören dann auch mehrere ausführliche Briefe der Tochter des Kammer-Mohren am Hofe des Kaisers Franz III, die hartnäckig darum bittet, ihr die im Museum ausgestellte, mumifizierte Leiche ihres Vaters für eine christliche Bestattung zu überlassen. Und die Schwester von Frédéric Chopin schließlich, die ihren berühmten Bruder innig geliebt hat, begleitet sein Herz auf eine letzte Reise in die Heimat. Sogar ein Loblied auf die überaus wichtige Funktion von Wikipedia fehlt nicht in den lose verknüpften, literarischen Miniaturen, die dieses geradezu nomadisierende Buch prägen.

In seiner Intention ist «Unrast» eine kritische Auseinandersetzung mit der globalisierten, spätkapitalistischen Welt. Das Unstete, die Reisesucht und Entfremdung kennzeichnen die zunehmende Entwurzelung des Menschen. Immer wieder weicht die zentrale Perspektive einer dezentralen, fragmentierten, auf Emphase seiner zumeist sympathischen Figuren setzenden Erzählweise. Stilistisch brillant und wortmächtig erzählt, ist dieses Buch eine kontemplativ außergewöhnlich anregende Lektüre.

Bewertung vom 19.08.2024
Nachts ist unser Blut schwarz
Diop, David

Nachts ist unser Blut schwarz


sehr gut

Bei der Wahrheit Gottes

Der zweite Roman des französisch-senegalesischen Schriftstellers David Diop mit dem bezeichnenden Titel «Nachts ist unser Blut schwarz» erregte 2018 in Frankreich große Aufmerksamkeit, er wurde mit dem Prix Goncourt des lycéens ausgezeichnet. In Übersetzung folgte dann 2021 auch noch der britische International Booker Prize. In Deutschland hingegen blieb er weitgehend unbeachtet. Was erstaunlich ist, denn dieser Kurzroman ist eine literarisch anspruchsvolle Abrechnung mit dem Krieg, hier mit dem bis dato schrecklichsten, dem Ersten Weltkrieg. Wie der Autor in seiner «kurzen historischen Anmerkung» erklärt, ist er durch 1998 veröffentlichte Feldpostbriefe französischer Soldaten auf das Thema aufmerksam geworden. Über Feldpost von Senegalschützen, von denen bei den großen Schlachten gegen die Deutschen ca. 30.000 getötet wurden, gibt es hingegen keine Informationen. Ihnen fiktional eine Stimme zu geben war sein Ansporn für diesen Roman.

Als der senegalesische Protagonist Alfa Ndiaye im Kugelhagel eines Angriffs seinen neben ihm liegenden, durch einen Bauchschuss schwer verletzten Freund töten soll, kann er das nicht, so sehr der todgeweihte Freund ihn auch bittet. Die von den weißen Kameraden «Schokosoldat» genannten Senegalesen haben für den Nahkampf statt dem Bajonett alle eine Machete, mit der sie die Gegner niedermetzeln sollen. Sein bester Freund aus Kindheitstagen fleht ihn an, aber er kann ihn nicht von seinem Leiden erlösen, kann ihm nicht die Kehle durchschneiden! Als der Freund wenig später qualvoll gestorben ist, schleppt er ihn unter Lebensgefahr durch das Niemandsland zum französischen Schützengraben zurück. Dieses Erlebnis, seine Ohnmacht der Tötung auf Verlangen gegenüber, macht ihn derart wütend, dass er fortan wie ein Racheengel über das Schlachtfeld zieht, feindliche Soldaten tötet und jeden Abend mit dem Gewehr eines Deutschen zurückkehrt, - und mit einer abgetrennten Hand von ihm. Die bewahrt er dann, ähnlich dem Skalp bei den Indianern, als Trophäe auf. Er bekommt einen Tapferkeits-Orden, der ihm rein gar nichts bedeutet, sein Antrieb ist Rache. Bei der vierten Hand beginnt die Bewunderung der Kameraden und des Kommandanten in Abscheu umzuschlagen, und bei der siebten schickt ihn der Kommandant schließlich, gegen Alfas Willen, in einen vierwöchigen Heimaturlaub.

Eine längere Rückblende gilt seiner Jugendzeit in einem Dorf im Senegal, die von der Entführung seiner Mutter überschattet wurde. Ihr Schicksal blieb ungeklärt, ein Trauma, das ihn lebenslang verfolgen wird. Eine weitere Rückblende gilt der ersten Liebe des Ich-Erzählers, der sich sechzehnjährig in ein gleichaltriges, schönes Mädchen verliebt, das seine Liebe zwar erwidert, sich ihm aber nie hingegeben hat. Vier Jahre später, am Abend vor seiner Abreise an die Front, wurde im Kreis der Freunde Abschied gefeiert. Die Schöne verließ nach einem tiefen Blick in seine Augen schon früh das Fest. Er folgte ihr, sie ging in den Wald, wo sie sich ihm hingab. Ein letzter Liebesbeweis, sie würden sich wahrscheinlich nie wiedersehen. Denn die jungen Männer hatten nur geringe Chancen, überhaupt je wieder heimzukommen, und Alfa würde nach Dakar gehen und studieren.

Sowohl von seiner Thematik her als auch von seiner Stilistik ist dieser grausam anmutende Roman über Menschlichkeit in unmenschlichen Zeiten alles andere als leichtverdaulich. Kann man seine Menschlichkeit verlieren? Hat allein die rasende Wut den Protagonisten in den Wahnsinn getrieben? David Diop hat sich für die Innenschau als stilistisches Mittel entschieden, «um den Schock eines Senegalschützen zu veranschaulichen», wie er im Nachwort schreibt. Dementsprechend ist dessen simple Sprache sprunghaft, kurzatmig, traumatisch, zudem auch mit in Schleifen ständig wiederholten Phrasen durchsetzt. Von denen ist «Bei der Wahrheit Gottes …» die häufigste. Verstörend zu lesen, aber bereichernd und sogartig mitreißend bis zum Ende!

Bewertung vom 17.08.2024
Was man sät
Rijneveld, Lucas

Was man sät


gut

Landleben und Apokalypse

Der Debütroman «Was man säht» der holländischen Autorin Marieke Lucas Rijneveld bekam 2020 den hochdotierten International Booker Prize für fremdsprachige Romane. Die geografisch im niederländischen Bibelgürtel und zeitlich in den späten neunziger Jahren angesiedelte Geschichte berichtet von den Verstickungen einer orthodox kalvinistischen Bauernfamilie aus der Sicht eines der vier Kinder. Ich-Erzählerin ist Jas, die oft auch Jacke genannt wird, weil sie Tag und Nacht die gleiche Jacke trägt. Eine hartnäckig verteidigte Marotte, die sie angeblich vor Gefahren und den Anfeindungen ihrer Umgebung beschützt. Lapidar lautet denn auch der erste Satz: «Ich war zehn und zog meine Jacke nicht mehr aus.»

Ihre Erzählung beginnt kurz vor Weihnachten, als sie bemerkt, dass ihr Vater ihr geliebtes Kaninchen mästet. Offensichtlich, weil es als Festbraten auf dem Esstisch landen soll. Sie versucht vergebens, ihren Vater davon abzubringen. Insgeheim fleht sie zu Gott. er möge ihr Kaninchen verschonen und stattdessen ihren ältesten Bruder zu sich nehmen. Auf den ist sie gerade sauer, weil er sie nicht mitgenommen hat zum Schlittschuhlaufen. Ihr Wunsch erfüllt sich auf makabre Weise, der Bruder bricht ins Eis ein und ertrinkt! Und Weinachten fällt komplett aus für dieses Jahr, das Kaninchen bleibt also unbehelligt, es gibt nichts zu feiern. Für die Familie ist der Tod des Ältesten eine Strafe Gottes, die man geduldig zu ertragen hat. Diesem erzählerischen Paukenschlag gleich zu Beginn folgen Schilderungen des harten Lebens auf dem Bauernhof mit hundertachtzig Kühen, wo auch die Kinder mithelfen müssen. Es ist kein Lobgesang auf das idyllische Landleben, ganz im Gegenteil, und Jas flüchtet sich in ein Traumleben hinein, welches von dem entbehrungsreichen Alltag geprägt ist, dessen extreme Anspruchslosigkeit durch die Bibel vorgegeben ist. Für jedes Problem, für alle Lebens-Situationen haben die bibelfesten Eltern stets und ständig einen frommen Spruch parat. Auch den Kindern sind diese Pseudo-Weisheiten in Fleisch und Blut übergegangen, auch sie können für jede Situation eine passende Bibelstelle zitieren. Sie nehmen sie spöttisch vorweg, wenn es darum geht, was denn die Eltern oder der Herr Pfarrer zu bestimmten Ereignissen jetzt gleich sagen werden. Hier profitiert die Autorin offensichtlich von eigenen Erfahrungen, sie selbst wuchs in einem streng religiösen Heim auf.

Jas wird von Schulgefühlen geplagt, auf die sie durch Gewalt gegen sich selbst reagiert. So drückt sie sich, zur Strafe quasi für das heraufbeschworene Unheil, eine Reiszwecke in den Bauchnabel, die dort auch bleibt, als ständige Mahnung! Überhaupt prägt offene, aber auch unterschwellige Gewalt das Familienleben. Der Bruder von Jas nimmt eines Tages seinen geliebten Hamster aus dem Käfig und drückt ihn in einer Schüssel unter Wasser. Ungerührt sieht er zu, wie das Tierchen strampelt und sich dann nicht mehr bewegt. Bald darauf muss der Hahn dran glauben, mit einem Hammer schlägt der Bruder ihn tot, als Mutprobe. Zu den ständigen Ängsten von Jas gehört auch ein vom Balken herabhängender Strick, sie fürchtet, die depressive Mutter könne sich damit erhängen. Und Vater droht öfter mal, dass er fortgehen werde und nicht mehr zurückkommt, - der reinste Psychoterror für die Geschwister!

In einer der Erzähler-Figur Jas angepassten, naiven Sprache werden in diesem Roman unzählige, teilweise poetische Bilder herauf beschworen. Die wirken anfangs sogartig, werden mit der Zeit aber langweilig, weil im Grunde wenig passiert, Landleben halt! Tod und erwachende Sexualität hingegen prägen, immer wieder geschickt eingestreut, die Gedanken der jugendlichen Protagonistin. Sie sind denn auch bestimmend für den Plot, der zielgerichtet auf ein apokalyptisches Ende hinsteuert. Welches man sich, listiger Weise geradezu beiläufig erzählt, dann schockierender kaum vorstellen kann!

Bewertung vom 14.08.2024
Kommt ein Pferd in die Bar
Grossman, David

Kommt ein Pferd in die Bar


gut

Lachen und Weinen

Das Original des erfolgreichsten Romans von David Grossman wurde 2014 in Israel veröffentlicht und zwei Jahre später sowohl ins Englische als auch, unter dem Titel «Kommt ein Pferd in die Bar», ins Deutsche übersetzt. Der Roman wurde 2017 als bester fremdsprachiger Roman mit dem Booker International Prize ausgezeichnet, dessen Preisgeld von 80.000 Pfund sich Autor und Übersetzer teilen. Während das Buch in seinem Heimatland Israel recht unterschiedlich bewertet wurde, war das Echo im deutschen Feuilleton einhellig positiv. Alleiniges Thema des Romans ist ein Auftritt des Komikers Dov Grinstein in einer israelischen Stadt am Mittelmeer, es ist der Tag seines 57ten Geburtstags.

Zu diesem Abend hat er Avischai Lasar eingeladen, einen gleichaltrigen Freud aus seiner Kindheit, die Beiden haben sich seit 40 Jahren nicht mehr gesehen! Der ehemalige Richter wurde vor drei Jahren vorzeitig in den Ruhestand versetzt, weil den Vorgesetzten seine scharfsinnigen, immer exzellent begründeten Urteile nicht mehr gepasst haben, sie gaben häufig Anlass zur Revision. Der Stand-up-Comedian hatte große Schwierigkeiten, den auch in den Medien bekannten, hohen Richter a. D. zum Kommen zu bewegen. Sein alter Freund Avischai hat es sich nämlich als Pensionär gemütlich gemacht und ist mental inzwischen auch über den Tod von Samanta hinweg, seiner ehemaligen Freundin. Aber was ihn schon gar nicht interessiert, das sind solche Comedy-Shows, und dann soll er Dov auch noch berichten, wie er seinen Auftritt bewertet! «Das, was von einem Menschen ausgeht, ohne dass er Kontrolle darüber hat – das sollst du mir erzählen.» Er habe ja in seiner Zeit als Richter bewiesen, welch glänzender Formulierer er ist, - und schließlich gibt Avischai nach.

«Einen wun-der-ba-ren Guten Abend» heißt es am Anfang, «Gute Nacht» sind die Schlussworte nach gut 250 Seiten, chronologisch sind es zwei, drei Stunden später, dazwischen wird von Dovs denkwürdigem Auftritt berichtet. Er beginnt mit den üblichen Späßen, erzählt viele Witze, erweist sich als schlagfertig, wenn er Leute aus dem Publikum mit einbezieht, ist mimisch und gestisch virtuos. Immer öfter aber schweift er zu seiner leidensvollen Kindheit ab und provoziert damit sein Publikum, das zum Lachen hergekommen ist. Dov reagiert aggressiv, die Proteste werden lauter, man will keine Leidens-Geschichten hören, erste Gäste verlassen den Saal. Mit seinen Witzen gelingt es ihm immer wieder, die Leute zu beruhigen, die lauter werdenden Buh-Rufe für kurze Zeit zum Verstummen zu bringen, aber der Abend wird zusehends zum Fiasko. Mit «Ein Pferd kommt in die Bar» beginnt er einen Witz, den er nicht zu Ende erzählt, er hat sich buchstäblich vergaloppiert, verliert dauernd den Faden. Er ist als Comedian am Ende, bei aller Gelenkigkeit ein körperliches Wrack, sein Freund erkennt aber die Sehnsucht, die da aus seinem total missglückten Auftritt mit der schonungslosen Lebensbeichte überdeutlich spricht. Verstörend ist insbesondere die Einbeziehung des Holocausts in seine Erzählung, sein Vater habe ihn als Einziger in der Familie überlebt. Die Mutter wurde hochgradig traumatisiert, weil sie sich in Todesangst ein halbes Jahr lang unter prekären Verhältnissen vor den Nazis verstecken musste. Sie hat sich nie mehr davon erholt, blieb ihr Leben lang schwer davon gezeichnet. Dov wollte sie aufheitern, unterhielt sie mit Späßen und wurde so zum Comedian wider Willen.

Der Erzähler des Romans ist der pensionierte Richter, er schildert die Gratwanderung zwischen mit Witzen gewürzter, oft in Klamauk abgleitender Komik und der Leidensgeschichte, die Dov auf der Bühne, unbeirrt vom Protest des Publikums, trotzig von sich gibt. Von einigen Rückblenden abgesehen ist das der alleinige Erzählstoff des Romans, zu dem sein Autor überraschend angemerkt hat, er selbst sei eigentlich gar kein Freund von Witzen. Lachen und Weinen liegen hier sehr eng beieinander!

Bewertung vom 13.08.2024
Südstern
Staffel, Tim

Südstern


gut

Kreuzberg ist überall

Nach fünfzehn Jahren kehrt der vielseitig schreibende Tim Staffel mit «Südstern» zum Genre Roman zurück, und zwar so überzeugend, dass seine Prosa für die Longlist des Deutschen Buchpreises nominiert wurde. Es ist ein Berlin-Roman, der im Problem-Stadtteil Kreuzberg angesiedelt ist, worauf schon der Titel hinweist, ein Platz in der Hasenheide mit einer U-Bahn-Station. Der Roman bringt dank seines in Berlin lebenden Autors jede Menge Lokalkolorit mit, und zwar aus dem prekären Teil dieser Metropole, nicht aus dem schicken Berlin, wie es die Touristen zu sehen bekommen. Zudem ist er in der Gegenwart, im Hier und Jetzt angesiedelt und spiegelt den ganz normalen Wahnsinn einer aus den Fugen geratenen, überforderten sozialen Schicht wieder.

Der männliche Protagonist dieser Geschichte ist Deniz, ein junger Streifen-Polizist mit türkischen Wurzeln, der aufopferungsvoll seinen an Parkinson erkrankten Vater pflegt. Wegen seiner Geldnöte muss er häufig Doppelschichten machen. Als abgeklärter Streifenführer hat er oft Probleme mit seiner übereifrigen Kollegin, die bei den Einsätzen stur alle Vorschriften befolgt, wo Deniz schon mal ein Auge zudrückt. Weibliche Protagonistin ist die Barfrau Vanessa, die nebenbei als angebliche «Pharmakologin» ihre dankbaren Stammkunden mit Psychopharmaka beliefert, also für ‹Erfolg und Glück› sorgt. Als diese Beiden erstmals aufeinander treffen, springt der berühmte Funke über, sie fühlen sich sofort zueinander hingezogen. Ein Liebesroman à la ‹Romeo und Julia› ist «Südstern» deshalb aber nicht, auch wenn diese Beziehung im Roman wie ein schwach sichtbarer, roter Faden wirkt. In erster Linie haben wir es hier mit einem Gesellschafts-Roman zu tun, der die Frage stellt: Wollen wir, müssen wir wirklich so leben?

Vanessa ist schon länger mit Olli zusammen, einem Bundestags-Abgeordneten, sie teilen sich die Wohnung und sind ein gut harmonierendes Paar. Während sich Olli als Politiker zu profilieren sucht, um aus dem Hinterbänkler-Dasein heraus zu kommen, bewegt sich Vanessa in ihrem eigenen Netzwerk. Dem gehört der Barbesitzer an, für den sie arbeitet, viele der urigen Stammgäste ihrer Bar, natürlich auch ihr meist in Amsterdam lebender Lieferant für die Psychopharmaka. Mit denen versorgt sie Sportler, Politiker, Geschäftsleute, Künstler, kurz Menschen, die dem alltäglichen Druck, dem hastigen Leben der Großstadt, nicht standhalten können. Außerdem begegnet man in diesem literarischen Sittengemälde den typischen Themen im Kiez, berufliche Ausbeutung, Wohnungsnot, häusliche Gewalt, Überforderung, Armut, Drogensucht. Zu dieser Tristesse prekärer Lebensumstände gehören aber auch der Pflegenotstand, der Deniz vor kaum zu bewältigende Probleme mit seinem Vater stellt.

Dieser hochaktuelle Roman berichtet aus der doppelten Ich-Perspektive mit dem jeweiligen Umfeld der beiden Protagonisten. Deren Gemeinsamkeit besteht darin, alltäglich mit prekären Lebens-Umständen konfrontiert zu sein. Vanessa mit dem karriere-bedingten Druck der leistungs-orientierten Gesellschaft, Deniz mit alltäglichem Zoff und seiner manchmal auch kriminellen Klientel im Kiez. Der Autor hat erkennbar intensive Recherchen betrieben, sein schonungsloser Blick offenbart stimmig die schwierigen Schicksale und alltäglichen Probleme seiner Romanfiguren. Trotz aller Härte, trotz der Dissonanzen seiner Thematik ist immer auch Menschlichkeit spürbar. Und selbst wenn die Liebe zwischen seinen beiden Haupt-Figuren eher ein zartes Pflänzchen bleibt, scheint sie doch tief verankert zu sein, so ganz ohne den üblichen Seelen-Kitsch. Die ständigen Perspektiv-Wechsel irritieren häufiger mal, denn das erzählende Ich ist oft nur schwer erkennbar. Erzählt wird in einer intensiven, vorantreibenden Sprache, die Dialoge kommen ohne Satzzeichen aus. Man ist ganz nah dran am Geschehen, und man erkennt: Kreuzberg ist überall!

Bewertung vom 10.08.2024
Monde vor der Landung
Setz, Clemens J.

Monde vor der Landung


weniger gut

Hohlwelt und Hohlkopf

Der durch sein Faible für das Abwegige bekannte Büchner-Preisträger Clemens J. Setz schildert in seinem neuen Roman «Monde vor der Landung» das Leben des Querdenkers Peter Bender, dessen abstruse Theorien in der «Hohlwelt-Theorie» gipfeln. Der 1893 geborene Schriftsteller, Vortragsredner und Religionsgründer war im Ersten Weltkrieg an der Ostfront, wurde verletzt, heiratete eine Krankenschwester und zog mit ihr nach Worms. Lange bevor Donald Trump den sich selbst widersprechenden Begriff der «alternativen Fakten» in sein absurdes Vokabular eingeführt hat, ist der verquere Held dieses Romans jemand, der in seiner Blase lebt und für keinerlei wissenschaftliche Fakten empfänglich ist. Er ist einer, der sich rühmt, Kant widerlegt zu haben, ist selbst aber gegen jede Vernunft immun, bleibt geistig unrettbar in seinem Kokon gefangen. Mit Hohlwelt und Hohlkopf bringt man es auf den Punkt!

Peter Benden fühlt sich als Schriftsteller, sein einziger Roman, «Karl Tormann – Ein rheinischer Mensch unserer Zeit», wurde aber kaum verkauft, und seither beschränkt sich sein literarisches Tun auf Flugblätter. Außerdem unterhält er eine lebhafte Korrespondenz mit den wenigen Mitstreitern, die es für die «Hohlwelt-Theorie» gibt, über die er in seinen Vorträgen spricht. Sie basiert auf der Gedankenwelt von Cyrus Reed Teed, der sich «Koresh» Teed nannte, dem Gründer der «Koreshan Unity», einer in Florida ansässigen, religiösen Sekte, zu der Bender einen regen Briefkontakt pflegt. Deren zu Lebzeiten von Koresh etwa 4000 Anhänger waren überzeugt, die Welt ist nicht eine Kugel, «auf» der wir leben, sondern eine, «in» der wir leben. Sie sei auf der Innenwand bevölkert, und alle Himmelskörper, die wir sehen, seien in der Mitte platziert. Man würde viel Zeit und Geld sparen können, wenn man irgendwann quer durch die Hohlwelt reist und nicht den Umweg an der Außenhaut entlang nehmen muss. Folglich gründet Bender mit zwei Mitstreitern schon mal die «Wormser kosmologische Vertikalreise-Gesellschaft».

Er ist auch politisch aktiv und beteiligt sich 1918 an der Gründung des «Wormser Arbeiter- und Soldatenrats». Ein Jahr später gründet er die Religions-Gemeinschaft «Wormser Menschengemeinde», wird wegen Gotteslästerung angezeigt und zu sechs Wochen Gefängnis verurteilt, später landet er sogar für kurze Zeit im Irrenhaus. Mit einer abstrusen, durch ein Kreuz symbolisierten «Doppel-Paar-Theorie» handelt er sich auch noch eine Klage wegen Verbreitung unzüchtiger Schriften ein. ‹Eigene Gedanken wagen› ist Peter Benders Credo, schon beim Militär hat er einen Kameraden zu überzeugen versucht, dass die Überlebenschance bei einem Gasangriff mit Maske geringer sei als ohne Gasmaske. Ähnliches haben die Querdenker und Impfgegner unserer Zeit bei Corona ja auch behauptet, oder etwa nicht? Anfangs ihrer Ehe können die Benders von einer stattlichen Mitgift leben, seine Einkünfte als Vortragsredner hingegen sind kümmerlich. Durch Weltwirtschaftskrise und galoppierende Inflation ist die Mitgift dann aber bald aufgebraucht, sie kommen in finanzielle Nöte und müssen Beide Nachhilfestunden geben, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten.

Die Romanfigur Peter Bender ist ein weltfremder Spinner, ein Möchtegern, der davon überzeugt ist, das «Majorat des Geistes» sei in ihm verkörpert, er sei im übrigen auch der legitime Nachfolger des «Koresh» und damit Führer der «Koreshan Unity». Auffallend ist die fehlende Distanz des Autors zur Romanfigur, erzählt wird das alles nämlich ohne jede ironische Brechung, die hier doch wahrlich angesagt wäre! Bender wird stattdessen geradezu liebevoll behandelt, obwohl er menschlich recht unsympathisch wirkt, ein Egomane, untreuer Ehemann, desinteressierter Vater, eine verkrachte Existenz also auch in emotionaler Hinsicht. So ausufernd, wie der Plot angelegt ist, werden insbesondere die ‹spinnerten› Passagen durch ständige Wiederholung schnell langweilig, ja geradezu lästig beim Lesen. Einzig erfreulich ist die stilistische Seite dieses Romans, er ist angenehm lesbar, sprachlich virtuos und wortgewaltig.

Bewertung vom 06.08.2024
Laufendes Verfahren
Röggla, Kathrin

Laufendes Verfahren


gut

Die Beobachter-Clique auf der Empore

Selten ist sich das Feuilleton so uneins wie bei der Beurteilung des Romans «Laufendes Verfahren» von Kathrin Röggla, und ähnlich zwiespältig ist auch das Echo aus Leser-Kreisen. Es handelt sich, worauf ja schon der Titel hindeutet, um eine Geschichte aus dem Gerichtssaal, hier dem Saal A101 des Münchner Oberlandesgerichts. In dem wurde vor dem 6. Strafsenat an 438 Verhandlungstagen der NSU-Prozess abgehalten, eines der spektakulärsten Gerichtsverfahren in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Es ging, soviel sei angemerkt, um neunfachen Mord an Migranten, dem Mord an einer Polizistin, 43 Mordversuchen, um 2 Sprengstoffanschläge und um 15 Raubüberfälle, verübt von der Terrorgruppe National-Sozialistischer Untergrund. Kann man auf knapp 200 Seiten einen Roman über einen solch monströsen Kriminalprozess schreiben?

Man kann! Wenn man sich, wie die Autorin das tut, dem Verfahren konsequent aus einer ganz bestimmten Sichtweise widmet, der jener Prozess-Beobachter nämlich, die in München auf der Empore sitzen. Erzählt wird aus einer Wir-Perspektive im Futur II, bei der die Autorin eben gerade nicht im Pluralis Majestatis spricht, wie vielfach fälschlich behauptet wurde. Ihr geht es dabei um die Vermutungen ihrer bunt zusammen-gewürfelten Beobachter-Clique über das zu erwartende juristische Prozedere und das bekanntermaßen oft groteske Hickhack zwischen den Prozess-Beteiligten. Ebenso konsequent werden auch keine Namen genannt in diesem Roman, es gibt den «Vorsitzenden», die «Beisitzer», die «Staatsanwälte», die «Verteidiger», die «Anwälte der Nebenanklage», die «Zeugen». Einzig der Opfer ist im Nachspann des Romans ein namentliches Gedenken gewidmet. Auch für ihre Beobachter hat die Autorin übrigens keine Namen. Sie heißen, entsprechend ihrer Rolle in den Gesprächen unter sich und nach dem wenigen, was man von ihnen weiß, immer nur «Gerichtsopa», «Bloggerklaus», «Omagegenrechts», «O-Ton-Jurist», «Vornamenyildiz», «Die Frau von der türkischen Botschaft». Damit gelingt es der Autorin auf eine raffinierte Weise, ganz verschiedene Typisierungen vorzunehmen, ohne jede einzelne ihrer Figuren psychologisch determiniert zu beschreiben. Sie benutzt dazu vielmehr sehr geschickt ihre verbalen Geplänkel, ihre selbstgespräch-artigen Monologe, ihre gegenseitigen Belehrungen. Aus denen sich übrigens das erzählende Ich komplett heraushält, - es berichtet nur.

Natürlich ist es unmöglich, in einem kurzen Roman wie diesem die hanebüchenen Fehler und unverzeihlichen Versäumnisse bei der Aufklärung der Verbrechen gebührend abzuhandeln. Und auch die juristische Aufarbeitung solch terroristischer, fremden-feindlicher Straftaten kann allenfalls angedeutet werden. Die ganze Thematik ist hier komplett auf die Instanz der Beobachter verlagert, die sich auch über das Ungesagte im Prozessverlauf untereinander austauschen. Die da zum Beispiel über das beredte Schweigen der weiblichen Angeklagten diskutieren, was sie denn auch für einen von den Verteidigern ausgeheckten Verfahrenskniff halten. So ganz nebenbei erfährt man durch all diese Erörterungen ein wenig darüber, wie es in derartigen Strafprozessen zugeht. Dass die engagierten Dispute der Empore-Clique oft auch ausgesprochen komische Züge annehmen, das bewahrt den Roman übrigens davor, nur eine staubtrockene Lektüre aus dem Gerichtsmilieu zu sein.

Trotz aller Vereinfachungen steht die Dokumentation des Prozesses in diesem Roman stets im Vordergrund, auch wenn das durch die unkonventionelle Erzähl-Perspektive nicht erkennbar vorgegeben zu seien scheint. Dieser Chor der Erinnyen, verkörpert durch die Beobachter-Clique auf der Empore, die Stimme des Volkes quasi, kommentiert und bewertet teilweise durchaus kompetent, was sich da abspielt in diesem denkwürdigen Mammut-Prozess. Und dass dabei die Gräuel der Taten, die Trauer der Hinterbliebenen, das Versagen der Polizei, die Rolle des Verfassungs-Schutzes weitgehend außen vor bleiben, das kann einem fiktivem, literarischem Werk wie diesem wahrlich nicht angekreidet werden!