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nessabo

Bewertungen

Insgesamt 103 Bewertungen
Bewertung vom 06.10.2024
9 Grad
Kolb, Elli

9 Grad


ausgezeichnet

Eine Umarmung von Buch mit toller Tiefe

Was für ein großartiger, warmer und tiefgründiger Debütroman! Er hat mich schon vom Klappentext her angesprochen und obwohl oder gerade weil es um so viel mehr geht als um Eisbaden, habe ich ihn unglaublich gern gelesen.

Ein Kernelement des Romans ist die Freund*innenschaft zwischen Josie, Rena und Anton, welche für sich stehend schon absolut wholesome ist. Die drei akzeptieren sich in ihren Unterschieden, sind einander absolut loyal und sprechen einfach über Konflikte. Und auch die Figuren selbst, später ergänzt um Lee, sind divers, authentisch und enorm vielschichtig.

Die übergeordneten Gegensätze im Buch sind subtil und bemerkenswert. Während Anton eher unkompliziert im Moment verweilen will und sich als eine eher reservierte Person entpuppt, hat Rena Freude an aufregenden Dingen und führt ihre Freund*innen daher auch an das Eisbaden heran. Die geschilderten Bewusstseinszustände sind für sich genommen schon eindrücklich, doch es geht noch um viel mehr - vor allem für Josie. Die struggelt nämlich mit ihrem Körper und hat gleichzeitig oft das Gefühl, Dinge für andere Menschen tun zu müssen, was sie weiter von ihren eigenen Körperempfindungen entfernt. Besonders Josie hat mich an einem schmerzlichen Punkt getroffen, weshalb ich emotional sehr involviert war. Toll fand ich hierbei auch, dass Elli Kolb den Körper ihrer Protagonistin nicht sonderlich detailliert beschreibt und damit eine Projektionsfläche für viele Menschen bietet. 💚

Rena ereilt im Laufe des Romans ein Schicksal, das die Figur noch einmal von einer ganz anderen Seite darstellt. Das Ende kam mir einen Ticken zu plötzlich, da hätte ich gern noch 30-50 Seiten mehr gelesen. Doch ingesamt habe ich nur Positives zu diesem Roman zu sagen! Es werden so einige Themen behandelt, die gesellschaftlich besonders auch junge Menschen beschäftigen. Ob nun eine allgemeine Kritik am Leistungsdruck oder der überall durchscheinende Sexismus - das Buch schafft es, weder oberflächlich noch erdrückend schwer zu sein. Ein besonderes Lob möchte ich für die authentische Darstellung von Depressionen aussprechen, auch wenn mir da Triggerwarnungen phasenweise lieb gewesen wären.

Ein Buch für alle, die vielleicht auch um ein Zurückfinden in die eigene Körperlichkeit kämpfen und weg wollen vom ständigen externen Blick. Ganz toll, eine Leseempfehlung von Herzen! 🫶🏻

Bewertung vom 01.10.2024
Das Comeback
Berman, Ella

Das Comeback


sehr gut

Erschütternd, anspruchsvoll und so wichtig

Ein #MeToo-Buch, das sprachlich leicht zu lesen und inhaltlich schwer zu verdauen ist.

Grace ist ein mittlerweile erwachsener Kinderstar in Hollywood. Kurz vor einer Preisverleihung verschwindet sie und kommt bei ihren Eltern unter. Nach einem Jahr geht sie zurück nach L.A. und konfrontiert sich mit ihrer Vergangenheit.

Die Protagonistin ist nicht unbedingt sympathisch, trifft schlechte Entscheidungen, schlägt Hilfe aus und ist abweisend oder sogar manipulativ ihrem Umfeld gegenüber. Das fordert uns als Leser*innen natürlich heraus und genau das soll es auch: Empfinden wir Mitgefühl mit allen Überlebenden von Missbrauch oder unterscheiden wir in Abhängigkeit davon, wie „gut“ das Opfer ist?

Ich fand genau das zwar manchmal auch anstrengend, weil ich Grace emotional nicht so oft greifen konnte. Aber grundsätzlich liebe ich diese Wahl der Autorin, denn unser Mitgefühl darf sich vom Charakter des Opfers nicht beeinflussen lassen. Sprachlich ist das Buch zugänglich gehalten, ich fand jedoch auch, dass es im ersten Drittel ein paar Längen hatte. Vielleicht war das aber auch den Rückblenden und dem allgemeinen Kennenlernen der komplexen Hauptfigur geschuldet. Ab der Hälfte zieht das Tempo des Buches merklich an.

Das Thema des Romans hat nichts an Wichtigkeit verloren und ist keine leichte Kost. Obwohl die Missbrauchsszenen eher sporadisch erzählt werden, war meine Stimmung vor allem gedrückt. Die Autorin begann mit dem Schreiben vor der Aufdeckung des strukturellen Missbrauchs in Hollywood. Sie entschied sich, die Handlung des kompletten Romans im Davor zu belassen. Deshalb sieht sich Grace nicht nur mit ihrem Trauma, sondern auch mit einem fehlenden gesellschaftlichen Rückhalt konfrontiert. Das ist mehr als bitter, doch trotz aller Schwere hat das Buch seine starken Elemente, weshalb ich ihm viele Lesenden wünsche!

Lest dieses Buch, wenn ihr euch für komplexe Figuren, die Machtdynamiken an Filmsets und ganz allgemein für die Mechanismen hinter einem Karriereaufbau interessiert.

Und für immer und konsequent: Glaubt Überlebenden! 🤍

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Triggerwarnungen:
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emotionaler und 6ueller Missbrauch, Machtmissbrauch, Drogenmissbrauch, versuchter Suizid, Mobbing, Unfall

Bewertung vom 24.09.2024
Verlassene Nester
Hempel, Patricia

Verlassene Nester


weniger gut

Eine distanzierte Geschichte mit unausgeschöpftem Potenzial

Ich war als im Osten geborenes Nachwendekind mit bislang wenigen Erzählungen aus meiner Familie neugierig auf das Setting des Romans. Doch mein Wunsch nach einem tieferen Einblick in die Gefühle der Menschen in den Jahre nach der Wende konnte leider nicht erfüllt werden.

Was der Autorin gut gelungen ist, ist eine greifbare Darstellung der trostlosen, in gewisser Hinsicht hoffnungslosen Atmosphäre. Ich habe vielleicht zum ersten Mal in meinem Leben realisiert, dass die Wende viel zu wenig eine Kompromisssuche zwischen den beiden Staaten war und dass es eine solche hätte sein müssen, um wirklich ein geeintes Land herauszubekommen. Durch die Lektüre habe ich Lust bekommen, das Gespräch mit ehemaligen DDR-Bürger*innen zu suchen und das ist eindeutig ein Pluspunkt.

Doch es gibt für mich an dem Roman leider zu viel, das mir nicht gefallen hat, weshalb ich ihn nicht so gut bewerten kann. Das trostlose Setting zermürbt nach einer Weile doch recht stark und damit hätte ich vielleicht sogar leben können, wenn ich wenigstens eine emotionale Bindung zu den Figuren hätte aufbauen können. Doch die metaphorische Schreibweise kam mir bis auf wenige Abschnitte ziemlich distanziert vor und es waren für mich auch schlicht zu viele Figuren. Deshalb konnte ich keine so wirklich greifen, die Lektüre blieb eher oberflächlich und zog sich.

Manche Passagen gefielen mir zwar gut, doch insgesamt lässt mich das Buch eher unzufrieden zurück und wird nicht lange in mir nachhallen. Dafür wurden mir auch zu viele Handlungsstränge offen bzw. fallen gelassen und ich hatte den Eindruck, dass sich die Autorin bei all den angesprochenen Themen ein wenig verzettelt hat. Und dabei waren sie doch so wichtig, etwa die Vermittlung des stärker werdenden Rassismus innerhalb der Gesellschaft oder die ersten (queeren) Beziehungen in der Jugend. Für das Verständnis der Zwischentöne war zum Teil recht viel Vorwissen vonnöten, was das Lesen zusätzlich erschwert hat. Zudem fand ich, dass die auf dem Klappentext angekündigte Geschichte rund um das Verschwinden von Pillys Mutter einen Hauptfokus vermittelt, dem nicht entsprochen wird.

Dementsprechend kann ich hier im Vergleich zu anderen Büchern nicht aufrunden und auch keine Leseempfehlung aussprechen.

2,5 ⭐️

Bewertung vom 24.09.2024
Okaye Tage
Mustard, Jenny

Okaye Tage


ausgezeichnet

Ein Wohlfühlroman über eine ganz besondere Verbindung

Ich habe „Okaye Tage“ als eine realistische Beziehungsgeschichte unheimlich gern gelesen und bis zum Schluss mit den beiden Figuren mitgefiebert. 🥺

Sam und Luc kennen sich eigentlich schon von früher, begegnen sich aber zwei Jahre später erst so richtig wieder. Da Sam in Stockholm lebt und arbeitet, ist die Beziehung in London auf wenige Wochen befristet. Die beiden sind ziemlich verschieden, passen aber trotzdem oder gerade deshalb richtig gut zueinander. Das hindert weder Luc noch Sam jedoch daran, sich fortlaufend Gedanken über die gemeinsame sowie eigene Zukunft zu machen.

Was hier für mich ganz besonders hervorstach, ist die Liebenswürdigkeit der beiden Protagonist*innen. Jenny Mustard hat es tatsächlich geschafft, nicht nur eine sympathische Frauenfigur, sondern auch eine überaus sensible und nahbare männliche Hauptfigur zu schaffen. Luc widerspricht vielen Vorstellungen hegemonialer Männlichkeit, ohne sich dabei ständig selbst auf die Schulter zu klopfen. Er weint, hinterfragt, ist sensibel und aufmerksam - ich mochte ihn wirklich richtig gerne. 🫶🏻

Auch Sam ist mit ihrer direkten, wohlmeinenden Art authentisch und liebenswert. Deshalb habe ich mich das ganze Buch über in den Perspektiven der beiden einfach nur wohl gefühlt. Der Countdown sorgt für ein unbedingtes Weiterlesen-Wollen und ich kann so viel verraten: Es wird nicht bei einem bleiben. 😉

Hervorheben möchte ich die genderinklusive Schreibweise, die mir beim Eichborn-Verlag nun schon mehrfach positiv aufgefallen ist. Außerdem werden einige gesellschaftspolitische Themen behandelt, von denen ich mich sehr gesehen gefühlt habe. Und ganz besonders warm wurde mein Herz, weil im Buch nicht ständig Tiere gegessen und benutzt werden - eher ganz im Gegenteil. 🥹

Der Roman fühlt sich an wie eine Umarmung, weil er ohne überbordendes Drama auskommt, ohne dabei langweilig zu sein. Ich hätte auch noch 100 weitere Seiten von Sam und Luc lesen können. Meiner Meinung nach perfekt für den Herbst, auch wenn die Geschichte vor allem im Sommer spielt.

Bewertung vom 23.09.2024
Mein Mann
Ventura, Maud

Mein Mann


sehr gut

Zwischen Obsession und Abhängigkeit mit heftigem Pageturner

Zum Hörbuch: Stefanie Wittgenstein hat hier einer so unsympathischen Figur wirklich tadellos ein Profil verliehen. Ich habe dieses Hörbuch mit 1,75-facher Geschwindigkeit gehört und hatte damit ein ganz tolles Hörerlebnis. Sie hat es sogar geschafft, dass ich phasenweise Mitgefühl für die Frau aufbringen konnte. In jedem Fall hörte sich „Mein Mann“ dank der Sprecherin wie ein Rausch. Ein i-Tüpfelchen wäre es noch gewesen, wenn das letzte Kapitel von einem Mann gesprochen worden wäre, da so der Schockmoment noch größer ist. Doch auch so war das für mich ein heftiger Plot-Twist. 😲

Zum Buch selbst: Ich denke, für dieses Buch muss mensch in Stimmung sein und darf auch kein Problem haben, im Kopf einer Figur zu sitzen, deren Gedanken so oft absolut absurd erscheinen. Wenn mensch sich aber in die Geschichte hineinziehen lässt, entwickelt das Werk einen Sog, der irgendwie berauscht.

Die namenlose Frau erzählt von ihrer Obsession, aber auch von ihrer Abhängigkeit, von ihrem Mann, der ebenso namenlos bleibt. Auf repetitive Art und Weise analysiert sie jede noch so kleine Handlung des Ehemannes, hinterfragt seine Liebe und verliert sich in gedanklichen Katastrophenszenarien. Und so übertrieben sie oft auch scheint, konnte ich mich doch trotzdem manchmal in sie einfühlen. Ihre Unsicherheit ist fundamental und phasenweise durchaus nachvollziehbar, die daraus folgenden Taten allerdings weniger. Doch Maud Ventura schaffte es regelmäßig, mich mit einem neuen Gedanken der Frau wieder zurückzuholen. Die idolisiert ihren Mann nämlich einerseits, lässt andererseits aber immer wieder blicken, dass er Einiges an Paternalismus und abstoßender Selbstverständlichkeit zu bieten hat.

Und so schwankte ich im Laufe der Handlung zwischen Fassungslosigkeit, Unverständnis, Wut und Mitgefühl. Ich fand die Hauptfigur auf abschreckende Art faszinierend und konnte nicht mehr aufhören. Vor allem auch deshalb, weil ich zuvor schon von dem krassen Pageturner am Ende gelesen habe. Und ich verrate nicht zu viel, wenn ich sage: Der wird alles zuvor Gedachte komplett erschüttern! 😲🤯

Wenn euch ungewöhnliche Charaktere nicht abschrecken und ihr in einen solchen abtauchen wollt, empfehle ich „Mein Mann“ ganz deutlich. Es ist schon ziemlich abgefahren und muss zur Stimmung passen, daher ziehe ich einen Stern ab. Für das, was es sein soll, finde ich es aber wirklich großartig umgesetzt!

Bewertung vom 20.09.2024
Bevor es geschah
Spierer, Céline

Bevor es geschah


ausgezeichnet

Atemberaubendes und hochkomplexes Familiendrama

[TW: Unfalltod, 6ueller Missbrauch, Krankheit, Krankenhaus, Suizid]

Ich liebe Familiendramen, die aus vielen Perspektiven heraus erzählt werden. Und Céline Spierer hat hier ein besonders atemraubendes Exemplar geliefert.

Die wohlhabende Familie Haynes trifft sich zum Barbecue. Direkt das einleitende Kapitel wirft uns in die Handlung und beschreibt, wie ein noch namenloses Kind in den Pool fällt. Wie genau dieser Zwischenfall ausgeht, wird uns erst ganz am Ende des Buches verraten. Dazwischen gibt es Raum für 250 Seiten voller Familienmitglieder, die nicht wirklich miteinander sprechen.

Dabei sind sich die Geschwister eigentlich wohlgesinnt. Und doch haben alle ein grundlegend falsches Bild voneinander. Da wird hier das Selbstbewusstsein beneidet und dort die pragmatische Gelassenheit. Doch dank der vielen ineinanderfließenden Perspektivwechsel und Zeitsprünge erfahren wir immer auch mindestens eine weitere Sicht.

Nach und nach verwebt die Autorin hier die unabhängig wirkenden Einzelschicksale zu einer fesselnden Familiengeschichte. Dabei hat sie ein großes Talent dafür, ihren Figuren viel Tiefe und Ambivalenz zu verleihen. Keine der Protagonist*innen erschien mir sonderlich sympathisch und doch konnte ich nicht anders, als mit ihnen mitzufühlen. Selbst das kalt wirkende Familienoberhaupt Elisabeth bekommt gegen Ende eine ganz neue Dimension, mit der ich nicht gerechnet habe. Neben Gesellschaftskritik wirft die Geschichte immer wieder Fragen nach der eigenen Verantwortung auf.

Das Buch macht absolut süchtig, wütend und fassungslos. So wenig ich dieses Schweigen im echten Leben mag, so sehr liebe ich es in Büchern. Einen halben Stern ziehe ich ab, weil ein wenig mehr Miteinander schön gewesen wäre und der Fokus auf die Männer noch größer hätte sein dürfen. Davon abgesehen aber ein großartiges Buch mit deutlicher Leseempfehlung von mir!

4,5 ⭐️

Bewertung vom 13.09.2024
Über das Helle
Jaksch, Stefanie

Über das Helle


weniger gut

Zugängliche Gedankensammlung, mir fehlte jedoch die versprochene radikale Zuversicht

Ich habe das Buch im Rahmen einer Leserunde gelesen und deshalb auch beendet. Hätte ich es aufgrund des Titels und Klappentextes gekauft, hätte ich es wohl sehr enttäuscht abgebrochen - so leid mir das tut, denn die Autorin war mir überaus sympathisch.

Stefanie Jaksch schreibt zugänglich und emotional sehr greifbar über die Dinge, die sie in der Welt bewegen. Es sind kleinere und privatere Umstände ebenso wie große globale Krisen. Ich mochte sehr, wie reflektiert und vielseitig Jaksch ihr Buch geschrieben hat.

Trotzdem kann ich nicht mehr als 2 Sterne vergeben, weil meine Erwartungen massiv enttäuscht wurden. Ich dachte, das Buch kommt nach der Landtagswahl hier gerade zur rechten Zeit. Bei mir machte sich viel Hoffnungslosigkeit breit und die radikale Zuversicht, die mir hier angekündigt wurde, hatte ich bitter nötig. Doch stattdessen war der Text vor allem geprägt vom Dunklen in dieser Welt und die wenigen hoffnungsvollen Impulse konnten mich dann schlicht nicht auffangen.

Es tut mir aufrichtig leid, dass ich das hier so hart bewerten muss, denn ich habe mir lange meine Hoffnung in das Buch bewahrt. Ich bleibe aber sehr verloren und bedrückt zurück. Und das habe ich von diesem Text wirklich nicht erwartet. 💔

Bewertung vom 12.09.2024
Gratulieren müsst ihr mir nicht
Polansky, Lilli

Gratulieren müsst ihr mir nicht


ausgezeichnet

Grandioses Debüt, das mir so viel heilsamen Schmerz wie selten beschert hat

[TW: Krankenhaus, Blut, medizinische Eingriffe]

Ich habe die Rezension zu „Gratulieren müsst ihr mir nicht“ lange aufgeschoben, weil ich schlicht nicht weiß, wie ich diesem großartigen Buch gerecht werden soll.

Lilli Polansky hat hier einfach ein Debüt geschrieben, bei dem ich nicht wollte, das es jemals endet. Die Tatsache, dass die Protagonistin den gleichen Namen trägt, und der abschließende Satz ihrer Danksagung lassen darauf schließen, dass es sich hier um ein Werk mit stark biographischen Zügen handelt. Das ändert nichts am Talent der Autorin, erklärt mir aber noch einmal mehr, warum sie so nahbar über diese schier unbegreiflichen Erlebnisse der Hauptfigur schreibt.

Diese bekommt mit Anfang 20 einen Herzschrittmacher eingesetzt. Doch das ist nicht einmal das Schlimmste der Geschichte, denn was medizinisch danach folgt, ist von außen kaum zu begreifen. Die Autorin beschreibt aber nicht nur die Schmerzen und den Kampf zurück ins Leben, sondern ganz besonders auch das Gefühl, sich im eigenen Körper nicht mehr zuhause fühlen zu können. Das Spannungsfeld von „Mein Körper hat mich im Stich gelassen“ und „Er hat mich aber auch im Leben gehalten“ ist unfassbar ergreifend.

Wer jetzt denkt, das Buch sei deshalb schwere Kost und ziehe die Lesenden herunter, irrt. Lilli Polansky schafft es nämlich, durch verschiedene Rückblenden zu einem irgendwie ganz normalen Leben als Kind/Teenager und vor allem dank ihres wirklich tollen Humors, ein heilsames Buch zu schreiben. Heilsam insofern, dass auch Lesende ohne eine schwere Krankheitsgeschichte viel Lebensmut und Sanftheit aus diesem Roman mitnehmen können. Dabei verzichtet Polanski auf Pathos und schafft es mit Leichtigkeit, bei ihrer Leser*innenschaft Mitgefühl zu erzeugen, das jedoch nicht von Schwermut geprägt ist.

Ich war schockiert, ich habe geweint und gelacht, ich wollte noch 1.000 weitere Seiten lesen. Dieses Buch hat eure Aufmerksamkeit verdient und ich wünsche mir ausdrücklich weitere Bücher der Autorin. Eines meiner zwei Jahreshighlights!

Bewertung vom 12.09.2024
Imogen, Obviously
Albertalli, Becky

Imogen, Obviously


ausgezeichnet

Warmherziger, authentischer und tiefgründiger Coming-Of-Age-Roman

[TW: Bi-/Queerfeindlichkeit]

Was für ein unglaublich tolles Buch! Wunderschön geschrieben mit ganz authentischen und liebenswerten Charakteren, mit einem guten Maß an Liebe und wirklich viel Tiefe. 🫶🏻

Imogen dachte immer, sie sei einfach ein großartiger straight Ally für all ihre queeren Freund*innen. Als sie für einige Tage ihre beste Freundin Lili an dem College besucht, auf das sie in einigen Monaten selbst gehen wird, sieht sie sich aber mit der eigenen Identität konfrontiert. Tessa, eine College-Freundin Lilis, scheint nämlich irgendetwas in ihr auszulösen. Aber ist es wirklich Anziehung oder will Imogen es nur wieder allen recht machen und ist deshalb schlicht sehr freundlich?

Imogen bei ihren Struggles zu begleiten, war wirklich nicht leicht und doch auf schmerzhafte Art nachvollziehbar. Obwohl die meisten Charaktere ausdrücklich nicht bi-feindlich sind, sitzen diese Gedanken ganz fest in der Protagonistin selbst. Darf sie sich jetzt wirklich bi nennen, auch wenn sie nur ein einziges Mädchen in ihrem ganzen Leben attraktiv finden sollte? Betreibt sie in irgendeiner Form Queerbaiting?

Ich fand es ganz stark, wie intensiv hier diese Debatte angegangen wurde. Es geht dabei nicht nur um Imogen selbst, sondern zum Beispiel auch um unterstelltes Queerbaiting von Schauspieler*innen. Wozu das führen kann, haben wir in unserer echten Welt am öffentlich erzwungenen Coming-Out von Kit Connor gesehen. Die Ängste queerer Menschen vor einem Ausnutzen gewisser Spaces durch nicht-queere Menschen werden thematisiert und ernst genommen. Trotzdem darf es nicht dazu führen, dass Personen sich ein Label geben oder outen müssen. Das vermittelt dieser tolle YA-Roman dank einer wirklich zugänglichen Sprache eindrücklich.

Positiv fand ich außerdem, dass die "böse" Figur der Handlung nicht als eindeutig gemein gezeichnet wurde, sondern in sich ambivalent war. Ich fand die Figur wirklich sehr verletzend, aber es wirkte nicht überzeichnet.
Absolute Empfehlung für alle - ob YA oder älter. Bi-Feindlichkeit ist total komplex und dabei so präsent in uns allen. Ich hoffe, es wird noch viel mehr Repräsentation geben. You are valid. 🩷💜💙

Bewertung vom 10.09.2024
Kleine Monster
Lind, Jessica

Kleine Monster


sehr gut

Ein atemraubender, psychisch herausfordernder Roman

[TW: Kindstod, Gewalt gegen Kinder, Tierquälerei (kurz)]


„Kleine Monster“ fordert seine Leser*innen. Er erwartet von ihnen, dass sie Leerstellen und extrem ambivalente Charaktere aushalten können.

Der Roman beginnt mit einem Aufhänger, der fairerweise auch nur genau das ist: ein Aufhänger für ein viel tieferliegendes Problem. Am Anfang steht ein Vorfall an der Schule, in den der siebenjährige Luca verwickelt ist. Was genau hat er getan und warum? Seine Mutter Pia möchte es herausfinden und beginnt, das Vertrauen zwischen ihr und ihrem Sohn sowie ihr Kind selbst zunehmend infrage zu stellen. Im Laufe der Handlung taucht die Autorin in ganz kurzen Kapiteln, die stets aus der Sicht von Pia erzählt werden, immer mehr in die Hintergrundgeschichte der Protagonistin ein. Diese ist geprägt von dem furchtbaren Verlust der kleinen Schwester, dem mangelnden Umgang der Eltern mit diesem und einer großen Schuldfrage. Hat Adoptivschwester Romi etwas mit dem Tod zu tun? Inwieweit täuschen die Erinnerungen an ihre Kindheit? Und an welchen Stellen geht es gar nicht um Lucas Verhalten, sondern um Romi?

Jessica Lind spielt in einem extremen Ausmaß mit Leerstellen und Subtext. Auf halbem Wege war ich mir unsicher, ob es mir zu viel Ungesagtes ist. Das letzte Drittel war dann aber wie ein Rausch und mir persönlich hat Pias Entwicklung hier sehr gut gefallen. Sie befindet sich in einem dauerhaften Spannungsfeld zwischen ihrem eigenen unbearbeiteten transgenerationalen Trauma und gesellschaftlichen Erwartungen an Eltern- bzw. konkret Mutterschaft.

Die Vorfälle werden nicht bis ins letzte Detail geklärt und waren für mich doch abgeschlossen. Wahrscheinlich kommt es darauf an, inwieweit mensch den Figuren am Ende Glauben schenkt. Pia zeigt an einigen Stellen ein teilweise gewaltvolles, übergriffiges Verhalten ihrem Sohn gegenüber. Das ist wirklich hart, wird aber auch nicht beschönigt. Ich finde es so erschreckend wie spannend, dass Traumata generationsübergreifend so weitergegeben werden können und habe Pia gern zu Beginn ihrer Aufarbeitung begleitet.

Der Roman ist voller Tempo und hat teils thrillerhafte Züge, die mich mit angehaltenem Atem haben lesen lassen. Ein Buch, das sich gut in einem Zug lesen lässt, welches Aufmerksamkeit fordert und für mich im Ganzen herausfordernd war, aber trotzdem rund.