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ins_lebenlesen
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Schleswig-Holstein

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Insgesamt 66 Bewertungen
Bewertung vom 30.11.2023
Die Zeit der Verluste
Schreiber, Daniel

Die Zeit der Verluste


ausgezeichnet

„Es gibt wenig menschlichere Regungen als die Traurigkeit der Trauer, doch sie zuzulassen, sie zu akzeptieren und sie zum Ausdruck zu bringen, erforderte an jenem Tag mehr Mut, als ich aufbringen konnte.“ S. 83

Im Gespräch, dem ich am Sonntag in Hamburg mit Daniel Schreiber lauschen durfte, sucht er auf die Frage, ob man Trauer trainieren könne wie einen Muskel nach einem anderen Bild. Er fühle da keinen Muskel, sondern er sähe unseren Körper als ein dehnbares Gefäß, das sich im Laufe des Lebens mit immer mehr Verlusten füllen und wachsen würde. Wie gern versuchen wir Trauer auszublenden, uns abzulenken, auszuweichen, so schnell wie möglich wieder zum Alltag überzugehen.

Doch Trauer ist nichts, das man irgendwann, nach Wochen, Monaten oder einem Jahr abschließen kann. Trauer wird uns immer wieder ergreifen. Jeder neue Verlust, sei es der eines geliebten Menschen – wie in seinem Fall der des Vaters -, eines Lebenstraums oder eines kollektiven Gutes, bringt uns wieder in Verbindung mit der Summe unserer Verluste. Bestenfalls lernen wir das zu akzeptieren.

„Trauer ist immer eine Erfahrung von Endgültigkeit. Vielleicht liegt darin neben dem Schmerz auch eine merkwürde Form von Trost: mit Tod und Vergänglichkeit lässt sich nicht verhandeln.“ S. 32

Daniel Schreiber wählt für seine Betrachtung die Form des Persönlichen Essays. Er verbindet autobiografische Erfahrungen und einen Tag im nebelverhangenen Venedig fließend mit wissenschaftlichen, philosophischen, psychologischen Erkenntnissen und Gedanken über Kunst und Malerei und schafft einen Resonanzkörper, der unweigerlich eigene Erinnerungen zum Schwingen bringt, eigenes Reflektieren in Gang setzt und einen Bogen schlägt zum kollektiven Umgang mit Verlusten von Sicherheiten und Gewissheiten.
Wir begleiten ihn auf einem Streifzug durch Venedig, durch die schon seit Jahrhunderten totgesagte Stadt, die es doch schafft, sich immer wieder zu erneuern, deren morsche Pfähle immer wieder ausgetauscht werden, die immer neue Wege findet, dem Untergang zu trotzen. Wir mäandern mit ihm über Brücken, Kanäle, durch Museen, über den alten evangelischen Friedhof, durch die Werke von Freud, Derrida, Didion, Barthes und vieler anderer, genießen die kulinarischen und kulturellen Köstlichkeiten der Stadt und bekommen der Trauer auch immer wieder Freude und Hoffnung entgegengesetzt.

„Ich kann nicht glauben, wie schön, wie unglaubliche schön diese Welt, in der wir leben, sein kann, und wünsche mir, wenigstens die Fähigkeit, das zu sehen, nie zu verlieren.“ S. 42
Ich könnte Daniel Schreiber ewig zuhören, sowohl seinem geschriebenen als auch seinem gesprochenen Wort. Wie er da mit einer wahnsinnig feinfühligen Präsenz auf der Bühne sitzt, mit seiner sanften Stimme, überlegte kluge und immer stimmige Worte aus sich herauswringt, ist es undenkbar, Autor und Werk zu trennen. Er verkörpert, was er schreibt, und schreibt, was er verkörpert, und bleibt gleichzeitig auf einer analytischen Metaebene. Seine Worte berühren und schwingen nach. Die Seiten meines Buches kleben voller Zettel, viele Zeilen tragen Unterstreichungen.

Ich könnte nicht anders enden als mit den Worten von Fatma Aydemir: „Wer ein Buch von Daniel Schreiber liest, blickt danach anders aufs eigene Leben.“

In wenigen Tagen wird übrigens auch das von ihm eingesprochene Hörbuch erscheinen, ich empfehle von Herzen ihm zuzuhören.

Bewertung vom 26.11.2023
Marschlande
Kubsova, Jarka

Marschlande


gut

Wenn ich könnte, würde ich 3,5 Sterne vergeben, zwischen gut und sehr gut:

Dieses Buch hat es mir nicht so einfach gemacht, wie ich dachte: Ochsenwerder, ein ländlicher Stadtteil in den Vier- und Marschlanden vor den Toren Hamburgs im ausgehenden Mittelalter ist Schauplatz der Geschichte von Abelke, einer Bäuerin, die den Hof der Eltern erfolgreich weiterführt, als Frau allein, unverheiratet, ohne den Schutz und die Unterstützung eines Mannes, einer Familie. Sie kämpft, hat ein feines Gespür für die Natur, die Menschen und Stimmungen, die sie umgeben, trifft die richtigen Entscheidungen, hat ihren eigenen Kopf, den sie durchsetzt und doch verliert sie nach der vernichtenden Allerheiligenflut von 1570 unter dem gebrochenen Elbdeich fast alles. Und wieder kämpft sie – vor allem mit den von Neid und Gier besessenen Männern, die in jener Zeit an der Macht sind. Am Ende stirbt sie als Hexe auf dem Scheiterhaufen.

Jarka Kubsova erzählt diese auf wahren Begebenheiten basierende Geschichte der Abelke Bleken sehr lebendig und bildgewaltig. Nach wenigen Seiten bin ich drin in der im Nebel liegenden weidenbestandenen Landschaft hinterm Deich, erlebe die Mühen der Landwirtschaft des Mittelalters, spüre die verschlossenen, durchs Leben gehärteten Figuren um mich. Die sehr gründlich recherchierten historischen Fakten finde ich geschickt in die fiktive Handlung integriert, die Geschichte interessiert und packt mich.

Doch Jarka Kubsova will keinen historischen Roman erzählen, sondern eine Brücke in die heutige Gesellschaft schlagen. Hierfür erschafft sie Britta, die sich knapp 500 Jahre später mit Anfang 40 plötzlich in einem Leben wiederfindet, das sie nie gewollt hat: in einem Vorort von Hamburg, mit einem Ehemann, der sie mit Haushalt und Kinderbetreuung allein lässt, dessen Traum vom Eigenheim auf dem Lande sich als ihr Albtraum entpuppt.

Mit einem Teilzeitjob, in dem sie nur einen Bruchteil ihres intellektuellen Potenzials entfalten kann, mit einer schrecklichen Schwiegermutter und einem jährlichen alkoholschwangeren Wellness-Wochenende mit der besten Freundin. Kubsova verwebt beide Geschichten miteinander, erzählt sie aus immer abwechselnden Perspektiven.
Und das ist mein Problem. Britta passte für mich so gar nicht zu der Geschichte von Abelke, ging mir nach kurzer Zeit auf die Nerven und hat meinen Lesefluss gestört. Vielleicht hat sie ein oder zwei Klischees zu viel aufgeladen bekommen, vielleicht hat sie ein oder zwei Mal zu viel über ihr furchtbares Schicksal gejammert, während Abelke parallel nicht nur um ihre Existenz, sondern auch um ihr Leben kämpfen musste. Um den Bogen zu unserer heutigen Gesellschaft zu schlagen und zu erkennen, wie viel sich verändert hat und doch auch wie wenig, hätte ICH Britta nicht gebraucht, denn das erzählt Abelkes Geschichte implizit auf sehr gewaltige Weise.
Eine gelungene und für mich versöhnliche Abrundung findet sich im Nachwort, das die Tatsachen und historischen Hintergründe des Lebens der Abelke Bleken und ihrer MitstreiterInnen vertieft. Sehr interessant dazu ist auch der Instagram-Auftritt von Jarka_Kubsova . Unter dem Stichwort Recherche Review erfährt man weitere interessante Details hierzu.

Für mich war die Begegnung mit Abelke unvergesslich. Und ich bin dankbar für den inneren und äußeren Austausch, den dieses Buch angeregt hat.

Bewertung vom 24.11.2023
Der Schlafwagendiener
Mayr, Suzette

Der Schlafwagendiener


ausgezeichnet

Baxter möchte Zahnarzt werden. Nichts mehr als das. Um das Geld für das Studium zusammenzusparen, arbeitet er bei einer kanadischen Eisenbahngesellschaft. Es ist 1929 und er ist Schwarz und Homosexuell. Und Schlafwagendiener. Die unterste Stufe der gesellschaftlichen Hierarchieleiter. Und so existiert er zwischen verwöhnten Reichen und Möchtegernberühmtheiten und ihren Koffern, Taschen, Kleidern und Schuhen, zwischen ihren Gerüchen, ungepflegten schiefen Zähnen, zwischen ihren verbalen Belanglosigkeiten oder Beleidigungen fast unbemerkt, mit dem Selbstverständnis eines Gebrauchsgegenstandes.

Er putzt Schuhe, Kojen und Toiletten, hält Leitern und Stufen, hievt Koffer rauf und runter, hat ein Ohr für diesen und eine Geschichte für jenen und nachts rennt er zwischen betrunkenen Fahrgästen, die ihr Bett, Schlaftrunkenen, die die Toilette suchen und den Abteilen schlafender Kollegen hin und her, während er selbst nur „mohnsamengroße“ Portionen Schlaf sammelt, mit bleiernen Augenlidern und immer mehr halluzinierend zwischen Wachen und Träumen dem nächsten Tag entgegenfährt. „In seinem Hirn surrt und qualmt das Räderwerk des Schlafs.“

Ich bin von dieser tragisch-komischen schlaksigen rastlosen Figur hingerissen. Erzählt wird dieses Gesellschaftspanorama aus Baxters Perspektive. Ohne selbst Grundbedürfnisse wie Essen und Schlaf befriedigen zu können, balanciert er auf dem Drahtseil heilloser Überforderung und perfekt organisierter Betriebsamkeit mit seinen übernächtigten wirren Gedanken durch die Geschichte. Über seinen Galgenhumor, mit dem er seine Umgebung kommentiert, mit dem er den Passagieren Namen wie Pappe und Papier, Mango, Spinne, je nach ihrem Äußeren gibt, Zähne analysiert, die bei den widerlichsten Menschen am ungepflegtesten sind, muss ich oft schmunzeln. Ich renne mich mit ihm müde und verzweifle ob der vermeintlichen Sinnlosigkeit seines Tuns, bange mit ihm um Strafpunkte, für die kleinsten Vergehen, an denen er keine Schuld trägt.
Und so rolle ich in diesem „Luxusgefängnis“ durch ein Panorama der menschlichen Gesellschaft, in der es die gibt, die oben sind und die Regeln bestimmen und die, die unten, um Unsichtbarkeit bemüht versuchen, ihren Tritten auszuweichen. Alles hat so seine Ordnung, solange der Zug rollt und niemand diese Ordnung in Frage stellt.

Unterhaltsam, humorvoll, tiefgründig, antirassistisch, antidiskriminierend, treibend, sprachlich originell, liebevoll, so vieles ist diese Reise durch Kanada mit Baxter. Suzette Mayr ist zu Recht für dieses Buch mit dem renommiertesten kanadischen Literaturpreis, dem Giller Prize ausgezeichnet worden. Auch Anne Emmert hätte für die Übersetzung dieses sprachlichen Feuerwerks einen Preis verdient. Ein Buch, das mir in Erinnerung bleiben wird.

Bewertung vom 21.11.2023
Entzwei
Gelsing, Sabine

Entzwei


ausgezeichnet

„Helene würde gerne das erzählen, was man immer wieder über getrennte Zwillinge hört, würde gerne von einem unsichtbaren Band berichten, das zwar zart, aber allgegenwärtig war, sodass sie sich ihr ganzes Leben lang unvollständig gefühlt hat. Sie würde es so gerne fühlen. Aber sie kann das nicht behaupten. Entzwei fühlt sie sich erst seit einigen Tagen.“ (S. 146)

1949 ein Dorf irgendwo in Deutschland. Gefallene Väter, vom Mund abgespartes kleines Glück, tradierte Werte, wenig Gesagtes, viel Verdrängtes. Franz führt den Hof seit dem Tod seines Vaters unter dem wachsamen Auge der Mutter. Sie wartet auf die richtige Frau für ihn, die vor allem aber auch IHREN Vorstellungen entsprechen soll. Das ist ganz bestimmt nicht Elisabeth, die in der Dorfkneipe bedient, ihren eigenen Kopf hat und von einer Zukunft als Künstlerin in der Stadt träumt. Franz liebt Elisabeth, doch auch für ihn bedeutet Liebe Heirat und ein gemeinsames Leben auf dem Hof. Als Elisabeth schwanger wird, treffen alle Drei Entscheidungen, die dem Leben der in Elisabeth heranwachsenden Zwillinge eine dramatische Wendung verleihen. Sie werden bei der Geburt getrennt, Helene bleibt in der Obhut der Familie, Alma wird in einem katholischen Kinderheim aufwachsen.

Fassungslos erleben wir ein dunkles Kapitel deutscher Nachkriegsgeschichte, die sogenannte „Fürsorge-Erziehung" in häufig von katholischen Nonnen geführten Kinderheimen. Vor allem „uneheliche“ Kinder „gefallener Mädchen“ werden hier mit Zucht und Ordnung und harter Arbeit für ihr Kindsein bestraft, jeglicher Würde und ihrer Rechte auf Entfaltung der Persönlichkeit beraubt. Wir erleben wie sie in dieser Kälte, Gewalt und Lieblosigkeit selbst verrohen und zu Täterinnen werden, obwohl sie sich eigentlich nur nach Liebe und Zuwendung sehnen.
Auf mehreren Zeitebenen über drei Generationen und aus jeweils unterschiedlichen Perspektiven begibt sich Sabine Gelsing in ihrem Debüt auf Spurensuche und gräbt nach den Motiven der ProtagonistInnen. Auf nur 200 Seiten, in einer dichten Sprache und mit pointierten Dialogen bringt sie uns nah heran. Wie konnte es zu den Entscheidungen kommen? Und wie lebt es sich damit? Kann es irgendwann Versöhnung geben? Die Perspektivwechsel und eine sprachliche Leichtigkeit geben der spannenden feinfühlig erzählten Geschichte etwas Versöhnliches und lassen sie mich trotz des schweren Themas mit Spannung und Freude lesen.

Ich wäre gern noch weiter gegangen. Hätte gern verstanden, wie ein Teil der Gesellschaft so mit Kindern umgehen konnte, welche Wut, welche Ängste, welches Menschenbild dahintersteckten. In Deutschland begann sich erst in den 60er Jahren mit der Entwicklung der Reformpädagogik eine Diskussion um Kinderrechte und Kinderschutz zu entwickeln, die bis zum heutigen Tage nicht abgeschlossen ist.

Bewertung vom 15.11.2023
Mahtab
Djafari, Nassir

Mahtab


ausgezeichnet

Frankfurt, 1967. Nassir Djafari erzählt die Geschichte einer Familie aus dem Iran, die in den 50er Jahren nach Deutschland kommt und in deren Mittelpunkt Mahtab, die Frau von Amin und Mutter dreier Kinder steht. Das jüngste 10jährige Kind ist bereits in Deutschland geboren. Die älteste ist im Iran aufgewachsen und mittlerweile volljährig.

10 Jahre lang schien alles gut zu gehen, Mathab geht arbeiten und lernt Auto fahren, ihr Mann gewährt ihr Freiheiten, die sich in Deutschland die Frauenbewegung erst beginnt zu erkämpfen. Doch mit den politischen Unruhen der späten 60er Jahre, beginnen auch Mahtab die Dinge zu entgleiten und ihre trotz allem von traditionellen Werten geprägte Welt zu bröckeln. Die Tochter trägt plötzlich Mini, nimmt die Pille und scheint an Studentendemonstrationen gegen den Vietnamkrieg teilzunehmen. Die Jungs entziehen sich ihrer Erziehung. Amin, der selbstständig und souverän sein kleines Geschäft führt, scheint eine Affäre mit einer blonden jüngeren Kollegin zu haben, während Mahtab sich in langen Röcken, gesenktem Blick und Tschador am sichersten fühlt und den Avancen eines Kollegen aus dem Wege geht. Plötzlich scheint sie die Einzige zu sein, die sich den Traditionen ihrer Kultur verpflichtet fühlt, während der Rest der Familie dem westlichen Lebensstil verfällt und seinen neuen Idealen nacheifert.

Sie muss sich entscheiden, muss ihren Weg zwischen Tradition und Moderne, zwischen dem Iran und dem aufbrechenden Deutschland der 68er und vor allem Heimat in sich selbst finden.

Lange habe ich die die Essenz des Romans nicht gesehen, sondern bin einfach der gut erzählten wendungsreichen Geschichte gefolgt. Die Botschaft liegt eher in den Zwischentönen, den Widersprüchen, die sich in mir auch gegenüber Mahtab auftun. In der Zeit- und Raumlosigkeit, die ich immer mehr wahrnehme.

Es ist für mich ein typischer Roman der vom Verlag vertretenen „Luftwurzelliteratur“, die den „bereichernden Aspekt des Exils in den Vordergrund stellt. Nicht der wehmütige Blick in die Heimat und Klagen stehen im Fokus, sondern die persönliche Erfahrungsschilderung des Lebens in unterschiedlichen Kulturen. Luftwurzeln halten sich nicht an Grenzen, sondern wachsen über sie hinaus.“ (Verlags-Homepage)

Diese Philosophie des Sujet Verlags hat mich gefangen genommen und ich habe das Bedürfnis dem nachzugehen. Der Roman von Nassir Djafari ist ein exzellentes Beispiel dafür und eine große Empfehlung für alle, die sich mit dieser Literatur auseinandersetzen mögen.

Bewertung vom 12.11.2023
Kleine Kratzer
Campbell, Jane

Kleine Kratzer


ausgezeichnet

„Wenn Sie meinen, das Debüt einer Achtzigjährigen müsse milde und nostalgisch sein, irren Sie sich gewaltig“ (Blurb aus „Ophra Daily“)
Diese 13 Kurzgeschichten von Frauen jenseits der 70, geschrieben von einer 80jährigen haben mich umgehauen. Und wenn Ihr 25 seid, dann hört jetzt bitte nicht auf zu lesen! Denn das sind keine rührseligen bedächtigen Geschichten aus dem Schaukelstuhl, sondern rasante, aufregende weibliche Blicke aus dem Inneren von Heldinnen, die ihr Alter und die Diskriminierungen, die damit einhergehen nicht verleugnen (können), jedoch unverfroren einen Sche*ß darauf geben und das machen, was sie wollen. Es sind Geschichten über Sehnsüchte, Hoffnungen und Lust, die in der Präsenz der Vergänglichkeit umso dringlicher werden. Im Bewusstsein, Dinge vielleicht ein letztes Mal tun zu können, kann Freude eine doppelte sein, kann Begehren etwas Existenzielles bedeuten und Selbstbestimmung eine Notwendigkeit entwickeln.
Die Kurzgeschichten komprimierten ein langes Leben auf ein paar Seiten und oft staune ich, welche literarische Formel Jane Campbell für diese Dichte gefunden hat. Wie innerhalb weniger Minuten, manchmal Sekunden die Stimmung und der Ton kippen und ich mit einem überraschten „oh nein!!“ zurückbleibe und erstmal verdauen muss.
Jede Protagonistin erzählt von den Facetten des Lebens in einem anderen Ton, mal abgeklärt, mal bissig humorvoll, mal wehmütig und verträumt. Ihre Wirklichkeit ist von Verlusten, Unwägbarkeiten und Unzulänglichkeiten, aber auch von Lebenslust und Verlangen gefüllt. Männer und erwachsene Kinder, die den Frauen ihr Leben aus der Hand nehmen wollen, kommen nicht gut dabei weg.
Ich würde gern zitieren, spüre aber, dass man den Zauber einzelner Sätze ohne die Tiefe des Zusammenhangs nicht erzeugen kann.
Es wird Euch nichts anderes übrigbleiben, als dieses kleine Wunder selbst zu kosten. Ihr werdet es nicht bereuen!
Das Programm des @Kjona_Verlag überzeugt mich immer wieder. Mit ausgeprägtem Spürsinn für Talente, die den Zeitgeist inspirieren und die Vielfalt des Lebens vor uns ausbreiten gelingt es, mich immer wieder zu überraschen. Zudem erlebe ich, dass hier eine Vision gelebt wird, dass ich hochwertige und nachhaltige Produkte in der Hand halte, dass Equal Pay mit fairen Vergütungen der AutorInnen selbstverständlich ist und dass das Konzept authentisch und nahbar gelebt wird. Diese Werbung mache ich absolut freiwillig, ohne Bezahlung und aus reiner Lust und Freude.

4 von 7 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 10.11.2023
Ich bin Frida / Mutige Frauen zwischen Kunst und Liebe Bd.23
Bernard, Caroline

Ich bin Frida / Mutige Frauen zwischen Kunst und Liebe Bd.23


sehr gut

Dies ist meine erste intensive Begegnung mit Frida Kahlo. Doch wie oft schon hat mich Fridas durchdringender Blick unter der Monobraue, der gleichzeitig Stolz, Kraft, Selbstbewusstsein und Verletzlichkeit ausstrahlt, gefangen genommen? Was macht sie zu der Ikone, die überall auf der Welt in Ausstellungen, von Werbeflächen und Alltagsgegenständen in unsere Augen schaut? Ist es die Botschaft von der starken, eigenwilligen Frau, die ihren Weg geht und sich von nichts und niemandem aufhalten lässt, weder von ihren körperlichen Einschränkungen und ständigen Schmerzen noch von der emotionalen Abhängigkeit einer starken Liebe oder gesellschaftlichen Erwartungen?

Wir lernen Frida im Jahr 1938 kennen, als sie 31 und bereits 10 Jahre mit dem 20 Jahre älteren berühmten mexikanischen Maler Diego Rivera verheiratet ist. Ihre eigene Kunst lässt sie hinter dem Wohl des großen Genies zurück, erfüllt ihm seine Wünsche, kocht für ihn und lässt ihm zahlreiche Affären und Kränkungen durchgehen. Doch hat er ihr Herz fest in der Hand und als sie die Gelegenheit bekommt, ihr bis dahin noch überschaubares Werk in New York und dann in Paris auszustellen, entscheidet sie sich, endlich etwas für sich zu tun, ihre eigene Kunst in den Mittelpunkt ihres Lebens zu stellen und reist ohne Diego nach New York. Sehnsüchtig erwartet sie dort auch die Wiederbegegnung mit dem Fotografen Nick Muray, mit dem sie die Erinnerung an eine heimliche Liebelei verbindet. Ihre Beziehung mit Diego muss das nicht beeinflussen, sie schafft sich lediglich ein bisschen Freiraum für sich selbst. Vermeintlich, denn schnell steckt sie im nächsten Gefühlschaos und muss ein für alle Mal eine Wahl treffen. Kunst oder Liebe? Diego oder Marc oder keiner?
Klingt nach einer Romanze im Künstlermilieu? Ja, das ist es auf jeden Fall und doch auch einiges mehr. Für Frida-Einsteiger kann es auch eine Einführung in ihr Leben sein, denn nebenbei erfährt man eine Menge über sie, ihre Kunst und den Entstehungsprozess ihrer Gemälde. Besonders gut hat mir der Anfang gefallen, an den die Autorin eines der Hauptwerke Frida Kahlos „Was mir das Wasser gab“ stellt. Sehr lebendig lässt sie hier Fridas Wurzeln mit dem Gemälde verwachsen und erahnen, wie komplex Fridas Persönlichkeit und ihr Werk sind.
Lebhaft und farbenfroh breitet sich Fridas New-York- und Paris-Reise mit all den Schauplätzen, Menschen, Beziehungen und dem Glamour vor uns aus. Glaubhaft temperamentvoll und fiebrig prescht Frida auf einer Achterbahn der Gefühle durch die Seiten.

Auf diese Achterbahnfahrt konnte sie mich zwar nicht mitnehmen. Dafür bin ich aber auch einfach nicht die Zielgruppe, lag mir der Fokus zu sehr auf den blumigen Liebesgeschichten und fehlte mir etwas Tiefe in den Figuren und Beziehungen.

Für Liebhaber guter Unterhaltungsliteratur mit Freude an gefühlig erzählten Liebesgeschichten, die einen lebendigen und vermutlich authentischen Blick in Fridas Leben werfen möchten, ist es auf jeden Fall eine gute Wahl und all jenen empfehle ich es von Herzen.

Bewertung vom 05.11.2023
Unendlich ist die Nacht
Kadivar, Pedro

Unendlich ist die Nacht


ausgezeichnet

„Wie lange kann man vor sich selbst flüchten? Es ist nicht beliebig, nicht umsonst, was passiert. Es muss etwas bedeuten. Der Zufall ist nie zufällig.“ S.156

In EINER unendlichen Nacht breitet sich vor uns das gesamte Spektrum einer ebenso starken wir fragilen Beziehung zwischen zwei Männern aus, die nach über 30 Jahren von ihren Fluchtgeschichten aus dem Iran und der DDR eingeholt werden.

Fürs Schreiben ist schwierig, wenn ein Buch zu viel mit mir zu tun hat. Fürs Lesen ist es das Beste, was mir passieren kann. Genau wie einer der Protagonisten floh ich 1988, ein Jahr vor der Wende, mit meiner Familie aus der DDR. Genau wie er, habe ich den Mauerfall mit einer Mischung aus Freude, Distanz, Ungläubigkeit und emotionaler Leere betrachtet. Genau wie er, fühle ich mich auch mit meiner innerdeutschen Fluchtgeschichte als Migrantin, habe ich selbst die Sprache im Westen als anders, fremd und neu zu lernen empfunden.

„Ich musste dieselbe Sprache sprechen und manchmal eine andere heraushören, immer bei Details, die mich unerwartet verrieten.“ S. 45

Ebenso wie beide Protagonisten habe ich versucht, meine Herkunft abzuschütteln, mich möglichst gut anzupassen und habe darüber die Verbindung zu mir selbst verloren.

„Ich und mein Leben waren zwei getrennte Wesen, die sich kaum kannten, sich durch skurrile Umstände plötzlich begegneten.“ S.64

In Pedro Kadivars UNENDLICH IST DIE NACHT steht jedoch der Iraner im Zentrum, der ebenfalls 1988 floh. Nicht vor Revolution oder Krieg, sondern vor Verfolgung und Ächtung Homos*xueller. Die Scharia, das islamische Rechtssystem, verurteilt Homos*xualität noch heute als todeswürdiges „Verbrechen“. Kadivars namenlose Figur trägt autobiografische Züge, ging zunächst nach Paris, studierte Literatur und verlor den Glauben an die Literatur, kam nach Berlin und promovierte an der Humboldt-Universität über Proust. In Berlin sind sich beide Männer begegnet und durch ihre Fluchtgeschichten ebenso verbunden wie getrennt.

„… wir sind beide geflüchtet. Und haben unsere Länder nie wiedergesehen. Er, weil er nicht kann und will, ich, weil mein Land nicht mehr existiert.“ S. 24

Sie wechseln in dieser EINEN Nacht kein Wort miteinander und trotzdem spürt man ihre Verbindung und die Kraft ihrer Liebe. Sie erzählen leise und kraftvoll in sich abwechselnden Monologen ihre Geschichten und stellen sich ihren Fragen. Ist es möglich die Vergangenheit, die Traumata von Herkunft und Flucht, die Muttersprache zu vergraben und gleichzeitig ein freies selbstbestimmtes Leben zu führen? Was bedeutet es, eine Sprache anzunehmen, die nicht in uns verwurzelt ist?

Der Ton ist ruhig und melancholisch, der Text voller philosophischer und literarischer Bezüge, ohne aber irgendeine Form zu übertreiben oder langatmig zu werden. Durch die kurzen, sich in der Perspektive abwechselnden Kapitel bleibt Distanz, als bliebe ich genauso von diesen Männern abgetrennt wie sie von sich selbst.

Es ist ein Buch über die Mühsal von Grenzen – Länder-, Kultur-, Sprach- und zwischenmenschliche Grenzen - in einer nachweislich unendlichen Welt. In diesen gut 200 Seiten steckt ein ganzes Universum, das mich aufgewühlt und dankbar mit diesem literarischen Highlight zurücklässt.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 29.10.2023
Die Wahrheiten meiner Mutter
Hjorth, Vigdis

Die Wahrheiten meiner Mutter


ausgezeichnet

Wohl keine Beziehung ist so prägend, so komplex und auch so kompliziert wie die erste aller Beziehungen zwischen Mutter und Tochter. Kann sie im Schatten von Abhängigkeiten und Machtkonstellationen überhaupt gelingen? Ist das Nichtgelingen vielleicht sogar Voraussetzung, sich abzunabeln und seinen eigenen Weg zu finden? Ist es möglich, die Mutter als Wesen zu verstehen, das selbst eine Kindheit hatte, das selbst an seinen Problemen scheiterte? Dieses Buch löst existenzielle Fragen aus und lässt einen tief in seine eigenen vergrabenen Widersprüche tauchen.

„Wenn man wüsste, wenn man in jungen Jahren verstünde, wie entscheidend die Kindheit ist, würde man niemals wagen, selbst Kinder zu bekommen.“ S.238

Johanna ist gegen den Willen ihrer Eltern, die eine Karriere als Juristin und ein bürgerliches Leben als Ehefrau für sie vorgesehen hatten, Malerin geworden. Sie bricht das Jura-Studium ab und studiert Kunst, verliebt sich Hals über Kopf in den Richtigen, verlässt den Mann, die Familie und geht in die USA, wird erfolgreich als Malerin. Ihre Familie verzeiht ihr das nie, der Kontakt bleibt kühl und distanziert, bricht, nachdem sie nicht zu Beerdigung ihres Vaters erschienen war, ganz ab. Johannas Mann stirbt, der Sohn geht seiner Wege und sie hat seit Monaten nichts gemalt. Der Konflikt mit der Mutter, der Impuls zu verstehen, ihren ambivalenten Gefühlen auf den Grund zu gehen, drängt nach oben. So kehrt sie nach 30 Jahren nach Norwegen zurück, um ihre Mutter wiederzusehen. Die Mutter verweigert sich.

Vigdis Hjorth zieht uns in die Gedanken von Johanna. Wir erleben, wie sie immer drängender und obsessiver die Nähe der Mutter sucht, ihre vergeblichen Anrufe, das Anschleichen an ihre heutige Existenz. Gleichzeitig drehen sich Fragen, Deutungen und immer mehr Erinnerungen in ihrem Kopf. Es ist eine Welt der Vermutungen und fragilen Erinnerungen, denn da sie ihre Mutter seit 30 Jahren nicht gesprochen hat, kann sie nur mutmaßen, wie sie heute aussieht, was sie denkt, warum sie sich verweigert.

Immer wieder zieht sie sich in ihr kleines gemietetes Haus am Fjord, in die Natur zurück, was uns in den Genuss wunderschöner Naturbeschreibungen bringt. Die Kapitel sind kurz, manchmal ist es nur ein Satz. Als würde sie Kraft schöpfen, sich für einen Moment immer wieder aus dem Sog und der inneren Anspannung befreien. Auch ich brauche diese Pausen, muss das Gelesene verarbeiten.

Ich hatte das Glück Vigdis Hjorth diese Woche live zu erleben. Die drängende, pulsierende, rollende Melodie ihrer Stimme brach durch die Stille des menschengefüllten Raums. Sie zeigte aber auch eine leichte humorvolle Seite, die mit dem Thema sehr versöhnlich umging und Mut machte, die Unmöglichkeiten dieser Beziehung zu akzeptieren. Und obwohl ich kein Wort Norwegisch verstehe, verstand ich.

Es war ein kleiner Seelentrip. Ein intensives, eindrückliches Leseerlebnis, das sich in meiner Liste der Jahreshighlights ganz nach oben katapultiert hat.

Bewertung vom 13.10.2023
Der Kaninchenstall (eBook, ePUB)
Gunty, Tess

Der Kaninchenstall (eBook, ePUB)


sehr gut

Zeitweise fand ich’s mega! Zeitweise auch nervig. Oft ein bisschen drüber, als wenn alles, was Tess Gunty in den 5 Jahren Arbeit an DER KANINCHENSTALL an irrwitzigen Ideen hatte, mit rein musste. ABER auf jeden Fall neu, überraschend, aufregend, psychedelisch, tiefgründig, philosophisch, psychologisch, so vieles auf einmal. LESENSWERT!

Der Kaninchenstall ist ein Sozialbau in der fiktiven Kleinstadt Vacca Vale, Indiana, im sogenannten „rust belt“ Amerikas, Symbol für eine der vielen heruntergekommenen sterbenden Städte, die dort von der Autoindustrie ausgelutscht, verlassen und mit nichts als verbrannter Erde, verseuchten Flüssen und wütenden, desillusionierten Menschen zurückgelassen wurden.

Die dünnen Wände des nagetierverseuchten Kaninchenstalls bieten kaum Privatsphäre und so bekommen auch wir Einblick in die Absurditäten des Alltags seiner Bewohner. Da ist eine Mutter, die ihrem neugeborenen Baby nicht ohne Angst in die tiefen dunklen Augen schauen kann. Da ist eine schüchterne alleinlebende Frau, die bei einer Agentur für Online-Nachrufe die Kommentarspalten betreut. Da ist eine WG mit Teenagern, ehemaligen Pflegekindern, die ihre Tage mit Aushilfsjobs, Drogen und der Darbringung von Tieropfern verbringen. Blandine ist eine von ihnen und die Hauptperson des Romans, die sich in die katholische Mystik der Hildegard von Bingen verbissen hat und den Tag vorbereitet, an dem sie ihren Körper verlässt. Und noch einige mehr ...

Reizüberflutung pur? Ja, aber gebt den ersten Seiten die Chance das zu sein und lest weiter, bis sich das Universum komplett vor Euch ausgebreitet hat und Ihr Euch an das Maß der Zuspitzung und die aufgekratzte Sprache gewöhnt habt. Es wird sanfter und ruhiger.

Und dann lasst Euch fallen und genießt die Ideen, die Vielfalt der literarischen Formen (Perspektivwechsel durch Wechsel der Erzähler, durch Einschub von Briefen, Anzeigen und sogar grafisch erzählten Elementen), die Sprache, den Witz, den Tiefgang und die Aussicht, die Tess Gunty uns hier auf die (amerikanische) Gesellschaft eröffnet. Sie sagt selbst, dass sie den Scheinwerfer auf Menschen richten wolle, die im Dunkelns stehen und es wert seien gesehen zu werden.

Manche Einfälle erschienen mir etwas zu abstrus, zu gewollt oder zu offensichtlich noch mit untergebracht. Aber insgesamt bin ich beeindruckt, überrascht, bewegt von dem jungen Talent und sehr gut unterhalten worden.

Es ist Tess Gunty’s Debütroman, für den die heute 30jährige als jüngste Preisträgerin seit Philip Roth mit dem National Book Award for Fiction ausgezeichnet wurde. Die Übersetzung von Sophie Zeitz erschien im Juli 2023 bei Kiepenheuer & Witsch. Die Zeichnungen stammen vom Bruder der Autorin, dem Indie-Folk-Musiker Nicholas Gunty.