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ins_lebenlesen
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Schleswig-Holstein

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Insgesamt 58 Bewertungen
Bewertung vom 29.10.2023
Die Wahrheiten meiner Mutter
Hjorth, Vigdis

Die Wahrheiten meiner Mutter


ausgezeichnet

Wohl keine Beziehung ist so prägend, so komplex und auch so kompliziert wie die erste aller Beziehungen zwischen Mutter und Tochter. Kann sie im Schatten von Abhängigkeiten und Machtkonstellationen überhaupt gelingen? Ist das Nichtgelingen vielleicht sogar Voraussetzung, sich abzunabeln und seinen eigenen Weg zu finden? Ist es möglich, die Mutter als Wesen zu verstehen, das selbst eine Kindheit hatte, das selbst an seinen Problemen scheiterte? Dieses Buch löst existenzielle Fragen aus und lässt einen tief in seine eigenen vergrabenen Widersprüche tauchen.

„Wenn man wüsste, wenn man in jungen Jahren verstünde, wie entscheidend die Kindheit ist, würde man niemals wagen, selbst Kinder zu bekommen.“ S.238

Johanna ist gegen den Willen ihrer Eltern, die eine Karriere als Juristin und ein bürgerliches Leben als Ehefrau für sie vorgesehen hatten, Malerin geworden. Sie bricht das Jura-Studium ab und studiert Kunst, verliebt sich Hals über Kopf in den Richtigen, verlässt den Mann, die Familie und geht in die USA, wird erfolgreich als Malerin. Ihre Familie verzeiht ihr das nie, der Kontakt bleibt kühl und distanziert, bricht, nachdem sie nicht zu Beerdigung ihres Vaters erschienen war, ganz ab. Johannas Mann stirbt, der Sohn geht seiner Wege und sie hat seit Monaten nichts gemalt. Der Konflikt mit der Mutter, der Impuls zu verstehen, ihren ambivalenten Gefühlen auf den Grund zu gehen, drängt nach oben. So kehrt sie nach 30 Jahren nach Norwegen zurück, um ihre Mutter wiederzusehen. Die Mutter verweigert sich.

Vigdis Hjorth zieht uns in die Gedanken von Johanna. Wir erleben, wie sie immer drängender und obsessiver die Nähe der Mutter sucht, ihre vergeblichen Anrufe, das Anschleichen an ihre heutige Existenz. Gleichzeitig drehen sich Fragen, Deutungen und immer mehr Erinnerungen in ihrem Kopf. Es ist eine Welt der Vermutungen und fragilen Erinnerungen, denn da sie ihre Mutter seit 30 Jahren nicht gesprochen hat, kann sie nur mutmaßen, wie sie heute aussieht, was sie denkt, warum sie sich verweigert.

Immer wieder zieht sie sich in ihr kleines gemietetes Haus am Fjord, in die Natur zurück, was uns in den Genuss wunderschöner Naturbeschreibungen bringt. Die Kapitel sind kurz, manchmal ist es nur ein Satz. Als würde sie Kraft schöpfen, sich für einen Moment immer wieder aus dem Sog und der inneren Anspannung befreien. Auch ich brauche diese Pausen, muss das Gelesene verarbeiten.

Ich hatte das Glück Vigdis Hjorth diese Woche live zu erleben. Die drängende, pulsierende, rollende Melodie ihrer Stimme brach durch die Stille des menschengefüllten Raums. Sie zeigte aber auch eine leichte humorvolle Seite, die mit dem Thema sehr versöhnlich umging und Mut machte, die Unmöglichkeiten dieser Beziehung zu akzeptieren. Und obwohl ich kein Wort Norwegisch verstehe, verstand ich.

Es war ein kleiner Seelentrip. Ein intensives, eindrückliches Leseerlebnis, das sich in meiner Liste der Jahreshighlights ganz nach oben katapultiert hat.

Bewertung vom 13.10.2023
Der Kaninchenstall (eBook, ePUB)
Gunty, Tess

Der Kaninchenstall (eBook, ePUB)


sehr gut

Zeitweise fand ich’s mega! Zeitweise auch nervig. Oft ein bisschen drüber, als wenn alles, was Tess Gunty in den 5 Jahren Arbeit an DER KANINCHENSTALL an irrwitzigen Ideen hatte, mit rein musste. ABER auf jeden Fall neu, überraschend, aufregend, psychedelisch, tiefgründig, philosophisch, psychologisch, so vieles auf einmal. LESENSWERT!

Der Kaninchenstall ist ein Sozialbau in der fiktiven Kleinstadt Vacca Vale, Indiana, im sogenannten „rust belt“ Amerikas, Symbol für eine der vielen heruntergekommenen sterbenden Städte, die dort von der Autoindustrie ausgelutscht, verlassen und mit nichts als verbrannter Erde, verseuchten Flüssen und wütenden, desillusionierten Menschen zurückgelassen wurden.

Die dünnen Wände des nagetierverseuchten Kaninchenstalls bieten kaum Privatsphäre und so bekommen auch wir Einblick in die Absurditäten des Alltags seiner Bewohner. Da ist eine Mutter, die ihrem neugeborenen Baby nicht ohne Angst in die tiefen dunklen Augen schauen kann. Da ist eine schüchterne alleinlebende Frau, die bei einer Agentur für Online-Nachrufe die Kommentarspalten betreut. Da ist eine WG mit Teenagern, ehemaligen Pflegekindern, die ihre Tage mit Aushilfsjobs, Drogen und der Darbringung von Tieropfern verbringen. Blandine ist eine von ihnen und die Hauptperson des Romans, die sich in die katholische Mystik der Hildegard von Bingen verbissen hat und den Tag vorbereitet, an dem sie ihren Körper verlässt. Und noch einige mehr ...

Reizüberflutung pur? Ja, aber gebt den ersten Seiten die Chance das zu sein und lest weiter, bis sich das Universum komplett vor Euch ausgebreitet hat und Ihr Euch an das Maß der Zuspitzung und die aufgekratzte Sprache gewöhnt habt. Es wird sanfter und ruhiger.

Und dann lasst Euch fallen und genießt die Ideen, die Vielfalt der literarischen Formen (Perspektivwechsel durch Wechsel der Erzähler, durch Einschub von Briefen, Anzeigen und sogar grafisch erzählten Elementen), die Sprache, den Witz, den Tiefgang und die Aussicht, die Tess Gunty uns hier auf die (amerikanische) Gesellschaft eröffnet. Sie sagt selbst, dass sie den Scheinwerfer auf Menschen richten wolle, die im Dunkelns stehen und es wert seien gesehen zu werden.

Manche Einfälle erschienen mir etwas zu abstrus, zu gewollt oder zu offensichtlich noch mit untergebracht. Aber insgesamt bin ich beeindruckt, überrascht, bewegt von dem jungen Talent und sehr gut unterhalten worden.

Es ist Tess Gunty’s Debütroman, für den die heute 30jährige als jüngste Preisträgerin seit Philip Roth mit dem National Book Award for Fiction ausgezeichnet wurde. Die Übersetzung von Sophie Zeitz erschien im Juli 2023 bei Kiepenheuer & Witsch. Die Zeichnungen stammen vom Bruder der Autorin, dem Indie-Folk-Musiker Nicholas Gunty.

Bewertung vom 03.10.2023
Herrndorf
Rüther, Tobias

Herrndorf


ausgezeichnet

„Alle Fehler in diesem Buch sind meine. Wolfgang Herrndorf macht keine.“ (aus der Danksagung des Autors)

TSCHICK. Nein, ich schreibe nicht über Tschick. Aber mit Tschick hat es für mich begonnen. Diese befreiende, leichte, tiefe Geschichte einer Jugend, die man sich selbst schreiben würde, wenn man zurück auf Anfang spulen könnte. Wolfgang Herrndorf ist schon todkrank als er Tschick schreibt und beginnt zeitgleich mit seinem Blog „Arbeit und Struktur“, in dem er über drei Jahre ein wohl einzigartiges Zeugnis der letzten Lebens- und Schaffensjahre eines Künstlers verfasst. 2015, als ich ihm begegnete war er schon zwei Jahre tot. Nach der Lektüre von „Arbeit und Struktur“ habe ich um ihn getrauert, als wäre ein Freund gestorben.

Anlässlich des 10. Todestages lässt der Literaturredakteur der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ Tobias Rüther ihn mit der Biografie HERRNDORF wieder auferstehen. Ich bin aufgeregt. Wie wird die Begegnung verlaufen? Werde ich ihn wiedererkennen?

„Er kann das, was aus der Lektüre und dem Leben in seine Stoffe einfließt, so präzise zu Text formen, dass man die Übergänge nicht mehr sieht. Und zugleich Szenen schreiben, die für sich stark sind, die wirken ohne Kenntnis der Referenzen.“ (S.178)

Ich werde ihn neu entdecken. Ich werde den Kunststudenten, Maler, Zeichner und Illustrator Wolfgang Herrndorf kennenlernen, der als bildender Künstler begann, aus dem der Schriftsteller geboren wurde. Ich werde den Rebellen Herrndorf kennenlernen, der sich NIE darum scherte, was andere von ihm denken, immer gegen das Establishment gerichtet war, mit dem „Wunsch, zu den Außenseitern zu gehören, sich dann aber unter diesen Außenseitern auch wieder nur selbst als Außenseiter zu fühlen.“ (S.75). Ich werde mich noch stärker mit ihm verbunden fühlen, diese zwanghafte besessene Konsequenz verstehen, mit der er alles im Leben dem Schaffen, dem Denken, der Selbstüberprüfung untergeordnet hat.

„Im Leben des Künstlers Herrndorf ist alles ein einziger großer Text.“ (S. 259)

Tobias Rüther sei Herrndorf nie persönlich begegnet, aber man spürt: er liebt ihn. Er schreibt – und das glaub ich ihm sofort -, dass er bei der Todesnachricht geweint hat. Er stellt Herrndorf in seiner Distanziertheit dar, die er sowohl seinen Mitmenschen als auch sich selbst gegenüber bewahrt. Und doch stellt er ihn in die Mitte von Menschen, die ihm sehr liebevoll und wohlwollend zugetan sind, die ihm in die Seele schauen, auch wenn Herrndorf selbst ihre Existenz leugnet. Sehr detailversessen lässt er das Leben, von der Kindheit in Norddeutschland über Nürnberg bis Berlin und bis in seine letzten Stunden vor uns auferstehen. Man merkt ihm den Spaß an Herrndorfs Humor an, den er aufgreift, oft muss ich laut lachen. Er lässt uns mit dem Hasardeur, dem keine Kuh heilig ist über die Klingen springen. Er taucht tief in das Werk ein, sowohl in das darstellende als auch in das literarische, seziert, rezensiert, vergleicht und zeichnet nebenbei das Bild einer Wende der deutschen Literatur Anfang der 2000er, die in Berlin ihren Ursprung nahm.

Herrndorf ist wohl untrennbar mit seinem öffentlichen Sterben und der Frage verbunden, wie sein Schaffen und seine Popularität davon geprägt wurden. Natürlich verändert das Wissen um den nahen Tod ein Leben komplett und hat bei Herrndorf schließlich auch seine kreativste und erfolgreichste Schaffensphase eingeleitet. Und natürlich macht das Wissen darum auch etwas mit der Umwelt. Rüther hat diesen Aspekt einfühlsam und wertschätzend eingeordnet, aber nicht bewertet. Es ist eben dieses Leben. Von dem ich erneut Abschied nehmen muss. Um das ich erneut trauern muss. Das ich in mir trage, das mit mir verschmolzen ist mit all seinen Widersprüchen und Widerständen, die in mir ihr Werk tun. Ich spüre so viel von ihm in mir, dass es weh tut.

Ich kann nicht anders als Wolfgang Herrndorfs Werk zu empfehlen. Herrndorf war sehr öffentlichkeitsscheu, hat kaum Interviews gegeben, kaum Lesungen abgehalten. Man wird keinen besseren Eindruck von seiner Kunst und seinem Leben gewinnen als mit dieser Biografie. Auch dafür meine Empfehlung.

Bewertung vom 29.09.2023
In allen Spiegeln ist sie Schwarz
Ákínmádé Åkerström, Lolá

In allen Spiegeln ist sie Schwarz


sehr gut

„Tief in ihrem Herzen wusste Muna, dass Schweden ihr niemals vergeben würde, dass sie hergekommen war.“ (S.93)

Kemi, Brittany und Muna sind drei Frauen, die aus ganz unterschiedlichen Gründen nach Stockholm kommen. Eine der Karriere, die andere der Liebe wegen und die Dritte als Flüchtende über die Mittelmeerroute aus Somalia. Alle Drei sind Schwarz und tragen tiefe Traumata in sich, sei es durch schreckliche Fluchterlebnisse, männliche sexualisierte Gewalt oder eine schwierige Jugend. Und doch könnten sie was Typ, Sprache, soziale Hintergründe, kulturelle Werte, Auftreten, Selbstbewusstsein und Lebensthemen angeht, unterschiedlicher nicht sein. Ihre Schicksale treffen sich in einem Berührungspunkt: Jonny – Weiß, Schwede, Unternehmer, reich, in bürgerlichen Verhältnissen aufgewachsen. Auch er knüpft an das Anderssein an, denn er weist Merkmale einer autistischen Persönlichkeit auf. Eine spannende Konstellation, die sich aus den abwechselnden Perspektiven der drei Frauen fesselnd entwickelt. Die Geschichte spielt im liberalen Schweden, einer Gesellschaft, die bereits „auf Gleichgewicht und Gleichheit aus ist, in der niemand das Gefühl haben soll, anders zu sein“. (Nachwort) Der Roman macht klar, wieviel komplizierter die Realität ist.

"Bei Diversität und Inklusion geht es auch darum Stereotype aufzubrechen. […] Und nicht nur darum, Schwarze und braune Gesichter in der Werbung zu zeigen.“ (S.228)

Lọlá Ákínmádé Åkerström hat hier ein größtmögliches DIVERSES Universum geschaffen. Die drei Frauen lassen zwar sehr lebendig werden, was es heißt, gleichzeitig wegen der Hautfarbe, des Geschlechts möglicherweise als Trägerin eines Kopftuchs zusätzlich wegen der Religion diskriminiert zu werden. Doch in der Rahmenhandlung wird auch deutlich, was es grundsätzlich heißt, anders zu sein, mit Ausgrenzung oder Ignoranz wegen körperlicher, sozialer, gesundheitlicher, gesellschaftlicher oder beruflicher Merkmale leben zu müssen.

Bewertung vom 23.09.2023
Kontur eines Lebens
Robben, Jaap

Kontur eines Lebens


ausgezeichnet

„Ich kann an nichts anderes denken. Immerzu sehe ich die blassen Füße von Louis vor mir. Wie sie unter der Rettungsdecke hervorragen. So schutzlos. Seine Pantoffeln, verloren in dem ganzen Durcheinander, der Panik. Seine Füße, so verletzlich, während er in den Krankenwagen geschoben wird.“

Nach den ersten Zeilen schaudere ich, fühle mich von dem brutalen und gleichzeitig zarten Bild in einem sehr empfindsamen Punkt getroffen. Nach den letzten Zeilen brauche ein paar Minuten. Sammeln, fühlen, staunen und langsam wieder in die Realität auftauchen. Was ist es, das mich an diesem wahnsinnig guten Buch so begeistert?

Es ist nicht allein die bewegende Geschichte über den schweren Weg einer jungen Frau in den Niederlanden der frühen 60er Jahre, deren erste große Liebe ein verheirateter Mann ist, von dem sie bald schwanger wird. Für die Entscheidungen, die sie aus Liebe trifft, wird sie mit der vollen Wucht der vom Katholizismus bestimmten Normen und gesellschaftlichen Regeln ihrer Zeit bestraft.

Es sind auch nicht allein die langsam aufbrechenden Charaktere, besonders der weiblichen Ich-Erzählerin Frieda, die wir kennenlernen als sie bereits 81 ist und die sich nach dem plötzlichen Tod ihres Mannes Louis in einer Einrichtung für betreutes Wohnen zurechtfinden muss. In der Eintönigkeit des Heimalltags wird sie auf ihre Erinnerungen zurückgeworfen beginnt sich dem Trauma ihrer Jugend – dem Verlust der ersten Liebe und des ersten Kindes – zu stellen. Sie beschließt, ihre letzten Kräfte in die Suche nach Otto, dem Mann, mit dem alles verbunden ist, zu investieren. Und während sie sucht, erinnert sie sich an diese erste Liebe, ungestüm und unbeholfen, leidenschaftlich und schambehaftet und an den tiefen Schmerz und die große Tragödie, die aus ihr erwachsen sind. Schicht für Schicht fügt sich die junge Frieda in die Form der 81jährigen, so dass sich ein Leben voller Verletzungen, Gräben, Liebe, Aufopferung, Verschweigen, Schönheit und Vergänglichkeit vor unserem Blick aufblättert.

„Ich hoffte, er würde etwas über uns sagen. Einen Satz, der mit „Du und ich …“ anfing, dass auch er und ich ein Wir waren. Dass er sagte: „Unser Kind.“ Aber diese Worte fielen nicht, die ganze Nacht nicht.“ (S. 154)

Es ist auch nicht allein wegen der Komplexität der Beziehungen, die mit starken Bildern und Dialogen plastisch herausgearbeitet werden – zu ihrer ersten Liebe Otto, zu ihren Eltern, zu ihrem verstorbenen Mann Louis, ihrem Sohn Tobias, der mit seiner Frau gerade sein erstes Kind erwartet.

Vor allem Inhaltlichen beeindruckt mich die Intensität. Wie eindrücklich, sprachlich präzise, ergreifend, melancholisch, fesselnd all das ausgedrückt ist. Kein Wort zu viel, keins zu wenig. Wie kann ein MANN/AUTOR so mit seiner WEIBLICHEN Hauptfigur verschmelzen, so gleichermaßen authentisch aus der Seele der jungen wie auch der alten pflegebedürftigen Frau sprechen? Wie kann gleichzeitig ein so spannender Erzählfluss entstehen und eine so breite Gefühlswelt aufgemacht werden, in der ich mit der Protagonistin durch tiefe Einsamkeit, sozialen Abstieg, Existenzängste, Trauer und Verlust, große Liebe, Muttergefühle und die ganze weibliche Existenz schwimme.

In der Danksagung hab ich gelesen, dass Jaap Robben bei einer Psychologin eine Familienaufstellung seiner Figuren machen lassen hat! Was für eine geniale Idee und ich behaupte, genauso ist dieser Roman! Genial!
Ich bin erschöpft und glücklich und empfehle: Lest dieses Buch!

Bewertung vom 17.09.2023
Liebe Kinder oder Zukunft als Quelle der Verantwortung
Gabriel, Markus

Liebe Kinder oder Zukunft als Quelle der Verantwortung


sehr gut

Der Blick eines weltweit anerkannten Philosophen auf die Frage des Kinderwahlrechts
„Wie wir von unseren Kindern lernen, wie Zukunft geht“

Ich möchte Euch den zweiten Band aus der Reihe „Briefe an die kommenden Generationen“ aus dem Kjona Verlag vorstellen. In dieser Reihe entwerfen AutorInnen optimistische Zukunftsszenarien für wichtige gesellschaftliche Fragestellungen.

Der weltweit anerkannte Philosoph Markus Gabriel nähert sich hier der Frage des Kinderwahlrechts und entwickelt gleichzeitig ein Plädoyer gegen einen strukturellen Adultismus und für die Integration einer Gesellschaftsschicht, der wir alle einmal angehört haben, in (politische) Entscheidungsprozesse.

Dabei untersucht er zunächst aus philosophischer und wissenschaftlicher Sicht Unterschiede des kindlichen und des erwachsenen Bewusstseins. Er zieht große Philosophen heran, um seine Thesen zu untermauern, betrachtet juristische Aspekte, schaut in die Kunst als Ausdrucksform kindlicher Anteile im Menschen und lässt auch sehr entspannt und nahbar persönliche Erfahrungen und Blickwinkel einfließen.

Gabriel legt schonungslos offen, wie Adultismus unsere Gesellschaft beschränkt. „Als ob Erwachsensein die Norm der Menschheit wäre!“ (S. 14) Und doch lehren wir unsere Kinder vor allem eins: endlich erwachsen zu werden.

Schade, dass er der Briefform nicht treu geblieben ist. Es beginnt nämlich mit „Liebe Kinder, …" und ich dachte: "Wow, da richtet ein gestandener Philosoph wirklich einen Brief an Kinder über das Kinderwahlrecht und spricht die Betroffenen direkt an. Das wird interessant!" Es wurde auch interessant, aber es ist weder ein Brief und als Essay auch nicht unbedingt für Kinder geschrieben. Doch wir haben ja auch noch nicht über die Definition von „Kind“ gesprochen. UND der Essay gehört in die politische Diskussion und muss vor allem dort Gehör finden. Es bleibt - auch literarisch - ein sehr lesenswerter Text, über den man viel diskutieren kann und muss.

„Denn die Zukunft der Kinder ist offen, offen für ein anderes Erwachsensein, das noch nicht auf eine Illusion festgelegt ist, dass die Zukunft bereits feststeht.“ (S. 61)

Bewertung vom 07.09.2023
Die Unvollständige
Bäuerlein, Valerie

Die Unvollständige


ausgezeichnet

„Die Unvollständige“. Es hätte auch „Die Unvollständigen“ heißen können, denn im Mittelpunkt stehen ZWEI Frauen. Da ist Tala, die Schauspielerin, mit deren vermutlichem Suizid die Geschichte mit wenigen nüchternen Worten beginnt. Und da ist die Ich-Erzählerin, die die Todesnachricht aus ihrer Wohnung und in unruhigen, mäandernden Bewegungen durch die Straßen von Berlin treibt. Sie versucht, dem Ort der Nachricht so weit wie möglich zu entfliehen und gleichzeitig ihrer Bedeutung so nah wie möglich zu kommen.

Valerie Bäuerlein lässt in ihrem Debüt die beiden Frauen auf mehreren Zeitebenen auf Spurensuche gehen. Die namenlose Erzählerin, eine Regisseurin, die mit Tala eigentlich einen Film drehen wollte, streift stattdessen nun durch Berlins Straßen und versucht Bruchstücke zusammenzusetzen. Von der Tala ihrer Erinnerungen, der Tala die in Briefen von ihrer letzten abenteuerlichen Reise zu den entlegensten Orten Asiens berichtet. Auch Tala schien eine Suchende gewesen zu sein. Als Tochter einer iranischen Mutter und eines griechischen Gastarbeiters wurden ihr Entwurzelung und Entfremdung in die Wiege gelegt.

„War es vielleicht so, […] dass Tala versucht hatte, in der Geschichte ihrer Eltern ihre eigene Identität zu finden, während ich zugleich mich von meiner endlich abzutrennen versuchte, und gab es wohl so etwas wie ein kollektives Gedächtnis, dem wir angehörten, waren Orte und Geschichte und Menschen untrennbar miteinander verstrickt, oder waren es nur wir selbst, die nach einer Auflösung, einer Erklärung suchten, während alles naturgemäß Chaos war, ohne tieferliegende Struktur oder Ordnung, ohne Sinn?“ (S.26)

Die „Unvollständige“ setzt sich klug und differenziert mit der Suche nach der inneren Vollständigkeit und nach Erklärungen für die Unmöglichkeiten unserer Zeit auseinander. Kann es Vollständigkeit geben? Oder stellt man am Ende doch immer nur wieder fest, dass man bestenfalls auf Fragmente trifft, die sich zusammensetzen lassen und sich sofort wieder auflösen und verlieren?

Der Ton des Textes, die Gedanken der durch die Stadt tigernden Erzählerin wirken nüchtern, kühl, distanziert. Sie wechseln sich mit Talas Briefen ab, so dass wir der Beziehung und den Protagonistinnen langsam auf die Spur kommen. Die Autorin schafft in jeglicher Hinsicht ständig Gegensätze – Ordnung und Chaos, Identifikation und Abtrennung, Traum und Wirklichkeit, Erinnerung und Interpretation. Manchmal dachte ich an Paul Auster und an etwas avantgardistisches. Es sind 150 Seiten, die man nicht einfach so weg liest. Ich habe mir auf fast jeder Seite etwas angestrichen, das mich aufhorchen ließ, sprachliche Schönheit in mir erzeugte oder an etwas rührte, das ich nicht sofort benennen konnte. Valerie Bäuerlein ist eine vielseitige Künstlerin, die Fotografie, Bildende Kunst und Filmregie studierte und u.a. als Filmkritikerin und Dokumentarfilmerin arbeitete. Ihre vielseitigen künstlerischen Perspektiven drücken sich auch in diesem Buch aus. Es hat mich ins Denken und Reflektieren gebracht und wird sich noch lange in mir bewegen.

Bewertung vom 01.09.2023
Frau Komachi empfiehlt ein Buch
Aoyama, Michiko

Frau Komachi empfiehlt ein Buch


sehr gut

In fünf Kapiteln begegnen wir fünf verschiedenen Ich-ErzählerInnen und ihren Lebensgeschichten. Alle befinden sich auf unterschiedliche Weise in einer Sackgasse und hängen in ihren Mustern und von Selbstzweifeln geprägten Glaubenssätzen fest. Der Knotenpunkt ist die Bibliothekarin Sayuri Komachi, zu der alle auf magische Weise gelangen. Frau Komachi wird äußerlich als massiv und einschüchternd beschrieben. Doch sobald sie einen anschaut und spricht, strahlt sie etwas sehr Wohlwollendes, Verständnisvolles und Ruhiges aus. Wie sie da sitzt mit ihrer Bonbon-Dose, ihrer Strickjacke und ihren gefilzten Figürchen und für jeden Suchenden das besondere Buch und das passende Orakel bereithält, wünsche ich mir sofort durch ihre Augen gesehen zu werden und zu erfahren, welches Buch sie für mich ausgesucht hätte.

Es ist eine sehr japanische Geschichte – Parabel würde ich fast sagen - in einer einfachen, nüchternen Sprache erzählt, die sich sehr leicht lesen lässt. Die geheimnisvolle Person der Frau Komachi fügt ihr das Mystische hinzu und zieht uns aus der Realität in eine innere Welt. Es geht vor allem darum, den Blick offen zu halten für das Verborgene, das in allem schlummert und das wir vor lauter Angst und Zweifeln oft nicht sehen. Die Protagonisten sind eher zurückhaltende, schüchterne Personen, die durch die Begegnung mit Frau Komachi ihr Potenzial entfalten.

Ich mag diese unaufgeregten, parabelhaften japanischen Geschichten und bin noch in einer weltvergessenen Urlaubsstimmung. Beste Voraussetzungen, in diese warmherzige Atmosphäre mit den naiv liebenswürdigen, nachdenklichen Personen abzutauchen. Auch wenn ich literarisch gern mehr gefordert werde und die Erkenntnisse, die die Protagonisten gewinnen vielleicht ein bisschen profan und abgenutzt wirken, findet Michiko Aoyama einfühlsame und lebenskluge Worte, die mich sogar motivieren meine Energien neu auszurichten. Ein Ergebnis ist, dass ich heute Morgen nach langer Zeit meine Yoga-Übungen wieder aufgenommen habe.

Die Übersetzerin ist Sabine Mangold, die u.a. auch Murakami und Ogawa übersetzt und 2019 mit dem Übersetzerpreis der Japan Foundation geehrt wurde.

Bewertung vom 31.08.2023
Und hinter mir das Nichts
Obermanns, Berthe

Und hinter mir das Nichts


ausgezeichnet

„Den Schreck dieses Augenblicks werde ich nie vergessen.“ „Du wirst ihn vergessen, es sei denn, Du errichtest ihm ein Denkmal.“

Berthe Obermanns erzählt in ihrem zweiten Buch UND HINTER MIR DAS NICHTS von der Suche nach einem neuen Leben, wenn nach einer schweren mentalen Erschütterung spürbar wird, dass das alte auf Lügen gebaut ist.

„Das Lügen war ich gewohnt. Ich log, um der Wirklichkeit Sinn zu geben und weil die Lügen es leichter machten. Ich log, um dieses bessere Leben, das ich mir noch immer wünschte, zumindest in einer erfundenen Realität vor mir zu sehen.“ (S. 32)

Im Falle von Sara, der jungen Psychologin, ist diese Erschütterung der Suizid ihres ERSTEN Patienten. Es gab keine Anzeichen, es gibt keine Erklärung, es wird keine Absolution geben. Alles, was ihr bis zu diesem Punkt Halt im Leben gab, erscheint plötzlich fremd und unpassend. Ihr Leben wird zu einer Schussfahrt ins Bodenlose, auf der sie jeden Anker zum Alltag von sich stößt. Was folgt ist eine schmerzhafte Suche nach Erklärungen, dem Sinn, der Wahrheit, dem Grund zu leben. Den Schmerz, den diese Suche auslöst, kann sie kaum ertragen und doch ist jede Umkehr ausgeschlossen.

Sarah bewegt sich fiebernd, getrieben und verzweifelt durch eine surreale Wirklichkeit voller traum- und albtraumhafter Begegnungen. Die Autorin spart nicht mit Methaphern und Symbolik und doch trifft sie mit jedem Wort den Kern. 🩶

Es fühlte sich an wie eine Tiefenbohrung in meine Seele. Als hätte Berthe Obermanns mit Worten, die ICH fühlte, aber nicht formen konnte, einen Teil meiner Geschichte erzählt. Ich möchte darüber reden, das Buch Freunden und Familie entgegen strecken und sagen: Lest! Das war ich! Das sind WIR, die aus einer tiefen Krise wieder auferstehen.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 31.08.2023
So weit der Fluss uns trägt
Read, Shelley

So weit der Fluss uns trägt


sehr gut

Shelley Reads Debüt SO WEIT DER FLUSS UNS TRÄGT wurde hier schon oft mit dem GESANG DER FLUSSKREBSE von Delia Owens verglichen, das ich in sehr guter Erinnerung habe. Ich bin gespannt ob der Vergleich trägt.

Die 17jährige Victoria wächst in den 40er Jahren auf einer Pfirsichplantage in den Bergen Colorados auf. Dort beherrschen Angst vor Veränderungen und Ausgrenzung das dörfliche Zusammenleben. Nach einem schrecklichen Unfall, der die Familie zerstört hat, sieht Victoria sich als einzige Frau im Haus schon früh in die Rolle des Mädchens für alles und der Versorgerin gedrängt. Als sie sich – zwischen Gehorsam und Auflehnung – erstmals verliebt, ist es auch das erste Mal, dass sie sich gesehen fühlt und spürt, dass sie ihren eigenen Weg gehen muss.

Victoria gerät in eine Spirale tragischer Ereignisse und muss schwerwiegende einsame Entscheidungen treffen. Instinktiv findet sie ihren Weg, indem sie sich in die Natur zurückzieht und genau wie der Gunnison River, der das Leben dieses Landstrichs bestimmt, unbeirrt ihrem Fluss überlässt.

„Ich krümmte meine Zehen um die glitschigen Steine unter meinen Füßen und musste gegen die Strömung das Gleichgewicht halten, und dann schloss ich meine Augen und lauschte. Ich kann nicht genau sagen, was dieses klare Wasser mir mitteilte. Ich weiß nur, dass mir die reine Wahrheit sagte.“

Man spürt in jedem Satz, dass die Autorin in dieser Landschaft in Colorado tief verwurzelt und durchdrungen von einer großen Liebe für ihre Eigenheiten ist. Mit großer sprachlicher Kraft wird die Natur lebendig, der Saft der Pfirsiche tropft förmlich durch die Finger.

Die Geschichte wird einfühlsam aus der Perspektive von Victoria erzählt. Ihre Naturverbundenheit erinnert mich tatsächlich an „Der Gesang der Flusskrebse“. Doch hat mich Shelley Reads Geschichte nicht so tief berühren können. Dafür hätte ich weniger Adjektive und Pathos und mehr Kanten und Tiefen in den Charakteren gebraucht. So bleibt es mir ein schönes Leseerlebnis, das aber auch bald wieder verblassen wird.

Übersetzung von Wibke Kuhn.