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Havers
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Top100-Rezensent und Buchflüsterer

Bewertungen

Insgesamt 148 Bewertungen
Bewertung vom 13.07.2024
Mythos Nationalgericht. Die erfundenen Traditionen der italienischen Küche
Grandi, Alberto

Mythos Nationalgericht. Die erfundenen Traditionen der italienischen Küche


ausgezeichnet

Liebt ihr italienisches Essen und dessen Zutaten? Und interessiert ihr euch für kulturwissenschaftliche Zusammenhänge? Dann seid ihr bei Alberto Grandi richtig, der seinen Blick auf die Geschichte der italienischen Küchenklassiker richtet und damit im Land einen Shitstorm ausgelöst hat. Die Behauptungen, die er in den Raum stellt, sind sowohl gewagt als auch entlarvend, denn er räumt mit dem Mythos auf, das alles, was wir heute an Gerichten und Zutaten mit dem Schlagwort „Italienische Küche“ beschreiben, sich im Lauf der Jahrhunderte aus Traditionen entwickelt hat.

Grandi ist Historiker mit Lehrstuhl an der Universität Parma und forscht seit Jahren an der Wirtschaftsgeschichte Italiens mit Schwerpunkt auf Herkunft der traditionellen Speisen und ihrer Zutaten. Dabei ist er auf zahlreiche Behauptungen gestoßen, die sich nicht beweisen lassen und einer wissenschaftlichen Überprüfung nicht standhalten. Schon der Untertitel zeigt, was der Autor von den „Traditionen der italienischen Küche“ hält. Alles erfunden, weil Ergebnis einer cleveren Marketing-Kampagne aus den Siebzigern/Achtzigern, die durch die Wiederbelebung von angeblichen Traditionen die Verunsicherung im Land kompensieren sollte, die dem Ende des italienischen Wirtschaftswunders geschuldet war.

Um diese Aussagen zu untermauern schaut sich Grandi die Produkte an, die mit „typisch italienisch“ assoziiert werden, und ohne die die Zubereitung der Gerichte seines Heimatlandes nicht möglich wäre. Mit Blick auf den historischen Kontext und die regionale Verortung kommt er zu dem Schluss, dass gerade bei dem, was wir als Klassiker wahrnehmen, z.B. Parmesan, Tomaten, Pasta, Olivenöl, Balsamico, die Herkunft (und manchmal leider auch Qualität) überwiegend fragwürdig ist.

Ein höchst unterhaltsamer Blick auf die Geschichte der italienischen Küche. Und wer sich nun weiter mit dem Thema beschäftigen möchte, findet im Anhang zwei Bibliografien mit Werken, denen Grandi seine Erkenntnisse verdankt: „Literatur, für diejenigen, die mir vertrauen“ und, wesentlich umfangreicher, mit „Literatur, für diejenigen, die mir misstrauen“.

Bewertung vom 10.07.2024
Das Gemüsekisten-Kochbuch
Hiekmann, Stefanie

Das Gemüsekisten-Kochbuch


ausgezeichnet

Als langjährige Bezieherin einer Bio-Gemüsekiste habe ich mich sehr über dieses Kochbuch gefreut. Ich koche täglich und schätze die Abwechslung auf dem Teller, weshalb ich immer auf der Suche nach neuen Rezepten bin, die die saisonalen Angebote von Gemüse, Salat und Obst berücksichtigen. Zusätzlich gibt es im Umland zahlreiche Hofläden, die sich mit ihrem Angebot ergänzen und in denen man ergänzend direkt beim Erzeuger einkaufen kann. Selbst die allseits beliebten Tomaten kann ich direkt beim Erzeuger einkaufen, werden sie doch in unmittelbarer Nähe unseres Wohnorts in hoher Qualität, umweltverträglich und ganzjährig angebaut. Beste Voraussetzungen also, wenn man auch Wert auf die kurzen Wege der Zutaten legt.

Anbau vor Ort und somit kurze Wege, saisonales Kochen und Abwechslung auf dem Teller. Wem diese Punkte wichtig sind, der sollte unbedingt zu Stefanie Hiekmanns Gemüsekisten-Kochbuch greifen.

100 Rezepte mit über 300 Variationen verspricht der Untertitel, und die Autorin löst dieses Versprechen ein. Gegliedert nach den zwölf Monaten stellt sie auf Doppelseiten jeweils fünf Gemüse mit schnickschnackfreien Fotos und den entsprechenden Rezepten vor. Als besonderen Clou gibt es zusätzlich, und das ist insbesondere für die weniger erfahrenen Hobbyköchinnen und –köche interessant, Ersatztipps für die Hauptzutat, falls diese nicht verfügbar sein sollte oder man sie nicht mag. Ergänzend dazu versorgt uns die Autorin auf separaten Seiten mit vertiefenden Zusatzinformation zu den Gemüsesorten und zusätzlichen Rezepten zu Basics, sowie Tipps zur Konservierung, was insbesondere für Gartenbesitzer sehr interessant ist.

Die Rezepte sind über wiegend, wie von einem Gemüse-Kochbuch erwartet, vegetarisch, teilweise aber auch vegan bzw. mit geringem Aufwand dahingehend abzuwandeln, aber auch Fleisch- oder Fischliebhaber kommen auf ihre Kosten. Sämtliche Rezepte sind unkompliziert und mit überschaubarem Zeitaufwand zu realisieren, die Zutaten halten sich in Grenzen und sind in jedem Bioladen bzw. Supermarkt erhältlich.

Mit diesem Kochbuch, das während des gesamten Jahres im Einsatz sein kann, ist Abwechslung angesagt. Langeweile auf dem Teller war gestern, also nichts wie ran an den Herd!

Bewertung vom 09.07.2024
Lost Places / Lopez, Rahn und Müller ermitteln Bd.1
Horst, Norbert

Lost Places / Lopez, Rahn und Müller ermitteln Bd.1


sehr gut

Jørn Lier Horst, Paul Finch und Norbert Horst. Was haben diese drei Autoren gemeinsam? Sie schreiben Kriminalromane, aber sie haben noch eine weitere Gemeinsamkeit. Alle drei haben bei der Kriminalpolizei gearbeitet, waren also auch mit Tötungsdelikten vertraut. Und diese Erfahrung fließt natürlich auch in ihre Bücher ein, die sich allesamt durch die realistischen Beschreibungen der Polizeiarbeit auszeichnen.

„Bitterer Zorn“, Band 4 der Steiger-Reihe und 2019 erschienen, war der letzte Krimi aus Norbert Horsts Feder, aber nun gibt es mit „Lost Places: Wo die Toten schweigen“ Nachschub, der Auftaktband einer neuen Reihe, die in und um Essen verortet ist und ein neues Dreier-Team einführt: Deniz Müller, KHK bei der Essener Kripo, Camilla Lopez, Staatsanwältin und Alexander Rahn, Journalist („nicht verwandt und nicht verschwägert“), die sich schon seit ihrer Schulzeit kennen. Eine interessante Figurenkonstellation, die mit Blick auf den Klappentext Vermutungen ins Kraut schießen lässt.

Drei Todesfälle, die auf den ersten Blick keine Gemeinsamkeit aufweisen. Drei Fundorte, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Drei Tote, deren Herkunft, Hintergrund und Lebensumstände keine Verbindungen zeigen. Und doch lassen sich während der kleinteiligen Ermittlungsarbeit und dem Auswerten der verschiedenen Hinweise Gemeinsamkeiten, aber auch bei genauerem Hinsehen ein Muster erkennen, was den Schluss zulässt, dass es sich um einen Serientäter handeln könnte.

In diesem Krimi gibt es weder Gewaltorgien noch Superhelden, da der Autor einmal mehr seine Erfahrungen aus seinem früheren Berufsleben einfließen lässt. Er zeigt, wie die verschiedenen Rädchen ineinandergreifen müssen, beschreibt Sammeln und Analyse der Informationen sowie die daraus logisch resultierenden Ergebnisse. Das ist weder trocken noch langweilig, sondern wirkt sich positiv auf die Spannung aus, deren Kurve im Verlauf kontinuierlich ansteigt.

Eine willkommene Abwechslung im Krimi-Einerlei, die die Vorfreude auf den Nachfolger „Sweet Home: Du bist nirgends sicher“ (erscheint im Januar 2025) wachsen lässt.

Bewertung vom 08.07.2024
Feuerjagd
French, Tana

Feuerjagd


ausgezeichnet

„Feuerjagd“ schreibt die in „Der Sucher“ begonnene Geschichte von Cal und Trey fort: Ardnakelty in Irlands Westen. Cal Hooper, Ex-Cop aus Chicago, fühlt sich wohl in der ländlichen Umgebung und hat seinen inneren Frieden gefunden. Die anfänglichen Vorurteile der Einheimischen scheinen weitgehend ausgeräumt, auch wenn er noch immer wahlweise als „Amerikaner“ oder der „Zugezogene“ bezeichnet wird. Und auch sein Privatleben läuft in ruhigen Bahnen. Die Beziehung mit Lena ist stabil und auch der Kontakt mit Trey, die so etwas wie eine Ersatztochter für ihn ist, hat sich intensiviert. Er hat sie unter seine Fittiche genommen, lehrt sie das Schreinerhandwerk und gibt ihr damit eine Perspektive, damit sie nach ihrem Schulabschluss auf eigenen Beinen stehen kann.

Dass die Idylle trügerisch ist, wird spätestens dann klar, als unverhofft deren Vater Johnny, der typisch smarte Glücksritter und Taugenichts, nach Jahren der Abwesenheit in Begleitung eines Engländers auftaucht und sich wieder in ihr Leben einmischt. Die beiden haben hochfliegende Pläne, hat doch die irische Großmutter des Engländers von einem Goldschatz erzählt, der angeblich im Flussbett darauf wartet, gehoben zu werden und alle reich zu machen. Doch dafür brauchen sie die Hilfe der Einheimischen. Die könnten das Gold gut gebrauchen, denn der außergewöhnlich heiße und trockene Sommer schadet der Landwirtschaft und der Viehzucht, gefährden die Existenz. Aber dennoch, die Reaktion der Dorfgemeinschaft ist nicht eindeutig. Von Zustimmung und Euphorie einerseits und Ablehnung und Misstrauen andererseit ist alles dabei. Nicht zu vergessen, die Wut, die sich Bahn bricht. Und die Rachepläne, die Trey schmiedet…

Wie wir es von anderen Romanen Tana Frenchs kennen, nimmt sich die Autorin Zeit, ihre Geschichte zu entwickeln. Ihre Personen sind komplex, deren Charakter sorgfältig entwickelt. Zeit und Raum, in denen sie sich bewegen, sind gespickt mit scheinbar nebensächlichen Informationen, die allerdings im Lauf der Handlung relevant werden. Landschaft und Dorfleben werden genauestens beschrieben und kreieren damit diese ganz besondere Atmosphäre, die wir zwar mit Irland verbinden, sich aber außerhalb der üblichen Klischees bewegt.

French richtet unseren Blick auf die großen Themen wie Menschlichkeit und Moral, auf persönliche Integrität und zwischenmenschlichen Beziehungen, auf Familie und Freundschaft, aber auch die sich daraus entwickelnde Loyalität, die durchaus widersprüchlicher Natur sein und dafür sorgen kann, dass sich moralische Grenzen verschieben. Sie ist eine Meisterin der Zwischentöne, Schwarz oder Weiß, Gut oder Böse gibt es bei ihr nur selten. Und damit kommt sie dem Kern der menschlichen Natur ziemlich nah.

Lest dieses Buch. Unbedingt!

Bewertung vom 04.07.2024
Reichlich spät
Keegan, Claire

Reichlich spät


sehr gut

Auf der Heimfahrt lässt Cathal die missglückte Beziehung mit Sabine Revue passieren. Er schon älter, geprägt durch die irisch-katholische Erziehung und die männlichen Vorbilder seiner Familie, mit einem Frauenbild im Kopf, das aus den fünfziger Jahren zu stammen scheint. Sie, eine lebensfrohe irisch-französische Frau, die mit beiden Beinen im Leben steht und auf den ersten Blick eigentlich alles in sich vereint, was er sich von seiner zukünftigen Ehefrau erhofft. Bis auf ihre Verschwendungssucht, und dann ist da ja auch noch der unnütze Krempel, den sie bei ihrem Einzug anschleppt und von ihm erwartet, dass er Platz macht. Und doch, wahrscheinlich hätte er ihr dieses Verhalten nach der Hochzeit schon ausgetrieben. Aber es hat nicht funktioniert, sie hat die Flucht ergriffen. Ist vielleicht auch besser so, denn eigentlich kann er froh sein, dass sie ging.

Die irische Autorin Claire Keegan beweist in ihrer kurzen Erzählung „Reichlich spät“ einmal mehr sehr eindrucksvoll, dass es nicht vieler Worte bedarf, um strukturelle Probleme der irisch-katholischen Gesellschaft aufzuweisen. Im vorliegenden Fall ist das die Geringschätzung, die Abwertung der Frauen, die tief in Cathal eingegraben ist, der nie gelernt hat, tolerant zu sein und einer Partnerin auf Augenhöhe zu begegnen.

Wer seinen Roddy Doyle gelesen hat, ist mit diesem Verhalten und den zugrunde liegenden Strukturen vertraut, weshalb die gerade einmal 50 Seiten, gesetzt in großer Schrift, wenig Neues bieten. Und leider verliert diese Erzählung durch die Kürze für mich ihre Eindringlichkeit, wirkt eher unfertig. Auch wenn das von Keegan so beabsichtigt war, mir fehlen hier Zwischenschritte sowie Sabines Reaktionen und Emotionen auf Cathals Verhalten. Warum hat Sabine die Alarmzeichen nicht früher erkannt und die Notbremse gezogen? Warum diese Passivität? Warum hat sie nicht die Auseinandersetzung gesucht? Warum ist sie nicht für sich eingetreten?

Leise Töne und verbale Verknappungen sind ja recht schön und gut, aber unterm Strich iwar mir das dann doch zu wenig des Guten.

3,5 von 5

Bewertung vom 03.07.2024
Ein Garten offenbart sich
de Vries, Katrin

Ein Garten offenbart sich


sehr gut

Ein Haus mit Garten, für viele ein Wunschtraum. So auch für Katrin de Vries, die es mit ihrer Familie zurück nach Ostfriesland zieht. Das traditionelle Backsteinhaus mit dem dazugehörigen großen Grundstück stellt sie allerdings anfangs vor eine große Herausforderung, braucht es doch, wenn man den gängigen Vorstellungen der Nachbarschaft gerecht werden will, jede Menge Zeit und körperlichen Einsatz, um die Natur in Schach zu halten. Die Grünflächen müssen wöchentlich gemäht, die Hecken im Frühjahr in Form gebracht, ihr Laub im Herbst entsorgt und die Beete permanent unkraut- und schädlingsfrei gehalten werden.

Aber es geht auch anders. Das ist eine Lektion, die die Autorin allmählich lernt. Dabei ist dieses Buch aber kein Ratgeber, eher eine meditative Betrachtung über Werden und Vergehen. Über die Freude an der Veränderung. Über die Vielfalt, die ohne menschliches Zutun entstehen kann.

Wieviel entspannter ist es doch, der Natur ihren Lauf zu lassen, die im Gegenzug mit üppigem Wachstum entschädigt. Und jeder Gartenbesitzer, der diesen Weg ebenfalls bereits eingeschlagen hat, wird das bestätigen können, vor allem nach den Regenmengen plus den dazwischenliegenden Sonnentagen der vergangenen Monate. So grün, so prall, aber auch so ertragreich war unser Garten schon seit langer Zeit nicht mehr.

Ein Garten offenbart sich...wenn man ihn nur lässt!

Bewertung vom 03.07.2024
Feuerprobe / Commissario Brunetti Bd.33
Leon, Donna

Feuerprobe / Commissario Brunetti Bd.33


sehr gut

Seit nunmehr über dreißig Jahren lässt uns Donna Leon, ehemals Wahlvenezianerin, aber mittlerweile im schweizerischen Graubünden ansässig, am Leben in Venedig teilhaben. Sie zeigt uns die negativen Veränderungen in Stadt und Gesellschaft, mit denen die Serenissima und ihre Bewohner zu kämpfen haben. Ganz gleich, ob das nun die Kreuzfahrtschiffe, die Touristenmassen, die Umweltsünden, die schleichende Übernahmen des historischen Erbes durch dubiose Investoren oder die behäbigen und nicht selten korrupten Verwaltungsapparate sind, Leon legt den Finger in die zahlreichen Wunden, die diesem Kleinod und seinen Bewohnern über die Jahre zugefügt wurden.

In „Feuerprobe“, Band 33 der Reihe, stehen Brunetti, Griffoni und Kollegen vor einer neuen Herausforderung. Rivalisierende Jugendbanden machen Venedig unsicher. Ohne besonderen Anlass, lediglich getrieben von Langeweile, Frust und der Freude an der Gewalt, verabreden sie Treffpunkte, um ihre Kräfte in testosterongeschwängerten Auseinandersetzungen zu messen.

Dies ist allerdings nur der Ausgangspunkt, der berühmte Stein, der ins Wasser geworfen wird, immer größere Kreise zieht und zurück ins Jahr 2003 führt, als bei einem Attentat im irakischen Nassiriyah 19 Italiener, Angehörige der MSU Carabinieri, getötet wurden. Einer der Überlebenden wurde von Medien und Öffentlichkeit zum Helden erklärt, aber von offizieller Seite nie mit einem Orden ausgezeichnet.

Ein weiterer, zeitgleicher Handlungsstrang thematisiert das krimineller Verhalten einer Gruppe italienischer Einsatzkräfte während des Krieges im Irak, die skrupellos wertvolle Artefakte aus dem Land schmuggelten und zu Höchstpreisen an Kunstliebhaber in der Heimat verkauften. Einer dieser Sammler ist Enzo Bocchese, ein Kollege von Brunetti, Er wird in seiner Wohnung überfallen, wobei er nicht nur körperlich attackiert wird, sondern der Täter auch noch einen Großteil seiner Beutekunst-Sammlung zerstört.

Die Verbindung zwischen diesen verschiedenen Handlungssträngen, die einmal mehr sowohl Brunettis als auch Griffonis Verständnis von Recht und Gerechtigkeit auf die Probe stellen, sind zwei Mitglieder der Baby-Gangs. Der eine ein Mitläufer, Sohn des „Helden von Nassiriyah“ und voller Bewunderung für seinen Vater, der andere der Anführer der Rivalen, ein gewalttätiger Dummkopf, der im gleichen Haus wie Brunettis Kollege wohnt.

Interessante Szenarien, aber dennoch fehlt etwas. Donna Leon führt uns zwar wie immer souverän durch die unterschiedlichen Handlungsstränge, geht aber diesmal aufgrund der Themenvielfalt weniger als gewohnt in die Tiefe. Und auch die reflektierenden Gespräche zwischen Guido und Paola bleiben diesmal weitgehend außen vor. Wie auch Vianello, der im wohlverdienten Urlaub entspannt. Signora Elettra und der Vice Questore tauchen nur am Rand auf, dafür rückt Claudia Griffoni interessanterweise mehr ins Zentrum, bleibt aber wie meist eher blass. Spielt die Autorin etwa mit dem Gedanken, den Staffelstab weiterzureichen? Ich hoffe nicht.

Bewertung vom 01.07.2024
Signum / Stormland Bd.2
Lindqvist, John Ajvide

Signum / Stormland Bd.2


gut

Dass die Rechteinhaber von Stieg Larssons Millennium-Trilogie John Ajvide Lindqvist die Fortsetzung der Reihe nicht zutrauten, dürfte wohl hinreichend bekannt sein, auch dass dieser gegenüber Karin Smirnoff den Kürzeren gezogen hat. Aber offenbar war er von der Qualität seiner Ideen so sehr überzeugt, als dass er diese ad acta legen wollte. Und so wurde bei Lindqvist aus Blomkvist Julia Malmros und aus Salander Kim Ribbing.

Kurz zum Inhalt: Ribbing will sich an seinem Peiniger, dem Psychiater Martin Rudbeck, rächen. Er entführt ihn, hält ihn gefangen und traktiert ihn mit den gleichen Methoden, mit denen dieser den damals wehrlosen Jungen „behandelt“ hat. Malmros steckt in einer Sinnkrise. Ihre Romane sollen verfilmt werden, aber man wirft ihr vor, diese seien unrealistisch. Es muss also ein Thema her, das die gegenwärtigen Probleme der schwedischen Gegenwart aufzeigt, und was liegt da näher als der Rechtsruck in der Gesellschaft, weshalb sie über die Organisation der „Wahren Schweden“ recherchiert.

Der Autor kommt aus dem Horrorgenre, kann mit drastischen Beschreibungen umgehen, was sich explizit in den ausführlichen Schilderungen der Folterszenen zeigt, die einen direkten Bezug zu Lisbeth Salanders Rache an ihrem Vormund Nils Bjurman haben, aber wesentlich plumper daherkommen und auf Schockeffekte ausgelegt sind. Ich bin wahrlich nicht zimperlich, aber mir hätten hier Andeutungen genügt.

Lindqvist zeigt Schwächen. Die Charakterisierung der Protagonisten scheint seit „Refugium“ (Teil 1) abgeschlossen zu sein. Und er ist geschwätzig, hält sich nicht an die Show don’t tell-Regel. Das Vertrauen in die Leser fehlt, also plappert er erstmal drauflos, schiebt aber die entsprechenden Erklärungen meist mit geringer Verzögerung nach. Tja, und das Thema Rechtsradikalismus? Ist ausgelutscht, weil es in skandinavischen Krimis/Thrillern fast schon inflationär präsent ist.

Das geht besser, Herr Lindqvist!

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 27.06.2024
Bretonische Sehnsucht / Kommissar Dupin Bd.13
Bannalec, Jean-Luc

Bretonische Sehnsucht / Kommissar Dupin Bd.13


sehr gut

Wie wäre es mit einem Kurzurlaub in der Bretagne? An einem Ort, wo die seit Jahrhunderten überlieferten Legenden und Traditionen zum Alltag gehören? Dann nicht wie hin, auf die Île d‘Oeussant. On y va!

Auf diese kleine, von Stürmen umtoste Insel im Nordwesten der Bretagne verschlägt es Georges Dupin, wo er auf Anweisung von oben in einem ungeklärten Todesfall ermitteln soll. „Oben“ ist in diesem Fall der wie immer nervige Präfekt Locmariaque, dessen Nichte dort lebt und zu den „Sirenen“ gehört, fünf Frauen, die das musikalische Erbe der keltischen Vergangenheit bewahren. Und jede von ihnen hatte zu Lionel Saux, dem Toten, regelmäßig Kontakt.

Und wir ahnen es schon, Saux ist keines natürlichen Todes gestorben. Er war ein Mann mit großen Plänen, ist er damit vielleicht jemandem auf die Füße getreten? Dupin ist ratlos, weiß nicht, wo er ansetzen soll. Doch dann gibt es zwei weitere Todesopfer, und bei allen finden sie die gleiche rituelle Beigabe…

Die Dupin-Reihe lese ich nicht wegen der Krimi-Elemente, sondern wegen des bretonischen Flairs, die ihr eigen ist und von Jean-Luc Bannalec so gekonnt transportiert wird. Das habe ich in den letzten Bänden allerdings sehr vermisst. Umso mehr konnte mich „Bretonische Sehnsucht“ begeistern, denn hier bekommen wir eine geballte Ladung an wunderbar atmosphärischen Landschaftsbeschreibungen, die zum Kofferpacken animieren. Damit aber nicht genug, denn wir werden, wie Dupin, von Madame Jaouen, einer Conteuse (Bewahrerin des alten Wissens), ergänzt durch die „Vorträge“ von Dupins Assistent Riwal in das Brauchtum, die Legenden sowie die mystischen Wesen, kurz in das keltisch-druidische Erbe der aus der Zeit gefallenen Île d‘Oeussant eingeweiht.

Die perfekte Urlaubslektüre, im Idealfall in der Bretagne lesen, aber zuhause geht natürlich auch!

1 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 22.06.2024
Wenn die Nacht endet / Die Halland-Krimis Bd.3
Carlsson, Christoffer

Wenn die Nacht endet / Die Halland-Krimis Bd.3


sehr gut

Es ist kurz vor dem Jahrtausendwechsel, eine strukturschwache Region im Niedergang. Null Perspektiven für Jugendliche. Sie kennen sich seit Kindertagen, hängen miteinander ab, langweilen sich. Manche sind auf dem Sprung, andere wie festgenagelt. Freundschaften werden auf die Probe gestellt. Ablenkung bieten einzig die kollektiven Treffen aka Besäufnisse an den Wochenenden, bei denen sich mehr oder weniger regelmäßig die Frustration in Prügeleien entlädt.

Als der 18-jährige Mikael an dem Morgen nach einer solchen Party tot aufgefunden wird, stellt sich für die Polizei natürlich die Frage, ob der Täter in der Clique zu finden ist. Sie machen zwar zwei Verdächtige aus, können ihnen aber nichts nachweisen.

Zwanzig Jahre später wird Mikaels Bruder ermordet. Vidar Jörgensson ermittelt und stößt natürlich auf den ungeklärten Mord an Mikael.

„Wenn die Nacht endet“ ist der abschließende Band der Halland-Trilogie des Schweden Christoffer Carlsson (nicht nur Schriftsteller, sondern auch promovierter Kriminologe), der für diesen Roman sowohl mit dem Schwedischen als auch mit dem Skandinavischen Krimipreis ausgezeichnet wurde.

In seinen Romanen gibt es zwar immer Gewaltverbrechen, aber im Gegensatz zu den meisten Krimiautoren legt Carlsson wenig Wert auf die detaillierte Beschreibung der Ermittlungsarbeit. Vielmehr versucht er aufzuschlüsseln, weshalb jemand zum Täter wird und welche Auswirkungen die Tat schlussendlich sowohl für dessen persönliches Umfeld als auch für Familie und Freunde des Opfers hat. Er stellt die alte Frage nach Schuld, nach persönlicher Moral, aber auch nach dem Versagen einer Gesellschaft, die sich ihrer Verantwortung nicht stellt.

Zwar nicht ganz so herausragend wie der Vorgänger, aber mit seinem feingezeichneten Figurenensemble sowie dem hohen sprachlichen Niveau des Autors, hebt sich auch dieser Roman von der üblichen skandinavischen Massenware ab und wird allen empfohlen, die auch in Kriminalromanen literarische Qualität zu schätzen wissen.