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alekto

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Insgesamt 118 Bewertungen
Bewertung vom 11.04.2023
The Atlas Paradox / Atlas Serie Bd.2 (eBook, ePUB)
Blake, Olivie

The Atlas Paradox / Atlas Serie Bd.2 (eBook, ePUB)


sehr gut

Nicht ganz so gelungene Fortsetzung der Atlas-Reihe mit starkem Schluss

Nachdem im Finale von "The Atlas Six" die Leiche der Physiomagierin Libby Rhodes von Illusionist Tristan Caine als Animatur entlarvt wurde, haben die verbliebenen Atlas Six nach der verschwundenen Libby gesucht. Doch fehlt auch einen Monat später noch jede Spur von ihr. So geht das Leben in der Alexandrinischen Bibliothek weiter und für die verbliebenen fünf Auserwählten steht nun ihre Initiierung bevor. Darüber werden sie von Kurator Atlas Blakely und Forscher Dalton Ellery im Unklaren gelassen, wenn sie lediglich erfahren, dass es sich dabei um eine Art von Spiel ohne Regeln handelt.

Zum Einstieg von "The Atlas Paradox" stellt Olivie Blake umfangreiches Material zur Verfügung. Weil ich den ersten Band der Atlas-Reihe noch ganz gut in Erinnerung hatte, ist mir diese Überleitung auch vor dem Hintergrund, dass die sich in den ersten, aus Sicht der Atlas Six geschilderten Kapitel fortgesetzt hat, ein wenig zu lang geraten. So hat sich Olivie Blake für meinen Geschmack zu viel Zeit damit gelassen, bis die Handlung dann doch noch in die Gänge kommt.
Die aus „The Atlas Six“ bekannte Erzählweise in reihum wechselnden Perspektiven wird im zweiten Band der Reihe nahezu unverändert beibehalten, entwickelt sich dabei immer mehr zum Korsett, das nicht recht passen will und stellenweise der an sich interessanten Geschichte die Luft abschnürt. Denn die sich verschiebenden Allianzen unter den verbliebenen Atlas Six, die nach der erfolgten Initiierung um ihre Forschungsgebiete ringen, ist weit weniger spannend als im Vorgänger ausgefallen, weil dabei die moralische Fallhöhe fehlt, die auf einen Mord an einem von ihnen hinausläuft.
In den nach wie vor als Kammerspiel inszenierten Scharmützel in der Bibliothek tritt die Handlung über weite Strecken auf der Stelle. Daran ändert auch wenig, dass die Protagonisten plötzlich ganz andere Wesenszüge zeigen. Indem die präzise ausgearbeitete Charakterisierung der Hauptfiguren eine der großen Stärken des Vorgängers gewesen ist, wirkte das eher irritierend auf mich.

Um den Roman interessanter zu gestalten, hätte sich angeboten, den zweiten Band der Reihe stärker vom Vorgänger abzugrenzen. Denn als besonders gelungen habe ich "The Atlas Paradox" genau dann empfunden, wenn Olivie Blake die beschränkte Welt der Alexandrinischen Bibliothek hinter sich gelassen hat. Das ist in den Kapiteln von Libby, dem Zeitreisenden Ezra und dem Träumer Gideon der Fall. Dabei entwickelte sich insbesondere Gideon für mich zum Sympathieträger, dessen erstes Kapitel zwar noch stark an Inception erinnert hat. Im weiteren Verlauf schaffte es aber die Autorin ihren Szenen aus der Traumwelt eine ganz eigene Note zu verleihen. Das wird besonders deutlich in Gideons Konfrontation mit Telepathin Parisa.
Spannender wäre "The Atlas Paradox" ausgefallen, wenn Olivie Blake Gideon, Libby und Ezra als Sprungbrett genutzt hätte, um die von ihr in "The Atlas Six" angedeutete, phantastische Welt jenseits der engen Grenzen der Alexandrinischen Bibliothek zu erforschen. Dafür hätten sich die von Gideon erkundeten Traumreiche ebenso wie der Handlungsstrang, der auf einer zweiten Zeitebene in der Vergangenheit angesiedelt ist, angeboten. Leider beweist die Autorin zudem eine Schwäche beim Timing, das sich gerade in der Entscheidung zeigt, von welchen Stunden oder Tagen sie erzählt und welche Ereignisse sie überspringt, um sie dann nur im Rückblick kurz anzuschneiden. Denn dabei werden häufig gerade die spannendsten Stellen ausgelassen wie beispielsweise beim Aufeinandertreffen von Ezra und Libby nach deren Entführung. Da währenddessen in der Bibliothek nicht sonderlich viel passiert, haben sich so Längen eingeschlichen, die hätten vermieden werden können.

Am besten haben mir der letzte Teil "IX Olymp" und das offene Ende gefallen, weil Olivie Blake darin mit einigen überraschenden Wendungen aufzuwarten hatte. Auch die gelungene Umsetzung die Lebensgeschichte einer Nebenfigur aus deren Sicht im Zeitraffer abzuspulen, hat mich überzeugt. Dieser Ansatz ist aus dem ersten in den zweiten Band der Reihe übernommen worden, hebt sich aber vom Vorgänger dadurch deutlich genug ab, dass eine ganz andere Figur in deren Mittelpunkt gestellt wurde.
Im Finale von "The Atlas Paradox" hat die Autorin sogar einen actiongeladenen Showdown untergebracht, der seine eigenwillige Dynamik den magischen Fähigkeiten, die Hexer und Medäer im Kampf einsetzen, verdankt, und der Bibliothek wird das Opfer dargebracht, auf das sie schon lange gewartet hat. Mit Libby, Gideon und Dalton durchlaufen die Figuren, die für mich in diesem Roman am interessantesten gewesen sind, eine glaubwürdig geschilderte Entwicklung, für die die Autorin einen passenden Abschluss gefunden hat. Weil ich die sich in den letzten Kapiteln andeutenden neuen Allianzen teils als unerwartet, teils als vielversprechend empfunden habe, bin ich nun schon auf die Fortsetzung der Atlas-Reihe gespannt.

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Bewertung vom 09.04.2023
Abschied auf Italienisch / Commissario Grassi Bd.1
Bonetto, Andrea

Abschied auf Italienisch / Commissario Grassi Bd.1


sehr gut

Mehr antike Tragödie als in Ligurien angesiedelter Cosy Crime

Commissario Vito Grassi hat von seinem Vater nach dessen Tod ein Haus in Levanto geerbt, das in den letzten Jahren von dessen Leben zu seinem Projekt geworden ist. Aus einer Laune heraus lässt er sich von Rom nach Ligurien versetzen. Dabei stößt Grassi aber schon bei seiner Ankunft auf unerwartete Probleme in Gestalt von seiner neuen Mitbewohnerin Toni. An deren Verschlossenheit beißt Grassi sich die Zähne aus, muss sich jedoch mit ihr arrangieren, weil sie für ihn die letzte Verbindung zu seinem verstorbenen Vater ist. An seinem ersten Arbeitstag führt ihn sein Weg zur Carabinieri-Station in La Spezia an einem Tatort vorbei. In einem Tunnel wurde die Leiche von Luisa Amoretti aufgefunden. Die Polizei vor Ort geht von einem Unfall aus. Doch Grassi hat da seine Zweifel.

"Abschied auf Italienisch" ist der erste Fall für Commissario Vito Grassi in seiner neuen Wahlheimat Ligurien. Mit Grassi hat Andrea Bonetto einen kantigen Charakter für seine Krimi-Reihe ersonnen, der als Kollege zwar wenig umgänglich ist, auf dessen auf seiner langjährigen Erfahrung basierenden Instinkt aber Verlass ist. Im Fall von Luisa Amoretti ermittelt er an der Seite seiner jungen Kollegin Marta Ricci und wird von Rechtsmediziner Penza unterstützt. Dabei fällt Ricci durch ihren extravaganten Kleidungsstil auf und Dottore Penza durch seine unwillkürlichen Pfeifkonzerte, die jede Situation mit der passenden Melodie unterlegen.
Zu Beginn stehen für einen Cosy Crime typische Elemente im Vordergrund. Eine Hauptrolle spielt dabei die malerische Schönheit des idyllischen Ligurien. Die lässt sich in der Aussicht vom Grundstück, das Grassi von seinem Vater geerbt hat, oder auf einer Fahrt mit dem Roadster entlang der Küste genießen. Da mir die Gegend von Levanto bis La Spezia zuvor nicht bekannt gewesen ist, habe ich die in der Rückseite des Einbandes enthaltene Karte von Ligurien als hilfreich empfunden.
Humorvolle Szenen ergeben sich bei Andrea Bonetto aus den skurril angelegten Figuren, die doch sympathisch rüberkommen, sowie der Akklimatisierung des Städters Grassi an das Landleben. Letztere verläuft nicht ohne Probleme, wenn Grassi mit dem fehlenden Handynetz, der langsamen Internetverbindung und den nicht vorhandenen Lademöglichkeiten für seinen Roadster zu kämpfen hat. Zu den schrägen Figuren zählt neben Dottore Penza etwa auch Francesco, der im Dunkeln ausgestattet mit einem Nachtsichtgerät und bewaffnet mit einem nicht geladenen Jagdgewehr über Grassis Grundstück schleicht, um Toni zu beschützen.

Da zudem das Kompetenzgerangel der verschiedenen italienischen Polizeiorganisationen im Mittelpunkt steht, dauert das eine ganze Weile, bis die Ermittlung im Fall von Luisa Amoretti in die Gänge kommt. Solange Luisas Tod als Unfall angesehen wird, ist der Capitano der Carabinieri Bruzzone für dessen Untersuchung zuständig. Erst als sich die Hinweise auf ein Verbrechen nicht von der Hand weisen lassen, übernimmt die Polizia di Stato, die durch Grassi und seine neue Chefin Questore Feltrinelli vertreten wird.
Wenn die Ermittlung dann Fahrt aufnimmt, schaltet Andrea Bonetto von seiner eingangs ruhigen Erzählweise ein paar Gänge hoch. Dabei baut er die Handlung seines Krimis logisch auf. Dieser Schreibstil bringt jedoch den Nachteil mit sich, dass ich insbesondere aufgrund von nur wenigen, unzureichend ausgebauten falschen Fährten den größten Teil der Auflösung recht früh vermutet habe. So konnte mich "Abschied auf Italienisch" in seinem weiteren Verlauf mehr als Drama überzeugen, da die in seinem Kern beinhaltete Geschichte für mich Züge einer klassischen griechischen Tragödie aufgewiesen hat. Die Abgründe, die sich im Leben der daran beteiligten Figuren aufgetan haben, hat Andrea Bonetto glaubhaft für mich werden lassen.
Leider ist es dem Autor nicht gelungen, die unterschiedlichen Teile seines Romans zu einem in sich stimmigen Ganzen zusammenzufügen. Denn der Krimi beginnt als ein um Lokalkolorit angereicherter Cosy Crime, um dann als intensives Drama, das seine Tragik aus der Fallhöhe seiner Figuren bezieht, zu enden. Indem ich den Schluss dieses Buchs als stärker als dessen Einstieg, der für meinen Geschmack ein wenig langatmig ausgefallen ist, empfunden habe, hätte ich mir gewünscht, dass "Abschied auf Italienisch" sich auf das Drama konzentriert und auf den Großteil seiner Cosy Crime-Elemente verzichtet hätte. Davon hätte ich nur die besondere Kulisse der malerischen Küste Liguriens beibehalten, weil diese ein ungewohnter, zumindest mir zuvor nicht bekannter Schauplatz ist, der einen interessanten Kontrast zu den dort aufgefundenen Leichen bildet. Um den düsteren Unterton, der im späteren Verlauf dieses Krimis mehr hervortritt, zu betonen, hätte sich angeboten etwa dem über dem Totenbett seiner Mutter zwischen Grassi und seinem Vater eskalierenden Konflikt und Grassis Verwicklungen in Mafia-Fälle während seiner Zeit als Polizist in Rom mehr Raum zu geben.

Bewertung vom 04.04.2023
Suzukis Rache (eBook, ePUB)
Isaka, Kotaro

Suzukis Rache (eBook, ePUB)


sehr gut

Abwechslungsreich erzählter Auftragsmörder-Thriller mit Mystery-Elementen und schwachem Schluss

Suzuki, der Mathematik Lehrer an einer Mittelschule gewesen ist, hat vor zwei Jahren seine Frau verloren, als sie von einem Auto angefahren worden ist. Seitdem sinnt er auf Rache. Nun verhökert er schon einen Monat lang Diätprodukte an junge Frauen, die er im Auftrag der Agentur in Einkaufspassagen anspricht. Dabei wartet er nur auf eine Gelegenheit nah genug an den Sohn seines Chefs Terahara heranzukommen, weil dieser der Mörder seiner Frau ist. Doch dann wird er von der Agentur gezwungen ein junges Pärchen zu betäuben und zu entführen. Denn Suzuki soll das ihm entgegengebrachte Misstrauen entkräften, indem er die beiden tötet und so zum vollwertigen Mitglied der Organisation aufsteigt.

Kotaro Isaka erzählt seinen Thriller abwechslungsreich aus verschiedenen Perspektiven. Dazu zählt neben der Sichtweise von dem auf Rache sinnenden Mathematik Lehrer Suzuki auch die Sicht der Auftragsmörder, die sich der Wal bzw. die Zikade nennen. Diese wechseln reihum, also von Suzuki zum Wal zur Zikade und wieder zurück zu Suzuki.
Der Wal, der bereits lange im Geschäft ist, hat die perfide Weise, auf die die Opfer seiner Aufträge ihren Tod finden, perfektioniert, obgleich er sich dabei deren moralischer Komponente durchaus bewusst ist. Sein zynischer Blick auf die mit ihm interagierenden Menschen wird nur von der Lektüre eines einzigen Romans unterbrochen, den er wieder und wieder liest. Doch in jüngster Vergangenheit wird die Realität immer häufiger von den Geistern der von ihm Ermordeten verdrängt, von denen er heimgesucht wird. Auch Suzuki hat mit einem moralischen Zwiespalt zu kämpfen. Denn um den Tod seiner Frau zu rächen, hat er naive Mädchen in die Sucht getrieben. Suzuki belastet es, wenn Unschuldige im Zuge seiner Rache zu Schaden kommen. Im Vergleich zum Wal und zu Suzuki ist die wenig ambivalent beschriebene Zikade die schwächste Figur. Die Zikade, die darauf spezialisiert ist ganze Familien auszulöschen, tötet ohne Zögern Frauen und Kinder, wenn er die Auftragsmorde ausführt, die andere ablehnen.
Neben den drei genannten Protagonisten hat Kotaro Isaka mich mit seinen skurrilen Nebenfiguren überzeugt. Dazu gehören etwa Zikades Boss Iwanishi, der für jede Lebenslage ein Zitat seines Idols Jack Crispin parat hat, oder der Obdachlose Tanaka, der dem Wal zumindest den Ansatz einer Erklärung für seinen Realitätsverlust liefert.

Das Spannungslevel war zu Beginn dieses Thrillers hoch, als schon das erste Suzuki Kapitel mit einem Paukenschlag endete, den ich so nicht habe kommen sehen. Auch die Erzählweise aus unterschiedlichen Perspektiven, bei der die zynisch düstere Lebensphilosophie des Wals auf den politisch inkorrekten, nach allen Seiten austeilenden Humor der Zikade traf, konnte mich in den unerwarteten Wendungen, in denen die verschiedenen Handlungsstränge aufeinandertrafen, überraschen.
Nach dem starken Einstieg hat Kotaro Isaka das jedoch nicht vermocht, die Spannungskurve auf diesem hohen Niveau zu halten. Obwohl Suzukis Ringen mit seinem inneren moralischen Kompass nachvollziehbar geschildert wird, hatten gerade seine Kapitel im Mittelteil dieses Thrillers ihre Längen für mich. Der Spannung hätte gut getan, wenn diese kürzer ausgefallen wären, da sich Suzukis Gedankengänge ab einem gewissen Punkt im Kreis gedreht haben, als der Autor diesen keine neue Komponente mehr hinzuzufügen hatte.
Als gelungener hätte ich empfunden, wenn der Autor die Gelegenheit genutzt hätte statt seine Handlung in den Suzuki-Kapiteln mehr oder weniger auf der Stelle treten zu lassen seinen Auftragsmörder-Kosmos zu erweitern, indem er zusätzliche Perspektiven eingeführt hätte. Dabei hätten mich neben der Sicht von bereits genannten Nebencharakteren wie Zikades Chef Iwanishi und dem Obdachlosen Tanaka auch die von Terahara, dem Boss der Agentur, seiner Mitarbeiterin Hiyoko und von anderen Auftragsmördern wie dem Pusher oder der Hornisse interessiert.

Leider konnte mich auch das Finale von Suzukis Rache nicht überzeugen. Zwar hat Kotaro Isaka, indem er mir einen klassischen, ebenso actiongeladenen wie ausufernden Showdown in übertriebenem Maßstab vorenthalten hat, konsequent die zuvor geschürte Erwartungshaltung unterlaufen. So konnte mich die Auflösung, die ich in dieser Form nicht habe kommen sehen, überraschen. Dabei hätte es jedoch zumindest für mich weiterer Erklärung bedurft. Wer hat etwa den zuletzt aus dem Nichts auftauchenden Wagen gelenkt? Auch hätte ich mir gewünscht, dass der Autor seine Mystery-Elemente konsequenter aufgebaut hätte, indem er diese mit zusätzlichen Begründungen unterlegt hätte. Denn zuvor haben diese abgesehen von einem einzigen Gespräch zwischen dem Wal und Tanaka nur dazu gedient, die Spannungsschrauben in den Zweikämpfen des Wals anzuziehen, indem dieser an sich überlegene Gegner aufgrund seiner durch Wahnvorstellungen bedingten Aussetzer gehandicapt ist.

Bewertung vom 02.04.2023
Stories (eBook, ePUB)
Williams, Joy

Stories (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Abwechslungsreich erzählte Kurzgeschichten mit großer Bandbreite abgedeckter Themen

Gloria, die einen Hirntumor hat, besucht ihre Freundin Jean und deren knapp zehnjährige Tochter Gwendal. Jean, die Ex-Männer sammelt, ist nun bei Nummer vier angekommen. Obwohl Jean nicht weiß, dass Gloria bald sterben wird, möchte sie mit ihr eine schöne Zeit haben, wenn die beiden Jeans in der Nähe wohnende Ex-Männer besuchen. Doch für Gloria wird der Besuch bei Jean gänzlich unerwartet zum Ausgangspunkt eines ungewöhnlichen Roadtrips.

Neben "Der kleine Winter" enthält dieser Kurzgeschichtenband zwölf weitere Stories von Joy Williams. Dabei deckt die Autorin eine erstaunliche Bandbreite ab. Die Geschichten sind meist aus weiblicher Sicht geschildert. Wenige Ausnahmen davon stellen die Stories "Die letzte Generation", "Die blauen Männer" und "Liebe" dar, die die Perspektive des kleinen Tommy, der gerade seine Mutter bei einem Autounfall verloren hat, des erst 13 Jahre alten Bomber Boyd, dessen Vater hingerichtet wurde, und des Predigers Jonas, dessen Frau an Krebs erkrankt ist, beschreiben.
Skurrile Motive, die die Stories von Joy Williams prägen, ziehen sich fast Leitmotiv artig durch diesen Kurzgeschichtenband. Dabei kann es sich um ein außergewöhnliches Haustier handeln oder die Zuneigung zu einem nachtschwarz lackierten, aber durch und durch von Rost durchzogenen Ford Thunderbird. Das setzt sich in schrägen Nebenfiguren fort. Beispiele dafür sind die kleine, dicke Gwendal, die unbedingt eine Biographie schreiben möchte ("Der kleine Winter") und Audrey, die Dinge wie etwa ein Buch über Eisberge stiehlt, nur um sie dann wieder zurückzubringen ("Die letzte Generation"). Zudem greift Joy Williams auf morbide Themen zurück. So spricht Mr Muirhead im Zug über berühmte Friedhöfe und in der "Mutterzelle" trifft sich eine Art Selbsthilfegruppe, die aus Müttern berühmter Mörder besteht.

Neben den ungewöhnlichen Motiven, die ihren Geschichten einen besonderen Touch verleihen, erzählt Joy Williams von den Dramen im Leben ihrer Figuren. Dabei zeichnet sich ihr Schreibstil durch ihre genaue Beobachtungsgabe aus. In "Der kleine Winter" ringt Gloria mit ihrem drohenden Tod. Trotz der Kürze der Geschichte deckt die Autorin ein breites Spektrum an Gefühlen von Gloria ab. So trinkt sie zu viel, ist oft launisch, aber auch schnell erschöpft. Meist verdrängt sie aber das bevorstehende Ende, wenn sie sich etwa unbedingt einen Hund zulegen will. In der "Mutterzelle" setzen sich die Mütter, die nichts von den Taten ihrer Kinder ahnten, bevor diese als Mörder überführt wurden, mit dem schwierigen Verhältnis zu ihren Töchtern und Söhnen auseinander. Dabei ist die Story bewusst ambivalent gehalten, wenn die eine Mutter sich absolut von ihrem Sohn abgenabelt hat, als sie die Erinnerungen an dessen Kindheit weggeworfen hat, aber die Beziehung einer anderen Mutter zu ihrem Kind komplexer ausfällt, indem sie teilweise an ihm festhält, da sie sich erinnert, wie er ganz früher gewesen ist.

Dieser Kurzgeschichtenband hat mich mit seinem Abwechslungsreichtum und der großen Bandbreite darin abgedeckter Themen (u.a. Alkoholabhängigkeit, psychische Erkrankungen, Todesstrafe) überzeugt. Dabei gleicht keine Geschichte einer anderen. Der Schreibstil von Joy Williams wird von ihrer besonderen Stärke geprägt, mir die auf nur wenigen Seiten oder in nur einigen Abschnitten eingeführten Figuren nahe zu bringen. Die gekonnte Vorstellung ihrer Charaktere fällt sogar dann prägnant aus, wenn sie dabei eine ganze Lebensgeschichte abreißt. So schildert die Autorin etwa die Beziehung des 25 Jahre älteren Dwight zu seiner Frau Lucy beginnend bei deren erster Begegnung, als Lucy noch ein Baby gewesen ist, um deren weiteren Verlauf im Zeitraffer über Dwights Geschenke an die junge Lucy abzuspulen ("Rost"). Im Gegensatz zur prägnanten Vorstellung ihrer Figuren steht das meist offene Ende der in diesem Band versammelten Kurzgeschichten, so dass diese eher Momentaufnahmen aus dem Leben der darin betrachteten Personen darstellen, die die Autorin damit in deren Mittelpunkt rückt.
Nicht jede der Stories hat meinen Geschmack gleichermaßen getroffen. Generell habe ich die aus weiblicher Sicht geschilderten Geschichten als gelungener empfunden, da mir deren Perspektive glaubwürdiger vermittelt wurde. Auch haben mir die Stories besser gefallen, die ohne übertrieben dramatische Wendungen ausgekommen sind. Ein Negativbeispiel ist der Schluss des "Besuchsrechts", der sich aus der extremen, in einen Gewaltausbruch mündenden Reaktion einer Nebenfigur ergibt. Stärker sind für mich die Geschichten ausgefallen, die die Autorin ganz um die von ihr entworfenen Figuren und deren Beziehungen zueinander kreisen lässt, wenn diese für sich selbst sprechen können, indem nur deren gewöhnliche Handlungen beschrieben werden. So stellt etwa die Story "Auswege", in der aus dem Alltag der kleinen Lizzie erzählt wird, deren Mutter Alkoholikerin ist, einen gelungenen Abschluss für diesen Kurzgeschichtenband dar.

Bewertung vom 01.04.2023
Brüderchen (eBook, ePUB)
Dupont-Monod, Clara

Brüderchen (eBook, ePUB)


sehr gut

Ungewöhnlich erzähltes Familienporträt um das Brüderchen

Mutter und Vater, die in einem Bergdorf in den Cevennen leben, haben einen Sohn und eine Tochter, als sie ein weiteres Kind bekommen. Bei der Geburt des Babys sind alle glücklich. Doch allmählich schleicht sich der Verdacht ein, dass das Kind blind ist. Sich daran anschließende Untersuchungen übertreffen die schlimmsten Befürchtungen. Denn das Brüderchen kann nicht sehen, nicht sprechen und nicht greifen. Nur hören kann es. Mit dieser Diagnose bricht die Welt der Eltern zusammen und das Drama nimmt seinen Lauf.

Brüderchen von Clara Dupont-Monod ist in drei Teile gegliedert ("Der große Bruder", "Die Schwester", "Der Nachgeborene"), die von den Geschwistern des Kindes und deren Beziehung zu ihm erzählen. Ungewöhnlich ist die Perspektive, aus der die Geschichte dieser Familie geschildert wird. Denn das ist die Sichtweise der rötlichen Steine im Hof, die das Drama der Familie miterleben. Dabei stehen die Steine stets auf der Seite der Kinder, weil sie die einzigen sind, die mit ihnen spielen.
Während die Eltern damit befasst sind den unerbittlichen Kampf gegen die Tretmühlen der Bürokratie anzutreten, um Hilfe für ihr behindertes Kind zu beantragen, kümmert sich der älteste Sohn um das Brüderchen. Er wechselt seine Windeln, füttert ihm Brei und bringt er das Kind hinaus in die den Hof umgebenden Wiesen und Wälder, damit es deren Schönheit hören kann. Gerade vor dem Hintergrund der Natur findet Clara Dupont-Monod starke Bilder für die Art von Frieden, die das in sich ruhende Kind hat.

Das erste Drittel des Romans ist ein eindringliches Porträt der intensiven Beziehung des großen Bruders zu dem Kind, das so emotional berührend wie gelungen ausgefallen ist, da die Autorin auf zu viel Pathos verzichtet und Klischees vermeidet. Dass Clara Dupont-Monod dabei immer wieder zukünftige Ereignisse im Leben des großen Bruders mit einfließen lässt, ist zwar kunstvoll umgesetzt. Damit hat die Autorin aber stellenweise zu viel für mich vorweg genommen, so dass mir eine rein chronologische Erzählweise besser gefallen hätte.
Nach dem großen Bruder wird die Beziehung seiner älteren Schwester zum Brüderchen geschildert. Interessant ist am Wechsel der Sichtweisen der Unterschied, der zwischen der Wahrnehmung von außen und innen besteht. Der älteste Sohn hatte sich gefreut, dass seine kleine Schwester nicht ihre Lebensfreude verloren hat. Das steht im Kontrast zur tatsächlichen Gefühlslage seiner Schwester, die zunächst weder Eltern noch Bruder, sondern nur den Steinen im Hof aufgefallen ist. Zudem reagieren seine beiden Geschwister verschieden auf die Anwesenheit des Brüderchens. Während der älteste Sohn in seiner Rolle als großer Bruder aufgeht, lehnt die Schwester das Kind ab. Obwohl sie das Brüderchen ignoriert, hat sie mit ihrer Wut zu kämpfen. Je älter sie wird, umso stärker rebelliert sie. Erst in der Beziehung zu ihrer Großmutter lebt sie wieder auf.

Da ich die ungewöhnlichen Ansätze, die Clara Dupont-Monod für Brüderchen gefunden hat, als interessant empfunden habe, hätte ich mir gewünscht, dass die Autorin diese stringenter in ihrem Roman umgesetzt hätte. Das beginnt bei der Wahl der Perspektive. Stärker wäre der Roman für mich ausgefallen, wenn dieses Familienporträt ausschließlich aus Sicht der Steine im Hof erzählt worden wäre. Denn diese einzigartige Perspektive hat diesem Buch einen besonderen Touch gegeben. Nur ist diese Sichtweise leider wenig konsequent von der Autorin verfolgt worden, wenn sie oft in die Gedankengänge der Geschwister gerutscht ist.
Auch ist es Clara Dupont-Monod nicht gelungen, die ungleichen Teile ihres Romans, die auf der einen Seite aus dem Kapitel des großen Bruders und der Schwester bestehen, auf der anderen Seite aber aus dem zeitlich später angesiedelten Kapitel des Nachgeborenen, zu
einem stimmigen Ganzen zusammenzufügen. Dabei sind der Autorin die bewegenden Drama-Teile, mit denen ihr Roman beginnt, weit stärker geraten als dessen gefälliges Ende. Denn als Familien-Drama, das trotz seiner ruhigen Erzählweise zu polarisieren weiß, indem es keine einfachen Lösungen anbietet, wenn die Familie von einem nach dem nächsten, stoisch ertragenden Schicksalsschlag getroffen wird, bis dann doch einer weinend zusammenbricht oder sich der lang unterdrückte Zorn in einem Gewaltausbruch Bahn bricht, hat dieser Roman eine fast schon unangenehme Intensität gewonnen, die in eindrucksvollem Kontrast zu den Beschreibungen der den Hof umgebenden Natur steht. Eine solche Wirkung vermag Clara Dupont-Monod mit dem letzten Drittel ihres Romans um den Nachgeborenen nicht zu erzielen, auf das sie entweder besser verzichtet hätte oder dem sie aufgrund der zu den bisherigen Ereignissen des Romans konträr verlaufenden Entwicklungen mehr Zeit und Raum hätte einräumen müssen. Denn nur so hätte das von der Autorin gefundene Ende für mich ebenso nachvollziehbar werden können wie die zuvor erfolgende Einsicht in das Leben der großen Geschwister des Brüderchens.

Bewertung vom 31.03.2023
Burn Our Bodies Down (eBook, ePUB)
Power, Rory

Burn Our Bodies Down (eBook, ePUB)


sehr gut

Abgründiger Young Adult Thriller mit Mystery-Elementen um die rätselhafte Familie Nielsen in Fairhaven

Margot, die mit ihrer Mutter Jo in Calhoun in Armut lebt, ist froh, wenn der Abend mit ihrer Mutter nicht in einen sinnlosen Streit ausartet. Um die Wunden ihrer letzten Auseinandersetzung zu kitten, beschließt Margot von Pfandleiher Frank, der im Hinterzimmer Jos verpfändeten Besitz lagert, ein Stück davon zurückzukaufen. Dabei stößt sie in einer Bibel auf ein altes Foto ihrer Mutter, das sie auf dem Nielsen Hof in Phalene zeigt. Da Margot sich immer eine richtige Familie gewünscht hat, nimmt sie Kontakt zu ihrer Großmutter Vera auf. So möchte sie mehr über ihre Herkunft erfahren, die ihr von ihrer Mutter immer verschwiegen worden ist.

Die düstere Grundstimmung von Burn Our Bodies Down gibt Rory Power von Beginn an vor, obgleich in den ersten Kapiteln dieses Buchs die Abgründe eher in dem von Armut geprägten Leben der siebzehnjährigen Margot und ihrer Mutter Jo begründet liegen. Die beiden leben in einem heruntergekommenen Apartment, in dessen Kühlschrank kaum etwas Essbares vorhanden ist, und die Zeit in den Ferien schlägt Margot in einem Restaurant tot, indem sie sich dort an einem Glas Wasser festhält. Denn Geld hat Margot nur, wenn sie es stiehlt, sei es von ihrer Mutter oder aus dem Trinkgeldglas. Noch deutlicher tritt Margots Armut im Vergleich mit Tess zutage, die sie bei ihrem Eintreffen in Phalene kennenlernt und deren Familie die halbe Stadt gehört. Auch Tess klaut, allerdings nur aus Langeweile und in der Gewissheit, dass ihr Vater, der der Vermieter der bestohlenen Ladenbesitzer ist, jedes Problem für sie regeln wird.
Rory Power verstärkt die unangenehme Stimmung, die sie durch ihr recht intensiv geratenes Porträt eines Lebens in Armut erzeugt, durch das schwierige Verhältnis von Margot zu ihrer Mutter. Im Umgang mit ihrer Mutter reagiert Margot sensibel auf deren Stimmungen und hat stets das Gefühl auf Eierschalen laufen zu müssen, indem sie keine der unberechenbaren Launen ihrer Mutter provozieren will. Dabei möchte sie keinen Streit vom Zaum brechen, der sich wegen ihrer beider Sturheit nur schwer wieder schlichten lässt. Denn eigentlich sehnt sich Margot nach einer Mutter, die sich um sie kümmert und für sie einsteht.
So gekonnt Rory Power mir dieses schwierige Verhältnis zwischen Mutter und Tochter anhand von nur wenigen Szenen nahe gebracht hat, so wenig konnte mich die Beschreibung der Beziehungen, die Margot zu anderen Figuren dieses Romans aufbaut, überzeugen. Denn Margot ist mit ihren siebzehn Jahren fast volljährig und damit nicht das kleine Kind, als das sie sich in der Kommunikation mit den genannten Figuren verhält. Dabei verschlägt es ihr oft die Sprache, als sie etwa bei Pfandleiher Frank oder der hübschen Tess kaum ein Wort heraus bekommt. Das steht für mich im Widerspruch zu der sonst von der Autorin entworfenen Charakterisierung von Margot, die meiner Ansicht nach dadurch weit reifer sein sollte, dass sie durch den Verzicht von Jo auf ihre Mutterrolle für sich selbst zu sorgen hatte.

Neben seiner düsteren Grundstimmung ist dieser Roman vom irritierenden Verhalten von Margots Mutter geprägt, die für deren gemeinsames Leben eine Vielzahl strikt einzuhaltender Regeln aufgestellt hat. Die wichtigste davon lautet: "Lass ein Feuer brennen, das Feuer wird dich retten." Deswegen muss stets eine Kerze angezündet werden. Zum eigenartigen Verhalten von Margots Mutter zählt aber auch, dass sie ihrer Tochter jegliche Information aus ihrer Vergangenheit vorenthält, die erst mit Hilfe des Fotos aus der Bibel vom Heimatort ihrer Mutter und ihrer Großmutter erfährt. Dazu kommen im weiteren Verlauf des Romans Mysterien wie die sich wiederholenden Feuer hinzu, die den Nielsen Hof und den auf seinem Land liegenden Aprikosenhain sowie die umgebenden Maisfelder heimsuchen. Diesen Rätseln muss Margot auf den Grund gehen, um zu erfahren, was ihr ihre Mutter und Großmutter verschweigen. Dabei baut Rory Power kontinuierlich Spannung auf, bis alle Fragen, die Margot sich gestellt hat, im Finale beantwortet werden.
Aufgrund der in Burn Our Bodies Down beinhalteten Triggerwarnung und Margots Verhalten, das mich weniger an eine Siebzehnjährige, sondern oft an ein jüngeres Mädchen erinnert hat, scheint mir der Roman für eine jüngere Leserschaft gedacht zu sein. Dafür fällt dessen starker Schluss, der bestens zu seinem gelungenen, mysteriösen Beginn passt, unerwartet blutig aus. So halte ich die im Kern so abgründige Geschichte, die von Rory Power überraschend konsequent zu Ende erzählt wird, besser für ein erwachsenes Publikum geeignet. Auch wäre dieser Roman stärker ausgefallen, wenn die Autorin diesen gänzlich ohne Rücksicht auf jüngere Leser nehmen zu müssen, hätte ausgestalten können. Dazu hätte für mich insbesondere die Einbindung von mehr gruseligen Mystery-Elemente gehört, die in unheimlichen Szenen die unheilvolle Stimmung dieses Buchs in idealer Weise untermalt hätten.

Bewertung vom 20.03.2023
Lebendige Nacht (eBook, ePUB)
Kimmig, Sophia

Lebendige Nacht (eBook, ePUB)


gut

Große Bandbreite abgedeckter Themen rund um das Leben in der Dunkelheit

Dass das einleitende Zitat aus einem Kinderbuch stammt, ist symptomatisch für die Passagen, von denen das an sich fundierte Sachbuch zur lebendigen Nacht über weite Strecken dominiert wird. Denn mit einem Schreibstil, der von poetischen Beschreibungen, Anleihen beim Märchen sowie aus der Fantasy- und Science-Fiction-Literatur geprägt ist, hat Sophia Kimmig meinen Geschmack leider nicht getroffen.
Auch im Prolog schildert die Autorin auf fast schon mythisch zu nennende Weise das Leben an einer Bushaltestelle in der Nacht, das sie Dunkelwelt nennt. Prinzipiell finde ich die ungewöhnliche Kombination aus lyrischen Elementen mit wissenschaftlichen Fakten interessant. Doch Sophia Kimmig fehlt dafür das literarische Talent. Ihre Stärke ist als promovierte Biologin ihr wissenschaftlicher Hintergrund. So hätte ich den Prolog als gelungen empfunden, wenn die Autorin auf poetische Anwandlungen verzichtet hätte, um stattdessen von ihrer Doktorarbeit über Füchse oder dem Forschungsprojekt, in dessen Rahmen sie sich mit nachtaktiven Tieren auseinandersetzt, zu berichten.

Auch im weiteren Verlauf des Buchs hätte ich mir gewünscht, dass die Stärken von Sophia Kimmig mehr zum Tragen gekommen wären. Denn die Abschnitte, in denen die Autorin ihr fundiertes Wissen zeigt, habe ich als weit überzeugender empfunden. So habe ich mir etwa im ersten Kapitel gern von ihr die lateinische Artbezeichnung sowie die auf das Farbsehen spezialisierten Zapfen in der Netzhaut des Auges erklären lassen.
Auf das oft recht umfangreiche Füllmaterial, das mit der Vermittlung dieses Wissens einhergeht, hätte ich aber verzichten können. Die Überleitung von einem zum nächsten Thema besteht meist aus einer Reihe von Fragen, die mich dazu anregen sollten, mir bestimmte Szenarien vorzustellen. Das ist aber bei der anschaulichen Art und Weise, auf die das darauf folgende Wissen dargelegt wird, gar nicht nötig.
Ebenso wenig hätte ich die wiederholt auftretenden Sätze gebraucht, in denen die Autorin betont, wie spannend das Fachgebiet der Biologie ist. Statt die Themen mit solchen Sätzen zu beenden, wäre der Aufbau strukturierter ausgefallen, wenn die Autorin zur Gliederung des Fließtextes Infokästen oder Übersichten in tabellarischer Form eingebunden hätte. Ein Beispiel für eine solche Übersicht wäre die prozentuale Unterscheidung in tag- und nachtaktive Tierarten u.a. für Säugetiere, Vogelarten und Insekten. Infokästen hätten den zusätzlichen Vorteil mit sich gebracht, dass darin übersichtlich aufbereitete Wissen sich zum späteren Nachschlagen eignen würde.

Als sinnvolle Ergänzung hätte ich angesehen, wenn Sophia Kimmig weiterführende Literatur empfohlen hätte, sofern Themen etwa außerhalb des Fokus dieses Sachbuchs liegen. Dabei hätten mich beispielsweise Informationen zu den verschiedenen von der Autorin aufgelisteten Tagfaltern (u.a. Kohlweißling, Schachbrett) interessiert. Auch ein Link, der auf die Rote Liste der bedrohten Tier- und Pflanzenarten der internationalen Weltnaturschutzunion IUCN verweist, wäre hilfreich gewesen.
Um trotz des vermittelten Wissens die Lesbarkeit in ihrem Buch zu wahren, kann ich nachvollziehen, dass Sophia Kimmig auf zu viel Fachvokabular und dessen Erläuterung verzichtet hat. An manchen Stellen hätte ich mir jedoch gewünscht, dass die Autorin, um diese Balance zu wahren, mehr mit Fußnoten gearbeitet hätte. So hätten etwa die Nachtfalter Eumorpha labruscae oder Citheronia regalis, aber auch Candela und Lumen als Einheiten zur Quantifizierung des Lichts näher erläutert werden können.
Die Vorstellung mir unbekannter nachtaktiver Tiere wie etwa des auf Neuguinea vorkommenden Tüpfelkuskus, des neuseeländischen Kakapos, des Blattschwanzgeckos oder des Taguans ist interessant gewesen. Dabei haben mir aber Bilder gefehlt. Mit dazu passenden Fotos, die die genannten Tiere abbilden, hätte ich deren Beschreibung als weit gelungener empfunden. Denn ich möchte während der Lektüre des Buchs nicht nebenher die erwähnten Tiere googeln müssen, um ein Bild von diesen vor Augen zu haben.
Was mir an Lebendige Nacht besonders gut gefallen hat, ist das wirklich spannende, unter Sachbüchern leider sonst so unterrepräsentierte Thema der nachtaktiven Tiere. Dabei wird das Leben in der Dunkelheit von Sophia Kimmig in einem breiten Spektrum behandelt. Die Bandbreite der nachtaktiven Tieren reicht von Tierarten, die ich erwartet habe, wie den Eulen, Fledermäusen und Waschbären, über Tiere, an die ich nicht unbedingt gedacht habe, wie die Haselmaus, den Sieben- und Gartenschläfer bis hin zu solchen, die mir zuvor nur dem Namen nach bekannt gewesen sind, wie den Bilchen und Nachtfaltern. Ergänzt wird das von weiteren Kapiteln, die rund um das Leben bei Nacht kreisen. Diese schließen etwa die Ursachen für die Nachtaktivität von Tieren, deren Ursprung in der Urzeit liegt, sowie einen faszinierenden Exkurs zu Tieren, die an Land, aber auch Unterwasser Licht ins Dunkel bringen, mit ein.

Bewertung vom 20.03.2023
Der weiße Fels (eBook, ePUB)
Hope, Anna

Der weiße Fels (eBook, ePUB)


gut

Erzählungen um einen mythischen Fels im Wandel der Zeit

Eine namenlose Schriftstellerin reist in 2020 mit ihrer kleinen Tochter und ihrem Mann in einem Van durch Mexiko. Begleitet werden sie von einer bunt zusammengewürfelten Gruppe. Ihr Ziel ist eine kleine Stadt am Pazifik. Dort ist der weiße Fels zu finden, der für die Wixárika eine heilige Stätte darstellt. Für die Schriftstellerin und ihren Mann ist diese Reise eine Pilgerfahrt. Denn nachdem sie sieben Jahre lang alles versucht hatten ein Kind zu bekommen, ist sie nach der Zeremonie eines Schamanen der Wixárika schwanger geworden. Und nun werden sie dafür in Gestalt von Opfern etwas zurückgeben.

Der weiße Fels hat einen ungewöhnlichen Aufbau, der mich an mythische Geschichten wie die aus 1001 Nacht erinnert hat. Darin wird eine Geschichte begonnen, um dann mittendrin eine weitere anzufangen, um wiederum eine neue Geschichte aufzunehmen, bis auf diese Weise die vierte Erzählebene erreicht ist, um erst dann die zuletzt begonnene Geschichte zu beenden. Auf diese verschachtelte Art erzählt Anna Hope Geschichten, die um den weißen Felsen kreisen, der bei den Wixárika Tatéi Haramara heißt und den sie für den Ursprung allen Lebens halten. Dabei sind die verschiedenen Kapitel aus unterschiedlichen Perspektiven, die sich auf anderen Zeitebenen bewegen, geschildert. Zu diesen zählen neben der Sichtweise der Schriftstellerin, die in der Gegenwart angesiedelt ist, die eines berühmten Sängers Ende der 60er Jahre, eines erst zwölf Jahre alten Mädchens Anfang des 20. Jahrhunderts sowie eines Kapitänleutnants aus dem Jahr 1775.
Davon ist die Schriftstellerin, die permanent mit ihrer Unsicherheit ringt, die schwächste Figur. Auch ihr neidvoller Blick auf die mit ihr reisende Senegalesin, der es im Gegensatz zu ihr mühelos gelingt ihre Tochter zu versorgen, lässt sie nicht gerade sympathischer wirken. Zudem scheitert sie an dem Buch, das sie eigentlich während ihrer mehrmonatigen Reise über Mexiko schreiben wollte und für das sie im Vorfeld umfangreiche Recherchen angestellt hat. Leider hat Anna Hope die Gelegenheit verpasst dieser Schriftstellerin zumindest eine interessante Vergangenheit zu geben, wenn sich diese nur an die Untreue ihres Ehemanns erinnert.

Die dem weißen Felsen zugrunde liegende Intention der Autorin verstehe ich so, dass sie die Figuren, aus deren Sicht sie die Ereignisse schildert und denen sie keinen Namen gibt, sondern sie nur durch ihre Rolle (die Schriftstellerin, der Sänger, das Mädchen, der Leutnant) charakterisiert, eher als Archetypen ansieht. Das gelingt beim Sänger und beim Mädchen gut, lässt auch beim Leutnant wenig zu wünschen übrig, obgleich sein Freund Miguel Manrique die bessere Wahl als Leutnant gewesen wäre. Denn Miguel ist die charismatischere Figur, dessen Gedankengänge über seine Verbindung zum weißen Felsen einen tieferen Einblick in dessen einzigartige Natur hätten geben können. Im Vergleich zu den zuvor genannten Figuren bleibt die Schriftstellerin blass. Am spannendsten sind ihre Kapitel, wenn sie von dem von ihr recherchierten Leben des Sängers berichtet. Indem sie dabei teilweise den Inhalt der später folgenden Erzählungen wiedergibt, nimmt sie diesen damit aber nur einen Teil ihrer Wirkung. Stärker wäre der weiße Fels ausgefallen, falls Anna Hope der Versuchung widerstanden hätte mit einer übergeordneten Geschichte einen Rahmen um die anderen Kapitel dieses Buchs zu spannen, statt die übrigen Erzählungen nur für sich selbst sprechen zu lassen.
Die Kapitel erzählen bis auf die Schriftstellerin starke Geschichten. Dabei hat Anna Hope nur schon mal zu dick aufgetragen, wenn sie es mit den Superlativen darin übertreibt. Es hätte ja nicht gleich der berühmteste Sänger sein müssen, dessen Vater der jüngster Admiral der US-Marine ist. Auch ertrinkt dieser Sänger gleich in einem ganzen Sumpf aus Problemen, indem er mit seinem Übergewicht, seiner Alkohol- wie Drogensucht und mehr zu kämpfen hat. Zudem schildert Anna Hope die menschlichen Abgründe, die sich in den Kapiteln des Mädchens auftun, fast schon mit einem voyeuristischen Blick darauf, der sich am Leid und Qual der Yoeme ergötzt.
Statt dieser expliziten Beschreibung von Grausamkeiten hätte die Autorin sich besser auf die mythische Elemente ihrer Erzählung konzentriert, die dieser einen besonderen Touch geben. Denn das Mädchen besitzt nicht nur Empathie und einen guten Orientierungssinn, sondern verfügt auch über die Fähigkeiten einer Seherin. Insgesamt hätte eine ruhigere Erzählweise diesen Geschichten gut getan, weil diese die stillen Momente darin betont, die weit stärker ausgefallen sind. Beispiele dafür sind die Entdeckung der Jupiter Monde vom Leutnant durch sein Teleskop, der leise Widerstand eines hoch gewachsenen Familienvaters, wie ein Danke zur schlimmsten Demütigung der Unterdrückten werden kann und das Ende eines vollkommen über die Stränge geschlagenen Drogentrips, das ein besserer Abschluss für diesen Roman als sein tatsächliches Ende gewesen wäre.

Bewertung vom 20.03.2023
Die Legende von König Arthur und den Rittern der Tafelrunde (eBook, ePUB)
Matthews, John

Die Legende von König Arthur und den Rittern der Tafelrunde (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Ein Muss für jeden sich für König Arthur und die Ritter der Tafelrunde Begeisternden

"Die Legende von König Arthur und den Rittern der Tafelrunde" ist in fünf Bücher unterteilt, die vergessene Geschichten von Arthur und seinen Rittern gegliedert nach unterschiedlichen thematischen Schwerpunkten umfassen. Das beginnt bei Merlin und einem jungen König Arthur, widmet sich der Tafelrunde und führt über Sir Gawain bis hin zur Suche nach dem heiligen Gral.
Der Schreibstil von John Matthews hat für mich Anleihen bei Mittelalter-Epen wie Tristan und Isolde. Dabei hat der Autor mittels der von ihm modernisierten Sprache eine gute Balance dazwischen gefunden, die von ihm nacherzählten Legenden das Original widerspiegeln zu lassen und zugleich deren flüssige Lesbarkeit zu wahren. Nur finde ich schade, dass auf das sonst so typische Stilmittel verzichtet wurde, die verschiedenen Geschichten ineinander verschachtelt zu erzählen, damit die Ausgestaltung eben dieser Geschichten übersichtlicher ausgefallen ist.

In Buch Eins gibt John Matthews verschiedene Erzählungen wieder, die um Merlin kreisen. Das beginnt bei seiner Geburt einschließlich der dabei erfolgenden Namensfindung, reicht über seinen weiteren Werdegang als junger Mann, der nach seiner Hochzeit in den Krieg zieht, um über den Verlust seiner Kameraden den Verstand zu verlieren, bis hin zu seinem Leben als in den Wäldern hausender, wilder Mann. Das ist nicht der Merlin, wie er mir aus den Arthur-Sagen bekannt gewesen ist, sondern einer, der dem Wahnsinn anheim gefallen ist und nur einen einsamen Wolf als Weggefährten duldet.
An den Legenden, die sich um Merlin ranken, hat mir der von John Matthews gebotene Abwechslungsreichtum gefallen, der sich in einer großen Bandbreite der Geschichten niederschlägt. So führen seine Reisen als wilder Mann Merlin bis nach Rom, wo er Konstantin, dem Kaiser von Rom, als dessen Traumdeuter einen großen Dienst erweist.
Meinen Geschmack hat John Matthews damit getroffen, dass er aus den Originalen überlieferte Klagegesänge, die er an passenden Stellen zitiert hat, in seine Geschichten eingebunden hat. Denn das hat diesen nacherzählten Legenden Authentizität verliehen. Abgerundet werden diese Sagen von den stimmungsvollen Illustrationen, die von John Howe stammen und beispielsweise Merlin als wilden Mann abbilden.

Das zweite Buch beinhaltet Geschichten rund um die Ritter der Tafelrunde. Das beginnt mit einer Erzählung über einen noch jungen König Arthur, der sich vielen Gefahren zu stellen hat, um sich als Ritter zu beweisen. So bestreitet Arthur unmittelbar nach seiner Krönung verschiedene Abenteuer, indem er unerkannt als sog. Papageien-Ritter durch die Lande zieht. Seinen Namen verdankt er dem treuen Begleiter an seiner Seite, bei dem es sich um einen sprechenden Papageien handelt.
Die Schilderung der Abenteuer eines jungen Ritters, der sich seine Sporen erst noch verdienen muss, habe ich in der ersten Geschichte dieser Art als originell empfunden. Im weiteren Verlauf hat sich dieses Motiv aber in zu geringer Abwandlung für mich allzu oft wiederholt, als John Matthews eine Vielzahl solcher Geschichten aufeinander folgen ließ. Einer um den anderen Ritter, der so jung wie schön gewesen ist, strebte mit demselben Ehrgeiz nach Ruhm und Ehre. Und stets ist der nächste neue Ritter wiederum der fähigste unter allen gewesen, der immer den Sieg in seinem ersten Turnier davonzutragen vermochte. Das hat sich für mich dann insbesondere in den Turniererfolgen und der Vielzahl von Fräulein in Nöten rasch abgenutzt.
Interessanter sind für mich die Geschichten gewesen, in denen mythische Elemente stärker zur Geltung gekommen sind. Dazu zählen etwa Besuche im Feenreich (z.B. "Die Abenteuer von Meriadoc, König von Cambria", "Die Geschichte von Guingamor und Guerrehes") sowie ungleiche Kämpfe, die Ritter gegen Magier zu bestreiten haben (u.a. "Die Abenteuer von Adler-Junge", der Schreckenskuss in den "Abenteuern des schönen Unbekannten"). Zudem haben mir die wenigen Legenden gut gefallen, in denen die Rollen einmal vertauscht gewesen sind. Damit meine ich, dass nicht die Jungfrau in Nöten von ihrem edlen Ritter gerettet werden musste, sondern die Helden auf die Hilfe der von ihnen verehrten Damen angewiesen gewesen sind (z.B. der Schluss der "Geschichte von Caradoc Stark-Arm", "Die Abenteuer von Melora und Orlando").

Der Großteil der Legenden ist mir zuvor nicht bekannt gewesen. Obwohl ich bei der Lektüre dieses Buchs der von John Matthews vorgegebenen Reihenfolge gefolgt bin, stellen diese Legenden doch weitestgehend voneinander unabhängige Geschichten dar. Dazwischen bestehen nur wenige Querverweise, die sich dank der teils recht ausführlichen Einleitungen des Autors erschließen. Zudem finde ich, dass der Autor es geschafft hat einen stimmigen Bogen um seine recht umfangreiche Sammlung von Geschichten zu spannen, indem er diese bei seiner Erzählung von Merlins Herkunft beginnen und mit dem Tod König Arthurs und seiner Reise nach Avalon enden lässt.

Bewertung vom 01.03.2023
Brandmal / Saana Havas Bd.1 (eBook, ePUB)
Backman, Elina

Brandmal / Saana Havas Bd.1 (eBook, ePUB)


sehr gut

Ungewöhnliche, nicht ganz stimmige Kombination aus abgründigem Krimi und an Liebesgeschichten reichem Cozy Crime

Auf Ainos Spaziergang mit ihrem Hund Kramer am Morgen führt sie ihr Weg zur Königspforte an die Südspitze der Insel Suomenlinna. Dort macht Aino eine schreckliche Entdeckung, als sie die vom Täter zur Schau gestellte Leiche eines ihr unbekannten Toten findet. Kriminalkommissar Jan Leino vom zentralen Kriminalamt KRP nimmt die Ermittlungen in diesem grausamen Mord auf.
Zeitgleich zieht sich Saana Havas, die ihren Job verloren hat, für den Sommer in ihr Kindheitsparadies Hartola zurück. Während des Besuchs bei ihrer Tante Inkeri wird sie auf einen alten Fall aufmerksam. Vor dreißig Jahren starb die erst fünfzehn Jahre alte Helena Toivio. Weil der Fall bis heute ungeklärt ist, macht die nach True-Crime-Podcasts süchtige Saana diesen zu ihrem Projekt.

Brandmal wird von Elina Backman abwechslungsreich aus verschiedenen Perspektiven auf zwei Zeitebenen erzählt. Diese umfassen in der Gegenwart, womit Helsinki und Hartola im Jahr 2019 gemeint sind, neben der Sichtweise der Ermittler, zu denen Jan Leino vom KRP und Hobby-Detektivin Saana Havas zählen, auch die von Zeugen wie Aino Nieminen, die die Leiche am Strand findet. Ergänzt wird dies von der abgründigen Tätersicht, an der ich durch einen geschickten Schachzug der Autorin ganz nah dran gewesen bin, indem diese im Gegensatz zu den anderen Kapiteln nicht aus der dritten Person geschildert, sondern in der Ich-Form wiedergegeben wird. Zudem sind diese Kapitel nicht wie sonst mit Zeit- und Ortsangabe versehen, sondern nur mit "Ich" überschrieben. Die Vergangenheit, die im Jahr 1989 angesiedelt ist, nimmt im Vergleich zu den im Jahr 2019 spielenden Teilen zwar weniger Raum ein, umfasst aber ebenfalls unterschiedliche Sichtweisen. Diese beschreiben die Gedankengänge von Opfer Helena, aber auch die Sicht von Zeugen beispielsweise vom leidenschaftlichen Angler Harri Valkama, der eines Tages eine Tote aus dem Fluss fischt.
Brandmal lässt sich Zeit damit seine Figuren vorzustellen. Dabei konzentriert sich der Krimi nicht nur auf die Ermittlungen in den Mordfällen, sondern widmet sich auch dem Drama in deren Leben. Saana ringt mit der Leere in ihrem Alltag, als sie arbeitslos geworden ist, nachdem sie die Jahre zuvor stets zu viel gearbeitet hat. Glaubwürdig schildert die Autorin das Loch, in das Saana ohne ihren Job fällt, als sie nichts mit sich anzufangen weiß, außer sich in ihrem Bett zu verkriechen, Pizza zu essen und ihrer Leidenschaft für Krimis zu frönen. Das schöne Hartola, ihre Tante Inkeri und das Rätsel um den Tod von Helena holen Saana aber wieder ins Leben zurück. Die schwerste Last jedoch hat Jan zu tragen, seit seine Mutter ins Terhokoti-Hospiz verlegt wurde. Da ist seine Welt zusammengebrochen. Er kann kaum noch schlafen, nur die Arbeit lenkt ihn ab.

So stark das Brandmal als ruhig erzählter Krimi beginnt, dessen Intensität durch die Dramen im Leben der verschiedenen Figuren erzeugt wird, habe ich dessen Entwicklung als wenig überzeugend empfunden. Denn in seinem weiteren Verlauf rücken unterschiedliche Liebesgeschichten (u.a. von Saana) immer mehr in dessen Fokus und lassen diesen Krimi dabei seine durch dessen düstere Intensität gewonnene Spannung verlieren. Auch harmonieren die gegensätzlichen Teile dieses Krimis, der sich nicht entscheiden kann, ob er düsterer skandinavischer Thriller oder an Lokalkolorit aus der finnischen Provinz reicher Cozy Crime sein möchte, nicht gut miteinander. Stärker wäre dieser Auftakt der Saana Havas-Reihe ausgefallen, wenn Elina Backman auf die Cozy Crime-Elemente verzichtet, die Liebesgeschichten auf ein absolutes Minimum reduziert und stattdessen die eigentliche Handlung ihres abgründigen Krimis konsequent zu Ende erzählt hätte.
Die Auflösung des Brandmals isr zwar überraschend für mich gewesen, da ich einen der beiden letztlich enthüllten Täter erst kurz vor Schluss habe kommen sehen. Doch auch an dieser Stelle wäre weniger mehr gewesen. Denn die ersten Verdächtigen, die die Autorin einführt, bis sich diese dann als falsche Fährten entpuppen, sind für mich schlüssiger als der eigentliche Mörder gewesen. Um diesem Krimi aber noch die ein oder andere unerwartete Wendung zu geben, mussten nach und nach weitere Verdächtige aus dem Hut gezaubert werden. Zum Ende hin ist mir das insgesamt too much gewesen, wer denn da alles zufällig am letzten Abend von Helenas Leben in den entscheidenden Momenten vorbeigekommen ist und so die ganze Zeit um ihr Schicksal wusste. Ab einem gewissen Punkt habe ich das als unglaubwürdig empfunden. Ebenso wie den actiongeladenen Showdown, der spannend ausgefallen ist, aber auch nur dadurch ermöglicht wurde, dass sich die daran beteiligten Figuren konträr zu ihrer bisherigen Charakterisierung verhalten haben. Insgesamt hat das bei mir den Eindruck hinterlassen, dass die Autorin in ihrem ambitionierten Krimi Debüt zu viel auf einmal gewollt hat.