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⇢ Ich bin: Ex-Buchhändlerin, Leseratte, seit 2012 Buchbloggerin, vielseitig interessiert und chronisch neugierig. Bevorzugt lese ich das Genre Gegenwartsliteratur, bin aber auch in anderen Genres unterwegs. ⇢ 2020 und 2021: Teil der Jury des Buchpreises "Das Debüt" ⇢ 2022: Offizielle Buchpreisbloggerin des Deutschen Buchpreises

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Insgesamt 735 Bewertungen
Bewertung vom 20.06.2023
Escape Time - Die Morde von morgen
McGeorge, Chris

Escape Time - Die Morde von morgen


sehr gut

Die 70-jährige Shirley Steadman stößt im Radio zufällig auf einen Piratensender, der die Nachrichten von morgen ausstrahlt. Anfangs skeptisch, muss sie bald akzeptieren, dass die vorhergesagten Ereignisse tatsächlich eintreten. Als der Sender einen Mord ankündigt, ist Shirley fest entschlossen, diesen zu verhindern – allerdings fragt sie sich unbehaglich, ob sie möglicherweise den Verstand verliert. Denn seit ein paar Monaten sitzt der Geist ihres toten Sohnes ab und an am Küchentisch …

Bei diesem Roman weiß man wirklich nie, woran man ist. Stecken tatsächlich übernatürliche Fähigkeiten hinter den Radiomeldungen oder nur ausgeklügelte Trickserei? Sieht Shirley wirklich den Geist ihres Sohnes, oder wird sie senil? Diese Fragen eröffnen einen vielschichtigen Themenkomplex, bei dem sich unerwartete Wendungen in immer weitere Wendungen auffächern – ein Fraktal an spannenden, originellen Ideen.

Der packende Schreibstil des Autors erzeugt eine filmische Atmosphäre und zieht den Leser von Anfang an in die Geschichte hinein. Die Spannung steigt kontinuierlich an, während auch die Radiomeldungen zunehmend dramatischer werden.

Shirley ist eine wunderbare Protagonistin: mutig, entschlossen, auf herrliche Weise stur. Weder ihre besorgte Tochter noch ihre gesundheitlichen Probleme können sie aufhalten, und nebenher erkundet sie ihre komplexe Gefühlswelt. Denn im Grunde ist die wichtigste Frage: Hätte Shirley ihren Sohn schützen können und trägt sie daher eine Mitschuld an seinem Tod?

Die Nebencharaktere bleiben im Vergleich etwas blass, doch da die Geschichte sich stark auf Shirley und ihre Gedanken konzentriert, hat mich das nicht gestört.

Insgesamt hat mir das Lesen viel Spaß gemacht. Ein paar Dinge habe ich mir schon gedacht, aber ich denke, es ist auch volle Absicht, dass Leser:innen sich die Puzzleteile nach und nach zusammensetzen können. Am Ende zog der Autor auch noch das ein oder andere Kaninchen aus dem Hut!

Bewertung vom 18.06.2023
Firestarter
Carson, Jan

Firestarter


ausgezeichnet

Jan Carson beschreibt ein alternatives Jahr 2014, in dem in Dublin die Spannungsfelder der »Troubles« wieder aufreißen – ein mächtiges metaphorisches Werkzeug. Der Roman löst einige Kernthemen aus dem Kontext des alten Konflikts heraus, der damit vor allem eine symbolische Bedeutung gewinnt und zum Hintergrund für gesellschaftliche Probleme und individuelle Herausforderungen wird.

Es geht zum Beispiel um die Spannungen innerhalb von Familien und der Gesellschaft insgesamt. Es geht um Identität und Zugehörigkeit. Es geht um die Auswirkungen von Gewalt und die Konsequenzen ungelöster Konflikte. Jan Carson verbindet all das mit einer Handlungsebene, in der das Magische auf einmal ganz selbstverständlich ist – und sich liest wie eine Allegorie für ganz reale gesellschaftliche Phänomene.

Beide Protagonisten befinden sich in einer Situation, die sie als gewaltsam und gefährlich empfinden, und ringen mit ihrem Selbstbild und dem eigenen Gewaltpotential.

Sammy Agnew kann sich nur allzu gut an seine Jugend erinnern, als sich sein frustrierter Zorn oft in roher Gewalt entlud. Er spürt diese Gewaltbereitschaft immer noch in sich brodeln, aber vor allem sieht er sie in seinem Sohn, den er nicht vor sich selbst beschützen kann.

Dr. Jonathan Murray hingegen hat Angst vor seiner kleinen Tochter, einem hilflosen Baby, weil er dessen Mutter für eine Meerjungfrau hält. Hier entfaltet sich ein Themenkomplex, der auch von Han Kang stammen könnte: Da er glaubt, die Stimme seiner Tochter könne hochgefährlich sein, versucht er, sie möglichst komplett von Sprache fernzuhalten.

Ja, hier wird ein weibliches Wesen zum Schweigen gebracht, weil es durch seine bloße Existenz als Bedrohung des Status Quo empfunden wird. Während manchmal ein Element der Überfürsorge anklingt, scheint offensichtlich, dass es hier vor allem um tiefverwurzelte Misogynie und Angst vor Kontrollverlust geht.

Jan Carson entwirft ein so aufregend originelles, symbolträchtiges Dublin, dass ich mich eines Nachts um 02:32 zwingen musste, endlich das verflixte Licht auszuschalten. Der Schreibstil ist großartig, die Themen werden mit viel Tiefgang umgesetzt, und das Lesen macht einfach Spaß.

Die Geschichte ist mit mystischen Elementen verflochten, die das konventionelle Verständnis von Realität herausfordern. Die Grenzen zwischen dem Alltäglichen und dem Außergewöhnlichen verschwimmen, und dennoch wirken die realistischen Themen vor diesem Hintergrund umso schärfer umrissen.

Bewertung vom 15.06.2023
Mord nach Maß
Christie, Agatha

Mord nach Maß


ausgezeichnet

Dies ist zwar ein Buch von Agatha Christie, aber eher ein klassischer Schauerroman als ein Krimi! Ein Haus, das als verflucht gilt, zwei Liebende, deren Schicksal besiegelt scheint…? Keine Spur von Miss Marple oder Hercule Poirot, dafür ein Handlungsverlauf, dessen Spannung sich vor allem aus dem tief verwurzelten Unbehagen anhand des Unerklärlichen speist. Unerwartet, definitiv anders – aber in meinen Augen eines der besten Werke der Autorin, mit einer großartigen Wendung, die alles über den Haufen wirft, was man über die Geschichte und bestimmte Charaktere zu wissen glaubte. So klischeehaft es klingt, da ist mir doch tatsächlich die Kinnlade heruntergeklappt, buchstäblich!

Mehr will ich eigentlich noch gar nicht verraten, dann man sollte sich möglichst ohne Vorwissen durch die Handlung bewegen. Kurz gesagt: Dies ist ein großartiger, atmosphärischer Roman, von der Autorin perfekt in Szene gesetzt.

Ein Thema möchte ich allerdings dennoch ansprechen:

»Was haben die Leute nur gegen Zigeuner?«, fragt der Protagonist, und erhält die Antwort: »Dieses Diebsgesindel! (…) Oder haben sie zufällig auch einen Tropfen Zigeunerblut in den Adern?«

Dieses Buch wurde in den 60er Jahren geschrieben, und Christie verwendet häufig das Wort „Zigeuner“ mit allen damit verbundenen Stereotypen der Zeit. Flüche. Wahrsagerei. Diebstahl. Diese Vorurteile sind offensichtlich diskriminierend, aber ist das Wort „Zigeuner“ an sich auch schon problematisch?

Ich weiß, dass manche Roma das Wort für sich zurückerobert und positiv neuinterpretiert haben, während eine Mehrheit es immer noch als rassistische Beleidigung betrachtet. Es ist heikel: Einerseits spiegeln Romane nun mal sehr stark ihre Zeit wider, und ich finde, dass wir das nicht auslöschen sollten – wir müssen uns daran erinnern, woher wir kommen, im Guten wie im Schlechten, um positive Veränderungen bewirken zu können. Andererseits fühle ich mich unwohl dabei, so etwas im Raum stehenzulassen. Dennoch tendiere zur Meinung, dass Buchzensur ein sehr, sehr schmaler Grat ist, der auf fatale Weise ausufern kann. Daher würde ich es lieber sehen, dass Bücher ein erklärendes Vorwort oder einen Anhang mit zusätzlichen Informationen erhalten, als dass Begriffe oder ganze Passagen gestrichen werden.

Bewertung vom 13.06.2023
Gallant
Schwab, V. E.

Gallant


sehr gut

Ich habe bereits mehrere Bücher von V.E. Schwab gelesen und sie sind immer fesselnd und zutiefst originell, mit einem großartigen, dunkel-poetischen Schreibstil. Das gilt auch für »Gallant«: In einer so kreativ wie wunderschön umgesetzten Geschichte trifft »Der geheime Garten« auf Mystery-Horror, für Leser:innen jeden Alters. Schwab verleiht vertrauten Motiven ihren eigenen „Klang“ und verwebt sie mit einer dichten Atmosphäre, die beunruhigend und doch bezaubernd ist.

Schauerroman? Mystery? Portal-Fantasy? Horror? Dunkles Märchen? Das alles verschmilzt hier, begleitet von eindrucksvollen Metaphern und lebendigen Bildern. Das Worldbuilding lädt subtil und feinfühlig dazu ein, zwischen den Zeilen zu lesen.

Die Handlung entfaltet sich in einem gemächlichen Tempo und lässt Schwabs Worten somit Zeit dafür, dieser Geschichte Tiefgang zu verleihen. Doch obwohl ich die Schönheit ihrer Sprache sehr genossen habe, gab es etwas an »Gallant«, das mich nicht vollständig zufriedenstellte.

In manchen Passagen lässt die Spannung nach, während die Echos starker, unheimlicher Momente ins Nichts verhallen. Düster und voller verwickelter Wendungen steuert die Handlung auf ein Ende zu, das sich nicht vor Herzschmerz scheut – was ich tatsächlich für eine gute Wahl halte. Aber die Geschichte verliert sich manchmal allzu sehr in Wiederholungen, und die Auflösung war letztendlich für mich nicht hundertprozentig befriedigend.

Es ist dennoch ein sehr guter Roman, versteht mich nicht falsch! Aber ich habe ihn nicht mit derselben atemlosen Begeisterung verschlungen wie zum Beispiel »Das unsichtbare Leben der Addie LaRue«.

Ich schätze die Repräsentation in diesem Roman: Olivia ist stumm und scheint asexuell zu sein, und die Autorin deutet kein einziges Mal an, dass dies ein Mangel sei oder »repariert« werden müsste. Ich mochte Olivia sehr und halte sie für einen gut ausgearbeiteten Charakter; die Nebencharaktere sind ebenfalls gut geschrieben und zeigen mit jedem Kapitel mehr Tiefe.

Bewertung vom 06.06.2023
A Song of Wraiths and Ruin. Die Spiele von Solstasia / Das Reich von Sonande Bd.1
Brown, Roseanne A.

A Song of Wraiths and Ruin. Die Spiele von Solstasia / Das Reich von Sonande Bd.1


ausgezeichnet

Warum ich dieses Buch liebe? Ach, wo soll ich da anfangen?

Der Schreibstil ist opulent und wunderschön; die farbenfrohe, nuancierte Atmosphäre tropft geradezu aus den Seiten. Mit Liebe zum Detail und lebendigen Schauplätzen entführt die Autorin ihre Leser:innen in eine zutiefst originelle Welt, die sich von der westafrikanischen Folklore inspirieren lässt.

Die Erzählung legt ein mitreißendes Tempo vor, gespickt mit Spannung und vielen unerwarteten Wendungen. Ich ertappte mich dabei, wie ich die knapp 500 Seiten geradezu verschlang und gleichzeitig innehalten wollte, um das Erzählte zu genießen.

Mit jedem Kapitel entpuppen sich die beiden Protagonisten, Karina und Malik, immer mehr als authentische, vielschichtige Charaktere, die Klischees trotzen – und in ein Schicksal verwickelt werden, das von ihnen den ultimativen Verrat verlangt. Mit Schrecken beobachtest du als Leser:in, wie die Geschichte unausweichlich auf fürchterlichen Schmerz zusteuert, daher ist die wachsende Anziehung zwischen den beiden bitter-süß.

Wir begegnen rachsüchtigen Geistern und uralter Magie, aber unter all dem liegen sehr reale Konflikte, Probleme und Herausforderungen. Der Roman wagt sich an gewichtige Themen wie Krieg, Trauer, Ungerechtigkeit und Vorurteile, und das verleiht der Geschichte eine Tiefe und Resonanz, die über ein oberflächliches Fantasy-Abenteuer hinausgeht.

Vor allem möchte ich die Repräsentation von Menschen mit psychischen Erkrankungen loben: Malik, ein Flüchtling aus einem vom Krieg zerrütteten Land, leidet unter lähmender Angst und Panikattacken. Die Autorin nutzt dies niemals als Gimmick, um der Geschichte mehr Drama abzutrotzen, und sie verfällt auch nicht dem müden Stereotyp, dass der Held im Laufe seiner Reise »geheilt« werden muss. (Wobei oft unausgesprochen anklingt, dass er vorher defekt oder weniger heldenhaft war.)

Stattdessen zeichnet sie ein sehr authentisches, glaubhaftes Bild – von seinem inneren Kampf, aber auch von seinem Mut und seinem Wert, der niemals dadurch geschmälert wird, dass er als »schwach« dargestellt wird.

Bewertung vom 01.06.2023
Wolfskinder
Buck, Vera

Wolfskinder


sehr gut

In der abgeschiedenen Siedlung Jakobsleiter lebt eine eingeschworene Gemeinschaft, die sich nach außen komplett abschottet. Mit der modernen Gesellschaft will man nichts zu tun haben, und das reicht vom Smartphone bis zur Emanzipation. Die Teenager schickt man nur mit Widerwillen zur Schule in der nächsten Kleinstadt der Bergregion, wo sie verspottet und brutal gemobbt werden. Während der 16-jährige Jesse zufrieden ist mit dem einfachen Leben in Jakobsleiter, will die gleichaltrige Rebekka mehr: Sie will die Welt sehen, sie will frei sein. Als sie spurlos verschwindet, muss Jesse sich fragen, ob sie geflohen oder ob ihr etwas zugestoßen ist.

Journalistin Smilla besucht die Region, um sich an ihre beste Freundin zu erinnern, die hier vor einigen Jahren ebenfalls verschwand. Lebt Juli noch oder ist sie damals einer Gewalttat zum Opfer gefallen? Als Smilla ein Mädchen begegnet, das frappierende Ähnlichkeiten mit Juli hat, kommt sie einem dunklen Geheimnis auf die Spur. Auch die Lehrerin der Schule fragt sich zunehmend beunruhigt, was eigentlich vorgeht ins Jakobsleiter.

Den Aufbau der Handlung finde ich überwiegend sehr gelungen. Durch das Setting einer abgeschiedenen Siedlung bricht die übliche Ermittlungsarbeit komplett weg, was die Geschichte unberechenbar und auf spannende Art vielschichtig macht. Jakobsleiter ist fast wie eine Blackbox, die statt des Lichtes die Wahrheit verschlingt – und niemand von außerhalb realisiert das.

Zwar gibt es die ein oder andere Entwicklung, die die Glaubhaftigkeit etwas überstrapaziert, aber das verleiht der Geschichte fast etwas Märchenhaftes, was gut zum Ambiente passt. Trotz leichtem Stirnrunzeln war ich daher durchaus bereit, mich auf die Wendungen einzulassen. Nur wenige Entwicklungen verlassen sich meines Empfindens allzu sehr auf den Zufall oder die unverhoffte Rettung: Deus ex Machina ist selten gut für die Spannung.

Auf jeden Fall ist der Verlauf der Handlung originell, schwankend zwischen historischem Schauerroman und modernem Thriller. Meines Erachtens baut sich die Spannung eher langsam und schleichend auf, ist aber fein dosiert und gibt der Atmosphäre Raum, ihre Wirkung zu entfalten.

Die meisten Charaktere erschienen mir schlüssig gezeichnet, vielschichtig und überzeugend porträtiert. Die Menschen aus Jakobsleiter haben etwas Ursprüngliches, Ungezähmtes an sich, das dem Titel eine zusätzliche Dimension verleiht – und einen spannenden Kontrast zu den Menschen von außerhalb bildet.

Der Schreibstil ist recht einfach, weiß die Geschichte indes mit klaren, prägnanten Worten gut zu tragen.

Die Geschichte entfaltet eine düstere Kult-Atmosphäre, und die Autorin unterstreicht dies mit stimmungsvollen Beschreibungen der Schauplätze, die wie aus der Zeit gefallen wirken: Jakobsleiter ist kein Ort der unbeschwerten Lebensfreude, und die dunklen Wälder und Schluchten der Umgebung vermitteln ein Gefühl der lebensfeindlichen Trostlosigkeit. Hier gibt es weder ärztliche Versorgung noch Internet oder Funknetz – also keine Möglichkeit, sich rasch Hilfe zu holen. Ein Großteil der Wirkung des Thrillers speist sich aus einem tief verwurzeltem Gefühl der Beklemmung, Schatten einer archaischen Angst.

Bewertung vom 31.05.2023
Klara und die Sonne
Ishiguro, Kazuo

Klara und die Sonne


ausgezeichnet

Kazuo Ishiguro entwirft mit leichter Hand ein Panorama der Menschlichkeit, indem er sie aus der einzigartigen Perspektive einer Figur zeigt, die an ihrem Rande steht und sich nach Zugehörigkeit sehnt. Klara, eine »künstliche Freundin«, besitzt einen ausgeprägten Instinkt für feine Nuancen; für eine KI ist ihre emotionale Intelligenz außergewöhnlich und entwickelt sich stetig weiter. Auf gewisse Weise hat sie ein tieferes Verständnis der menschlichen Natur als viele Menschen, da sie alles mit neutralem Blick aufnimmt – ohne Vorurteile oder vorgefasste Meinungen.

Obwohl sie mit grundlegenden Konzepten wie Tod oder Liebe ringt und die Emotionen, die sie empfindet, nicht vollends zu verarbeiten weiß, besitzt ihre Charakterzeichnung eine berührende emotionale Resonanz.

Anfangs gewährt uns der Autor nur begrenztes Wissen über die Welt des Romans, doch mit jedem Stückchen Erkenntnis erweitert sich unser Verständnis. Wie Klara navigieren wir anhand von Brotkrumen: Gedämpfte Gespräche, die weder für sie noch für uns bestimmt sind. Das Verhalten von Menschen, die sich unbeobachtet fühlen.

Der Roman behandelt ein breites Spektrum an Themen, die mit jedem Kapitel an Tiefe gewinnen. Neben vertrauten Themen wie Familie und Freundschaft, taucht die Geschichte schon bald in ethische Überlegungen angesichts einer zutiefst unsicheren Zukunft ein. In einer Welt, die sowohl ungeahnte Möglichkeiten als auch ungeahnte Schwierigkeiten birgt, müssen wir unsere Ethik neu bewerten.

In einigen Aspekten erinnert der Roman an den Film »Gattaca«. Beide Werke befassen sich mit den Auswirkungen des Fortschritts in Wissenschaft und Technologie auf die menschliche Erfahrung. Beide werfen Fragen auf über den Wert der Individualität, die potenziellen Konsequenzen der Manipulation menschlicher Gene, und die ethischen Grenzen wissenschaftlichen Fortschritts. Während sich die spezifischen Kontexte unterscheiden, teilen sie doch die gemeinsame Erkundung der Auswirkungen wissenschaftlichen Fortschritts auf menschliche Identität, Beziehungen und die Gesellschaft als Ganzes.

Ein überraschend berührender Aspekt ist die Art, wie Klara über die Sonne denkt und fühlt – ohne zu ahnen, wie stark dies dem Gottesverständnis der Menschen ähnelt. Das wirft die Frage auf, ob es eine unausweichliche Entwicklung ist, dass fühlende Wesen ihre Wissenslücken mit dem Glauben an eine höhere Macht überbrücken.

Es sei mir verziehen, dass ich hier aufhöre und in meiner Rezension nicht mehr verrate – der Roman entfaltet seine Wirkung am besten, wenn du dir deinen eigenen Weg durch die Geschichte suchst.

Fazit

Dies ist mein drittes Buch von Kazuo Ishiguro, und auch dieses hat mich wieder sehr berührt. Der Schreibstil, die Charaktere, die angesprochenen Themen, alles fügt sich nahtlos zusammen zu einem Buch, das zum Nachdenken anregt.

Bewertung vom 24.08.2018
Vier.Zwei.Eins.
Kelly, Erin

Vier.Zwei.Eins.


sehr gut

“Vier.Zwei.Eins.” ist eines von diesen Büchern, bei deren Lektüre man sich schnell ein Urteil bilden kann: das sind die Guten, das sind die Bösen, das ist die Wahrheit, das ist eine Lüge. Doch dann passiert etwas, das alles über den Haufen wirft: man bildet sich neue Meinungen und neue Urteile – schon schwurbelt die Autorin wieder alles durcheinander, und am Schluss ist alles ganz anders als gedacht.

Ich mag solche Bücher.

Ich finde es auch nicht tragisch, wenn sie nicht hundertprozentig in die üblichen Schemata für ‘Thriller’ oder ‘Krimi’ passen, sondern eher… Ja, was eigentlich sind? Ein Genremix, vielleicht: Thriller verrührt mit Krimi, abgeschmeckt mit ein wenig Gegenwartsliteratur, gewürzt mit einem Hauch Drama.

Damit will ich nicht unbedingt sagen, dass die Spannung zu kurz kommt.

Es ist nur eine andere Art Spannung: eine Spannung der leisen Zwischentöne und der menschlichen Abgründe, und das ganz ohne Serienkiller. Natürlich will man wissen, ob Beth wirklich vergewaltigt wurde oder nicht, ob sie ein Opfer ist oder eine gerissene Psychopathin. Aber vor allem sieht man den Charakteren dabei zu, wie sie an ihre Grenzen kommen und darüber hinausgehen, wie sie ihre Prinzipien verraten oder verteidigen, und vor allem, wie sie miteinander umgehen, wenn so viel Ungesagtes zwischen ihnen steht.

Und ganz ehrlich: im Titel ist die Rede von einer Lüge, aber tatsächlich gibt es hier wohl keinen einzigen Hauptcharakter, der nicht gelogen hat…

Erin Kelly konstruiert diese Geschichte mit viel Geschick und Einfallsreichtum. Vor allem die falschen Fährten legt sie meisterhaft, und im Rückblick lesen sich manche Szenen auf einmal ganz anders.

Manchmal habe ich jedoch im Detail an der Glaubwürdigkeit gezweifelt.

Zum Beispiel haben Laura und Kit ein neues Leben angefangen, als seien sie im Zeugenschutzprogamm, um nicht gefunden zu werden. Sie haben ihre Nachnamen geändert, sich aus allen sozialen Medien gelöscht, andere Jobs angenommen, sind immer und überall auf paranoide Art und Weise übervorsichtig. Aber erstens haben sie immer noch Kontakt zu ihren Familien und leben anscheinend in deren unmittelbarer Nähe – und da ihre Familienmitglieder ihre Namen nicht geändert haben, sollten Laura und Kit ziemlich einfach zu finden sein. Zweitens ist Kit besessen von Sonnenfinsternissen und reist von Ort zu Ort, um sie zu beobachten, man weiß also immer ziemlich genau, wo man ihn zu welchem Zeitpunkt finden kann.

Das hat mich an einigen Stellen empfindlich gestört. Das Buch hat in meinen Augen auch ein paar Passagen, in denen sich die Charaktere zu sehr in etwas verrennen und die Geschichte ins Stocken kommt. Trotz meiner leichten Zweifel, trotz dieser gelegentlichen Längen habe ich die Geschichte jedoch sehr gerne bis zu ihrem Ende verfolgt.

Ich habe immer mitgerätselt, was sich am Schluss als die Wahrheit herausstellen würde.

Das Buch konzentriert sich ganz auf seine Hauptcharaktere. Man bleibt dicht an Kit und Laura dran, erlebt ihre Ängste, Zweifel und Hoffnungen hautnah mit. Und dennoch schafft es die Autorin, da noch Raum für Zweifel zu lassen. Wirklich bis in Letzte vertrauen kann der Leser bis ganz zum Schluss niemandem, denn man kann nicht sicher sein, wer lügt und zu welchem Zweck. Erst im Rückblick weiß man genau, wie alles wirklich abgelaufen ist.

Der Schreibstil gefiel mir ganz gut: flüssig, temporeich, leicht und unterhaltsam zu lesen. Der Autorin gelingt es wunderbar, zwischen Zeiten und Perspektiven hin- und herzuspringen, so dass sich die Wahrheit nach und nach enthüllt.

Bewertung vom 24.05.2018
Die Totenflüsterin / Gemma Monroe Bd.1
Littlejohn, Emily

Die Totenflüsterin / Gemma Monroe Bd.1


ausgezeichnet

Die junge Polizistin Gemma Monroe ermittelt in einem Mordfall, der nicht nur deswegen ungewöhnlich ist, weil Morde in ihrer kleinen Stadt nicht oft begangen werden.

Der Clown eines herumreisenden Zirkus’ wird mit durchgeschnittener Kehle gefunden. Als die Fingerabdrücke des jungen Mannes routinemäßig überprüft werden, stellt sich Erstaunliches heraus: Erstens ist er für die Polizei von Cedar Valley beileibe kein Unbekannter.

Zweitens ist er vor drei Jahren schon einmal gestorben.

Außerdem kristallisieren sich schon bald Verknüpfungen zu einem weiteren alten Fall heraus, den Gemma niemals klären, aber auch niemals loslassen konnte.

Vor Jahren entdeckte sie auf einem privaten Skiausflug abseits der vielbefahrenen Strecken den Schädel eines Kindes, wonach die vollständigen Skelette zweier Kinder geborgen werden konnten, die bereits vor 30 Jahren verschwunden waren. Der erhoffte Durchbruch in diesem Cold Case blieb indes aus.

Seitdem hört Gemma die Kinder in ihren Träumen flüstern…

Die Spannung glimmt über lange Passagen intensiv, aber eher unterschwellig, womit ich jedoch keineswegs sagen will, dass das Buch langweilig wäre – ganz im Gegenteil! Mir gefiel sehr gut, dass die Spannung eben nicht auf wilder Action und literweise Blut beruht, sondern auf einem komplizierten Netz von persönlichen Verstrickungen und vielfältigen Ermittlungen. Nichts ist, wie es zunächst scheint.

Auch wenn die Handlung verhältnismäßig ruhig verläuft, passen Takt und Tempo doch perfekt zu Atmosphäre und Aufbau des Buches.

Ich war beeindruckt davon, wie gekonnt die Autorin in ihrem Debüt (!!) die komplexen Strukturen der vielschichtigen Handlung handhabt.

Weder verläuft die Ermittlung meines Erachtens übermäßig verworren, noch ist die Auflösung zu schnell vorhersehbar. Tatsächlich habe ich den/die Schuldige(n) (ich will da noch nichts verraten) erst sehr spät in Betracht gezogen, aber es ergibt absolut Sinn, so wie es ist.

Allenfalls geht es am Schluss vielleicht ein wenig zu schnell, ich hätte über manche Entwicklungen gerne noch etwas mehr erfahren! Aber das ist in meinen Augen eine verzeihliche Schwäche – für mich war “Die Totenflüsterin” ein großartiger Erstling, und ich werde weitere Bände auf jeden Fall lesen.

Ein Highlight war für mich der Schreibstil, der mit wunderbarer Sprachmelodie Atmosphäre aufbaut und die Handlungsorte lebendig beschreibt.

Aber auch die Charaktere haben mir sehr gut gefallen: sie sind sehr glaubhaft und authentisch, abseits der üblichen Krimi-Klischees – auch wenn ich am Anfang ein solches Klischee befürchtete! Denn Gemma wird schon bald gezwungen, mit ihrem Kollegen Finn zu arbeiten, den sie nicht ausstehen kann, aber das verläuft nicht so, wie man vielleicht erwarten würde.

Gemma selber ist eine interessante Protagonistin, mit einer ganz eigenen, prägnanten Stimme: Hochschwanger, hochintelligent, mit psychischen Problemen und einem Partner, dem sie nicht mehr vertraut, aber auch einem guten Sinn für Humor.

Ich hatte schnell das Gefühl einer ‘Verbindung’ zu ihr, so dass die Handlung für mich mehr emotionale Wucht bekam.

Ihren Kollegen Finn konnte ich am Anfang nicht ausstehen. Er kam mir sehr überheblich und von sich selbt überzeugt vor, außerdem hat er schnell mal einen frauenfeindlichen Spruch auf den Lippen… Aber sogar Finn entwickelt im Verlauf des Buches mehr Tiefgang, als ich ihm zugetraut hätte.

FAZIT

Ein ‘Cold Case’ und ein brandaktueller Fall: Ein junger Clown stirbt – zum zweiten Mal! –, und es scheint Verbindungen zu einem zweifachen Kindermord vor 30 Jahren zu geben. Leider ist von dieser Verbindung außer der jungen Polizistin Gemma Monroe niemand so recht überzeugt…

“Die Totenflüsterin” ist ein beeindruckender Debütroman: ein clever konstruierter, vielschichtiger Krimi mit einer sehr interessanten Protagonistin und viel Atmosphäre.

Bewertung vom 15.05.2018
Die Frauen von Ballycastle (eBook, ePUB)
Binder, Sandra

Die Frauen von Ballycastle (eBook, ePUB)


sehr gut

Dieser Roman ist nicht nur was fürs Herz, sondern einfach maßgeschneidert für Vielleserinnen

Fina Ramsay ist eine Heldin, mit der man als Bücherwurm nur mitfiebern kann.

Bücher sind ihr ein und alles, die eigene Buchhandlung war seit jeher ihr Lebenstraum. Man kann ihren Zorn und ihre Verzweiflung daher nur allzu gut verstehen, als die Kunden reihenweise abwandern in den lieblosen ‘Buch-Supermarkt’ schräg gegenüber.

Aber sie hat nicht vor, sich kampflos geschlagen zu geben, und so schreibt sie dem Filialleiter Liam McClary eine gepfefferte Email nach der anderen, auf die er mit gelassenem Amüsement reagiert – was sie erst recht auf die Palme bringt. Und so witzig das oft ist, desto traurig ist der Grund für den herrlichen Schlagabtausch.

Leider ist es im echten Leben ja oft so, dass die inhabergeführte Kleinbuchhandlung einfach nicht mithalten kann mit den großen Ketten, die zehnmal so viele Bücher vorrätig haben können.

An dieser Stelle ein Appell: gebt kleinen Buchhandlungen eine Chance!

Jedenfalls ist Fina eine großartige Heldin: eine starke Frau, die für ihren Traum kämpft, die aber auch Schwächen hat, die sie menschlich und glaubhaft machen. Die größte davon ist sicher, dass sie sich gemütlich eingerichtet hat in ihrem Leben und weder Spontanität noch Abenteuer in irgendeiner Form zulässt. Außerdem fällt sie manchmal sehr schnell Urteile und lässt dann verbohrt lange nicht davon ab!

Auch ihr Gegenspieler Liam ist ein wunderbarer Charakter, der natürlich nicht vollends Finas Feindbild entspricht. In manchem hat sie allerdings recht: ihm fehlen Finas Herzblut und ihre Leidenschaft für die Literatur. Gerade deswegen sind die beiden aber sehr interessante Protagonisten, die sich gegenseitig dazu bringen, eine große persönliche Entwicklung durchzumachen.

Es geht jedoch nicht nur um den Kleinkrieg zwischen Fina Ramsay und Liam McClary.
Die Geschichte nimmt Fahrt auf und wird spannend, als Fina in den Sachen ihrer Alzheimer-geplagten Großmutter einen rätselhaften, unvollständigen Brief findet. Klar ist nur, es muss ein Geheimnis geben, das die Familien Ramsay und McClary miteinander verbindet – ausgerechnet. 1970 ist in Nordirland irgendetwas passiert, und Fina ist sich sicher: das muss der Grund sein, warum ihre Großmutter immer so unglücklich wirkte…

Fina fasst den Entschluss, das Geheimnis aufzudecken, um ihrer Großmutter für ihren Lebensabend möglicherweise noch etwas Glück zu schenken.

Die Beziehung zwischen Großmutter und Enkelin ist so herzerwärmend wie tragisch, denn immer öfter erkennt die alte Frau Fina gar nicht mehr. Die Autorin nimmt sich des Themas Alzheimer mit viel Feingefühl an, und so gesellt sich zu Spannung (und später Romantik) auch ein gewisser Tiefgang.

Apropos Romantik: die Liebesgeschichte fand ich sogar als bekennender Romantikmuffel richtig schön.

Gerade durch die Mischung zwischen Spannung, Humor und ernsten Themen wird es in meinen Augen nie zu kitschig. Überhaupt fand ich den Schreibstil sehr angenehm, locker-flockig und flüssig zu lesen, dabei aber nicht platt oder klischeehaft.

Sehr interessant und spannend fand ich auch die Einblicke in das Leben in Irland zu Beginn der ‘Troubles’, der gewalttätigen Konflikte des großen Nordirlandkonflikts. (Am Ende des Buches findet man dazu noch weitere Informationen!)
Auch dieser Hintergrund trägt zum Tiefgang der Geschichte bei und rundet die Liebes- und Familiengeschichte ab.

FAZIT
Was als witzige Fehde zwischen zwei Buchhändlern beginnt (Fina: Inhaberin einer unabhängigen Buchhandlung, Liam: Filialleiter einer großen Kette), stellt sich schnell als Geschichte eines Familiengeheimnisses heraus, das zurückführt ins Jahr 1970 in Nordirland – und damit die eskalierende Gewalt des Nordirlandkonflikts.

Trotz des zeitgeschichtlichen Hintergrunds und anderer ernster Themen wie Alzheimer ist “Die Frauen von Ballycastle” auch ein echtes Wohlfühlbuch mit einer schönen Liebesgeschichte.