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Tsubame

Bewertungen

Insgesamt 52 Bewertungen
Bewertung vom 30.03.2021
Big Sky Country
Wink, Callan

Big Sky Country


sehr gut

Eine Jugend in Michigan und Montana

August heißt der Heranwachsende in dem Roman "Big Sky Country" von Callan Wink. Seine Eltern waren einmal verliebt in einander, sind es aber bereits nicht mehr, als wir August im Alter von zwölf Jahren kennenlernen. Er soll im Auftrag seines Vaters der Katzenplage Herr werden, die sich in der Scheune ausgebreitet hat. Einen Dollar für jeden abgeschnittenen Schwanz bietet ihm dieser und so beginnt das Buch gleich mit einer unerfreulichen Szene.

Während Augusts Vater und später auch dessen Freundin Lisa im "neuen Haus" auf dem Hof leben, bewohnt Augusts Mutter nur ein paar Meter weiter das "alte Haus", in dem sie ihr Sohn täglich besuchen kommt.

Nach einem Zwischenfall in Augusts Schule packt seine Mutter ihren Sohn und zieht mit ihm nach Grand Rapids, wo sie ihr Studium nachholt und den Master in Bibliothekswissenschaft erlangt. Zusammen mit August zieht sie nach Montana, um dort eine Stelle anzutreten.

Wieder pendelt August zwischen seinen Eltern hin und her. Die Ferien verbringt er beim Vater in Michigan, seinen Lebensmittelpunkt hat er jetzt aber bei seiner Mutter in Montana. Doch irgendwann verlässt er auch das mütterliche Nest und begibt sich auf die Suche nach seinem eigenen Weg.

August ist ein langsamer, eher wortkarger Typ, den ich August "Ganz ok" getauft habe, da das die Worte sind, die er am häufigsten verwendet, wenn ihn jemand fragt, wie es ihm geht. Er macht (fast) alles mit, entwickelt aber schließlich doch noch die Fähigkeit zwischen "richtig" und "falsch" zu unterscheiden und macht sich seine eigenen Gedanken über seine Eltern, die Frauen und das, was man ihm alles zuträgt. Während einem die Männer im Big Sky Country zwar nicht unbedingt ans Herz wachsen, gelingt es dem Autor dennoch, einen ganz bestimmten Menschenschlag glaubhaft zum Leben zu erwecken.

Das Buch ist gut geschrieben und obwohl ich eine ganze Weile gebraucht habe, mit den Charakteren einigermaßen warm zu werden, war ich ein bisschen traurig, als die Geschichte schließlich zu Ende war. Warum? Das bleibt wohl das Geheimnis des Erzählers Callan Wink ...

Bewertung vom 30.03.2021
Das Flüstern der Bienen
Segovia, Sofía

Das Flüstern der Bienen


ausgezeichnet

Es gibt Bücher, die haben ein tolles Cover, aber einen enttäuschenden Inhalt. Dann gibt es noch solche, bei denen es sich genau umgekehrt verhält. Dass mich Geschichte UND Cover ansprechen ist eher selten, aber in diesem Fall zu 100% geglückt.

Sofía Segovia ist eine wirklich große Geschichtenerzählerin. Man durchlebt mit ihren Figuren nicht nur die Spanische Grippe, das Dorfleben von Linares, einem Ort im Nordosten Mexikos oder das Leben auf dem Landgut der Familie Morales, man lernt darüber hinaus lauter skurrile Charaktere kennen wie etwa Nana Reja, die alte Amme, die mit ihrer dunklen Brust schon ganze Generationen von Morales-Säuglingen gestillt hat oder Simonopio, das Findelkind mit dem entstellten Gesicht, der sich mit den Bienen, die ihn stets umschwirren, verständigen kann, Anselmo Espiricueta, den Erntehelfer, Pächter und "Kojoten", der dem Kind als "Teufelsbalg" zeitlebens nach dem Leben trachtet und natürlich die Familienmitglieder der Familie Morales: den Gutsbesitzer Francisco Morales, seine Frau Beatriz, ihre zwei Töchter und den spätgeborenen Sohn Francisco, der die Geschichte - bereits selbst alt und grau geworden - einem Taxifahrer auf dem Weg von Monterrey in sein Heimatdorf Linares erzählt.

Zwar kann man sich mit dem Buch in eine andere Zeit und in ein anderes Land träumen, aber mit dem Auftreten der Spanischen Grippe fühlt man sich sofort an die heutige Corona-Pandemie erinnert. Schon damals galt die komplette Isolation als bester Schutz gegen Ansteckung und Tod.

Mir hat das Buch mit seiner ungewöhnlichen Geschichte sehr gut gefallen. Es macht Lust darauf, wieder mehr lateinamerikanische Literatur zu lesen.

Für mich definitiv ein Lesehighlight!

Bewertung vom 27.03.2021
Der große Sommer
Arenz, Ewald

Der große Sommer


ausgezeichnet

Frieder kann vom Fünfmeterbrett springen, hat aber ein Problem mit Mathe und Latein. Und so heißt es für ihn in diesem Sommer bei den Großeltern für die Nachprüfungen büffeln, während der Rest der Familie ohne ihn in die Ferien fährt.

Wenn da nicht die zufällige Begegnung mit Beate, dem Mädchen im flaschengrünen Badeanzug im Schwimmbad gewesen wäre, die ihm nicht mehr aus dem Kopf gehen will, wäre Frieders Sommer somit gelaufen. Ihm graut vor der Begegnung mit dem distanzierten Großvater, den er viele Jahre siezen musste und von dessen Art er sich eingeschüchtert fühlt.

Doch dank Frieders jüngerer Schwester Alma, die während des Sommers im Altersheim ein Praktikum macht und seinem besten Freund Johann und natürlich Beate wird aus diesem so gefürchteten Sommer der eine große Sommer, nach dem nichts mehr so sein wird wie es einmal war.

Mir als Leserin hat es großen Spaß gemacht, dabei zu sein, und dank der herrlich spritzigen Jugenddialoge, der eingefangenen Stimmungen und einer berührenden Geschichte, war ich mitten drin und fühlte mich manchmal in die Sommer meiner eigenen Jugend zurückversetzt.

Ich habe das Buch gerne gelesen und finde es auch optisch sehr ansprechend. Dass die Luftblasen bei Frieders Sprung ins Wasser auf dem Buchdeckel tastbar sind, trägt zum sinnlichen Erleben bei und macht das Buch zu einem besonderen Schatz im Bücherregal.

Bewertung vom 20.10.2020
Der Moment zwischen den Zeiten (eBook, ePUB)
Orriols, Marta

Der Moment zwischen den Zeiten (eBook, ePUB)


gut

Der Moment zwischen den Zeiten

Marta Orriols Roman besteht aus 3 Teilen: dem VORHER, dem DANACH, aber vor allem dem Moment DAZWISCHEN. Dieser zweite Teil nimmt den größten Raum ein, denn er erzählt davon, wie Paula, die Protagonistin des Buches, mit ihrem doppelten Verlust klar kommt:

Ihr langjähriger Partner Mauro hat ihr beim gemeinsamen Mittagessen offenbart, dass er sie für eine jüngere Frau verlassen will. Kurze Zeit später stirbt er an den Folgen eines Verkehrsunfalls.

Wie geht man um mit solch einer Situation? Überwiegt die Wut oder die Trauer? Wie findet man zurück ins Leben?

Paula, die sich mit ihren widersprüchlichen Gefühlen auseinandersetzen muss, stürzt sich zunächst in die Arbeit. Sie ist Neonatologin und kümmert sich um die Frühchen auf einer Kinderstation. Schon vor der Tragödie war sie so etwas wie ein Workaholic, doch nach Mauros Tod schläft und isst sie kaum noch, verschließt sich vor den anderen und grübelt darüber nach, wann ihre Beziehung die ersten Risse bekam.

Mir fiel es mitunter schwer, mich auf Paulas Gedanken- und Gefühlswelt einzulassen, vielleicht, weil mir z.Zt. selbst viele Dinge durch den Kopf gehen. Leider konnte mich die Geschichte trotz spannender Thematik emotional nicht berühren und so war ich etwas enttäuscht von dem Buch, das so viele Leserinnen in Spanien begeistert haben soll.

Nicht mein Buch, würde ich sagen, aber vielleicht stoße ich ja irgendwann auf einen Roman aus Spanien, der auch mich begeistern kann.

Bewertung vom 24.08.2020
Wilde Freude
Chalandon, Sorj

Wilde Freude


sehr gut

Der Autor Sorj Chalandon ist gebürtiger Tunesier und gilt als einer der wichtigsten zeitgenössischen Schriftsteller Frankreichs. Ohne es genauer begründen zu können, fand ich sein Buch sehr 'französisch', was dafür spricht, dass er schon lange in Frankreich lebt und arbeitet.

Das Thema, dem sich Sorj Chalandon in seinem Roman "Wilde Freude" angenommen hat, ist ein sehr weibliches. Es geht um 4 Frauen, von denen 3 an Brustkrebs erkrankt sind. Die Geschichte wird aus Sicht von Jeanne Hervineau erzählt, einer eher ängstlichen Buchhändlerin, die sich für alles und jedes entschuldigt, was ihr bei den anderen schon bald den Namen "Jeanne Sorry" einträgt.

Alle 4 Frauen haben schlechte Erfahrungen mit Männern gemacht, Jeannes Ehemann Matt kommt mit der Erkrankung seiner Frau nicht klar und verlässt sie, nachdem ihr die Haare ausfallen und sich Jeannes Zustand nicht mehr verbergen lässt.

Das liest sich z.T. sehr beklemmend und man ist froh, dass sich da 4 Gleichgesinnte gefunden haben, um dem Krebs gemeinsam den Krieg zu erklären. Doch nicht nur das. Der Musketierspruch "Einer für alle, alle für einen" wird hier auch in anderen Situationen auf weibliche Art und Weise umgesetzt. Um einer der ihren zu helfen, beschließen die Frauen, einen Juwelier auszurauben...

Mir hat das Buch gefallen, auch wenn es mich nicht gleich mitgerissen hat. Das Thema "Brustkrebs" aus der Feder eines Mannes hätte auch leicht daneben gehen können, aber ich fand, der Autor hat das gut gemeistert und den Frauen bei all dem Elend doch ihre Würde gelassen. Zu guter Letzt kann der Roman noch mit einer überraschenden Wende aufwarten. Leserherz, was willst du mehr?

Bewertung vom 24.06.2020
Das Holländerhaus
Patchett, Ann

Das Holländerhaus


sehr gut

Ein amerikanisches Märchen

Allein vom Titel her hätte ich nicht vermutet, dass die Geschichte des Romans "Das Holländerhaus" in der Umgebung von Philadelphia spielt. Doch da sich Amerika aus vielen unterschiedlichen Einwanderernationen zusammensetzt, waren sicherlich auch ein paar Holländer darunter - in diesem Fall die Familie VanHoebeek, die ihr Vermögen durch den Großhandel mit Zigaretten gemacht hatte und sich von dem Geld ein ein prachtvolles Haus errichten ließ, dessen Beschreibungen fast wie im Märchen anmuten:

"Aus der Ferne betrachtet, von gewissen Aussichtspunkten aus, schien es ein Stückchen über dem Hügel zu schweben, auf dem es errichtet war. Die Fensterscheiben links und rechts der gläsernen Haustür waren so groß wie Schaufenster und wurden von schmiedeisernen Weinranken an Ort und Stelle gehalten. Die Fenster ließen die Sonne nicht nur ins Hausinnere, sondern warfen ihr Licht gleichzeitig auf den weitläufigen Rasen vorm Haus zurück." (S.17)

In diesem Haus leben später die Geschwister Maeve und Danny zusammen mit ihren Eltern. Doch während sich der Vater über das Schnäppchen freut, das er durch einen günstigen Handel erworben hat, ist die Mutter von dem Reichtum irritiert und verlässt die Familie, um in Indien Gutes zu tun.

Ihre Nachfolgerin ist eine deutlich jüngere Frau, die prompt mit ihren beiden eigenen Kindern einzieht und sich als die böse Stiefmutter entpuppt, wie man sie aus zahlreichen Märchen kennt. Sie vertreibt Maeve und Danny aus dem Paradies, als deren Vater überraschend an einem Herzinfarkt stirbt. Als echte Hexe hat sie natürlich schon zu Lebzeiten dafür gesorgt, dass allein ihre eigenen Kinder Begünstigte des Vermögens sind. Nur einen Ausbildungsfond hat sie vergessen, und um ihre Stiefmutter ordentlich zu schröpfen, schmiedet Maeve den Plan, dass ihr jüngerer Bruder Danny Medizin studieren soll.

Nun könnte man denken, man wüsste wie dieses Märchen ausgeht. Schließlich werden alle bösen Stiefmütter letztendlich bestraft und es gibt ein paar glückliche Gewinner. Doch so einfach ist es in der Geschichte von Ann Patchett dann doch wieder nicht, denn das wahre Leben sieht in der Regel anders aus. Und so begleitet man die beiden Geschwister durch ihr Leben und stellt fest, dass die Zeit vielleicht nicht alle Wunden heilt, manches im Laufe der Jahre aber doch unwichtiger erscheinen lässt.

Die rund 400 Seiten des Romans sind unterhaltsam und fesselnd erzählt, man erfährt einiges über das Wirtschaftswachstum der 50er und 60er Jahre, doch ein paar Längen gab es meiner Meinung nach leider auch. Daher 'nur' 4 Sterne von mir, aber lesenswert ist die Geschichte auf jeden Fall!

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 01.03.2020
Hotel Cartagena / Chas Riley Bd.9
Buchholz, Simone

Hotel Cartagena / Chas Riley Bd.9


sehr gut

Ein Krimi mit Sogwirkung

Da ich bereits den Vorgängerband von "Hotel Cartagena" gelesen hatte, war ich an den eigenwilligen Schreibstil der Autorin Simone Buchholz schon ein wenig gewöhnt. Doch in diesem Buch setzt sie noch einen drauf. Das Ganze wirkt fast experimentell.

Doch worum geht es überhaupt? Staatsanwältin Chastity Riley feiert mit ihren Kollegen den Abschied von Hauptkommissar Faller, der in den Ruhestand geht. Man hat sich für das Fest die Bar eines luxuriösen Hotels am Hamburger Hafen ausgesucht. Doch aus der Feier wird mit einem Schlag eine Geiselnahme, als eine Gruppe bewaffneter Männer in die Hotelbar eindringt.

In einem weiteren Erzählstrang erfährt man von einem gewissen Henning, der einst nach Südamerika aufbrach, um in der Welt sein Glück zu suchen.
Wie das alles zusammenhängt, wird erst allmählich klar. Zunächst wissen weder die Geiseln noch der Leser, worum es in dieser Geschichte genau geht.
Eins ist jedoch von Anfang an klar: es geht um große Gefühle und komplizierte Beziehungen, die Simone Buchholz in ihrem typischen Erzählstil offenlegt. Dabei spielt sie mit unterschiedlichen Tempi und irgendwann hatte ich tatsächlich das Gefühl, als befände ich mich inmitten eines Musicals, wo die Akteure plötzlich zu singen und zu tanzen anfangen (ich spiele da auf die Stelle mit dem 'Karussell' an). Das mag nicht jedem gefallen, aber ich fand es irgendwie innovativ.

Weniger gefallen hat mir das überstürzte Ende, zu dem ich aber nichts näher verraten möchte.
Alles in allem ein rasantes Lesevergnügen und ein Krimi, der mal so ganz anders daher kommt, als man es als Leser gewohnt ist.

Bewertung vom 01.03.2020
Das Evangelium der Aale
Svensson, Patrik

Das Evangelium der Aale


ausgezeichnet

Faszination Aal

Seit es mit unserem Planeten immer weiter bergab geht, erscheinen immer öfter Bücher, die sich mit den Wundern unserer Erde auseinandersetzen - nicht in Form eines rein wissenschaftlichen Textes, sondern in Form einer fiktionalen oder nicht-fiktionalen Naturbeschreibung. Während ich Sachbücher oft als etwas trocken empfinde, vereint das so genannte "nature writing" interessante Fakten mit persönlichen Erfahrungen, Erlebnissen und Gefühlen des Autors. Wenn sich dann ein so begnadeter Schreiber wie Patrik Svensson dem Thema Aal annimmt, dann bekommt dieser auf den ersten Blick wenig sympathische Fisch einen Fürsprecher, dem es gelingt auch aus dem größten Aal-Skeptiker einen frisch gebackenen Aal-Fan zu machen.

Ich selbst kannte den Aal bisher hauptsächlich aus der bekannten und extrem abstoßenden Szene in der "Blechtrommel" und habe mir sonst keine weiteren Gedanken um diesen Fisch gemacht. Jetzt, wo ich um die "Aalfrage" weiß und um die Strapazen, die der Aal auf sich nimmt, um sich fortzupflanzen, bin ich fasziniert von diesem Wesen, gleichzeitig aber auch traurig, dass es ihn wahrscheinlich bald schon nicht mehr geben wird.
"Das Evangelium der Aale" ist Zeugnis eines faszinierenden Wasserbewohners, der die Menschheit lange Zeit an der Nase herumgeführt hat, sich in Gefangenschaft nicht züchten lässt und der sogar vom Tode auferstehen kann.
Ein tolles Buch! Von mir eine ganz klare Leseempfehlung.

Bewertung vom 25.02.2020
Rote Kreuze
Filipenko, Sasha

Rote Kreuze


ausgezeichnet

In einem Mietshaus in Minsk treffen der junge Alexander und die über neunzigjährige Tatjana Alexejewna aufeinander. Die alte Dame hat ein rotes Kreuz auf seine Tür gemalt, mit Hilfe dessen sie sich im Haus orientiert. Tatjana Alexejewna hat Alzheimer und möchte ihrem Nachbarn ihre Geschichte erzählen, solange sie sich noch an diese erinnern kann.
Alexander, Vater einer kleinen Tochter, folgt seiner Nachbarin zunächst widerwillig in deren Wohnung, hört ihr dann aber doch mit zunehmendem Interesse zu, während diese ihm die unsagbaren Schrecken schildert, die ihr unter Stalin widerfahren sind.
Doch auch Alexander hat eine Vorgeschichte, die er Tatjana Alexejewna allmählich offenbart...

Der Autor Sasha Filipenko ist ein umtriebiger Mensch. Er arbeitete bereits als Journalist, Drehbuchautor, Gag-Schreiber für eine Satire-Show und als Fernsehmoderator. Nun liegt mit "Rote Kreuze" der erste von vier Romanen erstmals auch auf deutsch vor und ich habe mich gefragt, warum ich mit dieser Geschichte, die so vielversprechend begann, eigentlich nicht warm geworden bin.
Vielleicht liegt es ja gerade an dieser Vielseitigkeit des Autors, dem es meiner Meinung nach nicht so recht gelingt, seine Figuren mit echten Gefühlen auszustatten. Ich konnte mich in die Personen nicht einfühlen, zu stark die Distanz und der Anspruch des Autors, die recherchierten historischen Dokumente lückenlos in die Geschichte einzufügen. Briefe und Telegramme lesen sich in etwa so spannend wie eine x-beliebige Gebrauchsanweisung, weshalb ich sie auch einfach überlesen habe.
Alles in allem fand ich die Geschichte um Tatjana Alexejewna gelungener als die um ihren Nachbarn Alexander, doch obwohl das Thema "Leben unter Stalin" eigentlich sehr interessant und zweifellos wichtig ist, hat mich die Geschichte nicht berühren können. Ich glaube, um ein richtig guter Schriftsteller zu sein, braucht es eben doch etwas mehr als nur eine "gute story".

Bewertung vom 25.02.2020
Ein wenig Glaube
Butler, Nickolas

Ein wenig Glaube


sehr gut

Mit "Ein wenig Glaube" rührt Nickolas Butler an ein Thema, bei dem man sich in heutiger Zeit leicht in die Nesseln setzen kann. Ich hatte zunächst die Befürchtung, dass die Geschichte ins Schwülstige abrutschen könnte, doch Nickolas Butler ist ein guter Erzähler, der all seinen Figuren ihr Recht auf Glaubensfreiheit lässt, sich aber dennoch nicht scheut, Religion und Glauben in Frage zu stellen und wenn nötig auch zu kritisieren.
Der Roman beginnt mit einer Szene auf dem Friedhof. Lyle Hovde, Hauptprotagonist der Geschichte, ist mit seinem Enkel Isaac unterwegs, um sich um das Grab seines Sohnes zu kümmern, den er in jungen Jahren verloren hat. Enkel und Großvater haben eine harmonische und innige Beziehung, nichts kann den Frieden trüben, so scheint es. Allmählich erfährt man, dass Isaac der Sohn von Lyles und dessen Frau Pegs Adoptivtochter Shiloh ist, die übergangsweise wieder bei ihnen eingezogen ist. Shiloh hat sich einer religiösen Sekte angeschlossen und verliebt sich schon bald in deren charismatischen Führer. Sie überredet ihre Adoptiveltern, ebenfalls mit in das Gebetshaus, ein ehemaliges Kino, zu kommen, und obwohl Lyle und seine Frau eigentlich viel lieber in ihre eigene Kirche gehen würden, stimmen sie dem Vorschalg ihrer Tochter zu.
Lyle jedoch bleibt der skeptische Beobachter und Zweifler und bekommt schon bald die Sanktionen seiner Tochter zu spüren, die ihm schließlich den Umgang mit seinem Enkel verbietet.
Nickolas Butlers Kunst besteht darin, nicht nur die fortschreitende Entfremdung zwischen Eltern und Tochter darzustellen, sondern auch die Liebe und Ohnmacht zu vermitteln, mit der Lyle und Peg auf ihre eigene Art versuchen, diesen Prozess aufzuhalten. Im Gegensatz zu der Sekte, die Liebe predigt, sind sie es, die Liebe praktizieren – nicht nur im Umgang mit ihrer Tochter und ihrem Enkel, sondern auch im Umgang mit den Menschen, die sie ihr Leben lang begleitet haben wie der an Krebs erkrankte Hoot oder das Ehepaar Otis und Mabel. Und am Ende ist es Lyle, der Skeptiker, der die Entscheidung trifft, seinen Enkel aus den Fängen der Sekte herauszuholen ...
Fazit: Die Geschichte entfaltet sich gemächlich und lässt Gläubige und Nicht-Gläubige aufeinandertreffen. Das führt zu interessanten Fragestellungen, die einem jedoch nicht das Gefühl geben, der Autor wolle einem etwas "überstülpen". Da die Geschichte zudem an eine wahre Begebenheit angelehnt ist, behandelt sie ein Thema, über da es sich definitiv nachzudenken lohnt.