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ein.lesewesen
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ZW

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Insgesamt 99 Bewertungen
Bewertung vom 02.11.2023
Solange wir schwimmen
Otsuka, Julie

Solange wir schwimmen


ausgezeichnet

»Eine von uns – Alice, eine pensionierte Labortechnikerin in einem frühen Stadium von Demenz – kommt her, weil sie schon immer hergekommen ist. Und auch wenn sie sich vielleicht nicht an die Nummer ihres Schließfachs erinnert oder daran, wo sie ihr Handtuch hingelegt hat – sobald sie ins Wasser gleitet, weiß sie, was zu tun ist. Ihre Armzüge sind lang und fließend, ihr Beinschlag ist kräftig, ihr Geist klar.« S.9

Es dauert eine Weile, bis deutlich wird, dass Alice in den Fokus der Geschichte rückt, denn zunächst erleben wir aus der ungewöhnlichen Wir-Perspektive das Treiben in einem unterirdischen Schwimmbad. Alice ist Teil dieser Menschen, die ihre Regeln befolgen, ihre festen Rituale haben, sich an einen Rückzugsort vom hektischen Alltagsleben »da oben« flüchten. So unterschiedlich sie auch sind, hier sind sie eine verschworene Gemeinschaft. Otsukas Satzrhythmus erinnert tatsächlich an gleichmäßige Schwimmzüge. Einzelne Personen tauchen immer wieder aus der Gemeinschaft auf, als würden sie kurz Luft holen.

Doch dann erscheint ein Riss unter Bahn 4, haarfein zunächst, doch dieser Riss beschäftigt die Seitenlagenschwimmer, Aquajogger, Morgenschwimmer und Bahnenrowdys auf alle erdenkliche Weisen. Der Riss geht nicht nur durch die Fliesen, auch durch die Gemeinschaft, durch Alice’s Kopf und durch die Geschichte. Der heitere Schreibstil reißt ab, und wir tauchen in die Welt der Demenz ab, in das Vergessen, das Sich-nicht-mehr-erinnern-können. Hier hat mich Otsuka, fast wie in einem Strudel, in die Tiefe gezogen. Von »na ja, so schlimm wird es schon nicht sein« bis »das wars, wir müssen schließen«. Denn der Verlauf der Demenz ist unaufhaltbar. Trotz der bedrohlichen Situation bleibt Otsukas Sprache zärtlich und mitfühlend.

Das ändert sich, als Alice ins Belavista, eine Langzeit-Pflegeeinrichtung, »umziehen« muss. Ab hier gibt es kein Zurück mehr. Keine Selbstbestimmung, nur noch Kontrolle. Es schwingt auch eine gehörige Portion Kritik am Pflegesystem mit.
Gleichzeitig apelliert die Stimme an das Leben. Es findet jetzt in diesem Augenblick statt. Es gibt ihn nicht, diesen »besseren Moment«, für den man Dinge aufspart, denn am Ende bleibt nur die Reue, etwas nicht getan zu haben.

»… Sie hätten diese teuren Pumps tragen sollen, die Sie ganz hinten in Ihrem Schrank für einen besonderen Anlass aufbewahrt haben (der welcher wäre?). Sie hätten leben sollen (aber was haben Sie stattdessen gemacht? Sie sind auf Nummer sicher gegangen und in Ihrer Bahn geblieben).« S.91

Noch eindringlicher wird der Tenor, wenn Otsuka in die Du-Perspektive wechselt. Du, das ist die Tochter, deren innere Stimme ihr Vorwürfe macht. Denn nun lässt sich nichts mehr nachholen, was sie über die Jahre versäumt hat zu tun. Wie viel schulden wir eigentlich unseren Eltern?

»Du hast deine Mutter in all den Jahren, in denen du weg warst, kein einziges Mal zu dir eingeladen. Du hast ihr nie geschrieben … Du bist nie mit ihr nach Paris oder Venedig oder Rom gefahren, an all die Orte, von denen sie immer geträumt hat …« S.128

Fazit. Ich bin sicher, dass dieses Buch nicht jedermanns Geschmack ist, schon aufgrund der fehlenden Handlung. Für mich war es ein absolutes Highlight. Otsuka hat mich mit ihrer meisterhaften Umsetzung, ihrem gekonnten Spiel mit außergewöhnlichen Perspektiven, mit ihren schonungslosen Brüchen, ihrer Direktheit schwer beeindruckt – literarisch ein absolutes Meisterwerk, das mich emotional schonungslos in die Tiefe gerissen hat. Und dass sie es bei all der Tragik geschafft hat, Humor wie kleine lichte Momente aufblitzen zu lassen, ohne die das Buch wohl kaum zu verkraften wäre.
Mein ganzer Respekt gebührt auch Katja Scholtz, die diese rhythmische, klare Satzstruktur hervorragend ins Deutsche übersetzt hat.

Bewertung vom 30.10.2023
Gute Nacht, Tokio
Yoshida, Atsuhiro

Gute Nacht, Tokio


ausgezeichnet

Yoshida schafft es, mit seinen Worten Stille über eine Stadt auszubreiten, die auch nachts nicht zur Ruhe kommt. In einzelnen, gedanklich miteinander verbundenen Episoden erzählt er von denen, die nachts durch Tokio streifen – Nachteulen, Nachtschwärmer, Menschen, denen der Tag zu laut und zu grell ist. Matsui, der mit seinem Taxiunternehmen »Blackbird« nur Nachtfahrten unternimmt, Mitsuki, die als Filmrequisiteurin eine Biwa, eine seltene Frucht, auftreiben soll oder Kanako, die bei der Telefonseelsorge arbeitet, und die korrekte Entsorgung einer Sprachaufzeichnungsbox beaufsichtigen soll.
Alle Figuren scheinen nach etwas auf der Suche zu sein, wirken seltsam verloren, ein bisschen skurril und werden abwechselnd von Yoshida in den Fokus gerückt. Perspektiven werden gewechselt, so dass jede*r seine Wichtigkeit erhält mit seinen Sorgen, Aufgaben, Wünschen und Träumen.
Und so lassen wir uns mit dem Taxi durch ein Tokio kutschieren, das nur wenig mit der hektischen Stadt zu tun hat, wie wir es kennen. Folgen ihnen in einen Trödelladen, dessen Besitzer einzelne Treppenstufen verkauft, und gebrauchtem Werkzeug neue Namen gibt; zu vier Frauen, die das »Drehkreuz«, ein Nachtbistro leiten; einem Privatdetektiv, der sich auf den Spuren seines Vaters befindet und alte B-Movies ansieht.
Beim Lesen ahnt man schnell, dass ein Gespinst von zarten Verbindungen gewebt wird, das die Menschen früher oder später zusammenführen wird. Es ist die Einsamkeit, die sie verbindet, während sie nachts alle auf besondere Art voneinander abhängig sind und sich nur um Haaresbreite verpassen.

Eine Lektüre, die entschleunigt, die mit der gedämpften Stimme der Nacht leise und empathisch daherkommt, leicht der Wirklichkeit entrückt scheint und nahe am Übersinnlichen vorbeistreicht, doch immer in Rahmen des Vorstellbaren bleibt. Schicksale, Träume und Lebensentwürfe schimmern durch den wolkenverhangenen, nachtblauen Himmel wie eine blasse Mondsichel. Aber auch Liebe und Verlust finden ihren Platz in den Gesprächen – Kanako, deren Bruder seit vielen Jahren verschwunden ist oder Matsui, der noch immer darauf wartet, das diese eine Frau aus vergangenen Tagen wieder in sein Taxi steigt. Vom Verpassen und Erinnern ist die Rede, aber die Nacht macht sichtbar, was das Tageslicht verschluckt.
Mit nur 191 Seiten war es für mich die perfekte Lektüre auf der 5-stündigen Bahnfahrt. Alle, die es gern etwas ruhiger haben und vielleicht noch nicht viel japanische Literatur gelesen haben, sollten sich dieses zauberhafte Büchlein nicht entgehen lassen.
2022 erschien das Buch im Cass Verlag und stand zu Recht auf der Hotlist der unabhängigen Verlage. Nun hat es hanserblau erneut herausgebracht. Übrigens wunderbar übersetzt von Katja Busson und die Illustration auf dem Cover stammt vom Autor selbst.

Bewertung vom 09.10.2023
Schaurige Nächte
Collins, Bridget;Gowar, Imogen Hermes;Hargrave, Kiran Millwood

Schaurige Nächte


gut

Wenn die Tage kürzer werden und wir uns abends gemütlich in eine Decke kuscheln, dann wird es Zeit für gruselige Geschichten. Wer kennt sie nicht die Klassiker von Charles Dickens oder Oscar Wilde. Ebenezer Scrooge und der Geist der Weihnacht, aber auch das Gespenst von Canterville werden mir wohl ewig im Gedächtnis bleiben, genau wie das Gefühl des Unheimlichen, das von ihnen ausgeht.
Mit »Schaurige Nächte«, im Original »The Haunting Season« hat es vor zwei Jahren ein Kurzgeschichtenband zum Sunday-Times-Bestseller geschafft. Ob die Geschichten mit den Klassikern mithalten konnten?

Ich muss sagen, dass ich außer Jess Kidd keine/n der Autor*innen kannte, aber das muss ja nichts heißen. Gleich die erste Geschichte von Bridget Collins »Studie in Schwarzweiß« konnte mich mit ihrer Atmosphäre einfangen. Gespenstige Koniferen, die Schachfiguren nachempfunden sind, verführen einen Mann, das leerstehende Haus zu kaufen, um das die Einheimischen lieber einen großen Bogen machen. Allerdings verpufft der erste Eindruck mit Fortschreiten der Geschichte, da sie sich weder steigerte, noch irgendeine gruselige Wirkung entfaltete.
Genau den Eindruck hatte ich auch von einigen anderen Geschichten. Man setzt hier in den meisten Fällen auf das altbewährte Konzept viktorianischer Geistergeschichten, das aber vorhersehbar bleibt, keine überraschenden Momente bietet und kaum über einen atmosphärischen Grundtenor hinauskommt. Einsame Häuser zu Zeiten, als es noch Kutschen gab und keine Telefone, der Rollstuhl eines Verstorbenen, der noch eine Rechnung mit den Lebenden offen hat. Die Grundidee oft sehr gut, die Ausarbeitung wenig schaurig.

Jess Kidd schreibt über einen Gedenk-Fotograf, der in seinen Bildern das Leben der Verstorbenen festhalten will und sich prompt in eine Tote verliebt. Mit typischer Kidd-Handschrift schildert die Autorin Skurilles und löst sich vom üblichen Geisterschema.
Ich denke, wer Geistergeschichten mag, sollte sich hier selbst ein Bild machen. Bei mir hat es weder ein unheimliches Gefühl ausgelöst noch eine Gänsehaut. Es waren durchweg leicht zu lesende Geschichten, die interessant waren, aber mehr leider auch nicht. Am Ende des Buchs hatte ich tatsächlich den Ausgang der ersten Geschichten schon wieder vergessen.
Bleibt die Frage: Gibt es sie, die moderne Gruselgeschichte? Eine, die auch in der heutigen Zeit funktioniert und sich von dem allseits bekannten Muster lösen kann?
Es mag sein, dass ich hier die falsche Zielgruppe bin, da ich jeden Thriller wesentlich spannender und fesselnder finde. Und wenn ich mir die nachhaltige Wirkung von Oscar Wilde und Charles Dickens ins Gedächtnis rufe, bleibe ich dann wohl eher bei den Klassikern.

Bewertung vom 05.10.2023
Groll
Carofiglio, Gianrico

Groll


gut

Die frühere Staatsanwältin Penelope Spada arbeitet heute unfreiwillig als Privatdetektivin ohne Lizenz. Marina Leonardi bittet sie, den Tod ihres Vaters unter die Lupe zu nehmen. Offiziell starb der bekannte Chirurg an einem Herzinfarkt, doch er hat sein Testament zugunsten seiner jungen Ehefrau geändert. Spada übernimmt zwar den Fall, macht Marina aber wenig Hoffnung, zumal die Leiche ihres Vaters bereits seit zwei Jahren eingeäschert ist. Gäbe es da nicht einen Hinweis, dass Vittorio Leonardi die Absicht hatte, sein Testament erneut zu ändern. Doch Marina scheint lediglich wütend auf ihren Vater zu sein, zu dem sie nie eine herzliche Beziehung hatte.

Soweit zu der Kriminalhandlung, die aber weder im Vordergrund steht noch genügend Spannung aufweist, um mich dauerhaft bei der Stange zu halten. Sie ist lediglich der Aufhänger für Spadas innere Auseinandersetzung mit ihrer Vergangenheit, die zunächst angedeutet wird. Die Ermittlungen plätschern vor sich hin, mehr vom Zufall bestimmt, da es ja eigentlich nichts mehr zu ermitteln gibt, und Spadas Unlust ist fast spürbar.
Ziemlich schnell fand ich heraus, dass es bereits das zweite Buch über die Privatdetektivin ist, das erste wurde nie übersetzt. Das störte mich immer wieder, weil bereits zu Beginn angedeutet wird, dass etwas Entscheidendes vor fünf Jahren passiert sein muss und nun im Zusammenhang mit dem Fall in Spada mächtig arbeitet. Ständig hatte ich das Gefühl, mir würde Hintergrundwissen fehlen. Ob dem tatsächlich so ist, kann ich nicht sagen, zum Glück wird aber die damalige Begebenheit rückblickend aufgearbeitet. Dennoch war es lange Zeit für mich verwirrend.

Hinzu kommt, dass Spada ein ziemlich sperriger Charakter ist. Sie ist von Schuldgefühlen und Selbsthass geplagt, betäubt sie mit Alkohol Zigaretten und One-Night-Stands. Die ehemalige Stabhochspringerin betreibt fast exzessiv ihre Sporteinheiten, gern auch im Park, wenn sie mit ihrer Bulldogge Olivia unterwegs ist. In einer gleichrangigen Nebenhandlung lernt sie dort Alessandro kennen. Im Laufe der Geschichte werden sie sich, vor allem auf intellektueller Ebene, näher kommen. Aber so richtig zünden wollte das bei mir auch nicht. Hier ist wohl auch alles auf eine Serie angelegt.
Hauptsächlich geht es um die innere Auseinandersetzung Spadas mit sich selbst, denn seit ihrem Fehler vor fünf Jahren hadert sie mit sich selbst und kann sich nicht verzeihen.
Sie ist nicht in der Lage anderen zu vertrauen, ständig ist sie auf der Suche nach dem Haken am anderen. Das ist psychologisch gut herausgearbeitet und nachvollziehbar – macht Spada aber nicht sonderlich sympathisch. Ein Konflikt tut sich auf, als sich Spada der jungen Witwe Lisa anfreundet. Hier liegt sicher auch Carofiglios Stärke, die moralischen Untiefen auszuloten. Er selbst war viele Jahre Antimafia-Staatsanwalt und hinterfragt hier die ethischen Aspekte der Aufklärungs- und Ermittlungsarbeit. Darf man auf der Suche nach der Wahrheit Grenzen überschreiten?
Interessant wurde dann ihr alter Fall doch noch, der uns ein wenig in die italienische Welt der Geheimgesellschaften einführt. Allerdings auch nur ein wenig, denn hier hätte das Spannungspotenzial gelegen.

Dass mir der ganze Roman eher nüchtern und verhalten erschien, liegt letztlich wohl an der spröden Protagonistin. Vielleicht hatte ich tatsächlich einen Krimi erwartet und war deshalb so gespalten in einem Eindruck. Hätte ich den Fokus eher auf die psychologische Komponente gelegt, vielleicht hätte es mich mehr erreicht.
Also alles in allem ein durchwachsenes Leseerlebnis, das mich aber nicht davon abhält, mehr von dem Autor zu lesen.

Bewertung vom 03.10.2023
Am Tisch sitzt ein Soldat
Schmidt, Joachim B.

Am Tisch sitzt ein Soldat


ausgezeichnet

»Diese Insel weist die Menschen ab, gönnt nur Seevögeln und Fischen ein behagliches Leben. Die Isländer mit ihren Schafen und Pferden, ihren Gummistiefeln und Kaffeemühlen; sie haben hier eigentlich gar nichts verloren.« S.44

Genauso fühlte sich Island für mich an, als ich das Buch las, das bereits 2014 erschien und nun bei Diogenes neu aufgelegt wurde. Kalt, wenig einladend und trotzdem hatte es eine gewisse Faszination.

Jón ist mittlerweile von der Insel geflüchtet und studiert in Hamburg Medizin. Als er einen Brief erhält, dass seine Mutter im Sterben liegt, macht er sich auf die Heimreise. Viele ermüdende Kilometer muss er am Ende zu Fuß nach Mývatnsveit laufen. Über die Menschen, die Jón dort erwarten, schreibt Schmidt:

»Die Bauern in der Mývatnsveit … sind kauzige Menschen. Da gibt es ziemlich missratene Geschöpfe, die wohl nur am äußersten Ende der Welt geduldet werden.« S.14

Und Jóns Familie, Nachbarn und Freunde gehören zu den Eigenbrötlern, die diesem kargen Landstrich das Lebensnotwendigste abringen.
Wir schreiben das Jahr 1967, auf dem elterlichen Hof erwarten ihn nur noch seine herrische Tante Rósa und sein geistig behinderter Bruder Palli. Und während sie darauf warten, dass die Mutter stirbt, gleiten Jóns Gedanken immer wieder zurück in seine Kindheit. Sein Vater starb beim Schafabtrieb im Gletscherfluss, als Jón 2 Jahre alt war. Das weiß jeder in der Gegend. Und noch etwas geschah im 2. Weltkrieg, von dem Island nur marginal betroffen war, ein deutsches Militärflugzeug stürzt in der Nähe des Hofes ab. Den Soldaten kann man retten, er wird allerdings kurz darauf festgenommen und sein Flugzeug liegt noch heute an Ort und Stelle. An viel kann sich Jón nicht mehr erinnern. Aber stimmt es auch, was man sich hier erzählt?

Wieder einmal überrascht mich Schmidt mit einer Geschichte, die sich ganz langsam dreht und zu einem Krimi wird. Denn das Leben der Familie wird von einer großen Tragödie überschattet, über die man schweigt.

Ich mag Schmidts einfühlsame Art zu schreiben, seinen Tiefgang aber auch seinen leisen Humor. Sein ungeschönter Blick auf die einfach Menschen, die in diesem abgeschiedenen Teil der Welt leben, die einsilbig sind, sich die Einsamkeit erträglich trinken, die irgendwie vergessen wurden vom Rest der Welt und sich nicht immer um Recht und Gesetz scheren.

Beim Lesen hat man eigentlich nur das Bedürfnis, einen heißen Tee zu trinken und sich in eine Decke zu kuscheln. Definitiv wird die Geschichte noch lange in mir nachhallen, denn bisher hat mich kein Buch über Island atmosphärisch so eingefangen, dass es bleibenden Eindruck hinterlassen hätte. Auch wenn sich meine Sympathie für die meisten Figuren in Grenzen hielt, hab ich sie am Ende etwas bedauert, dass sie dort am Ende der Welt zurückbleiben mussten.
Ich denke, das Buch ist ein Muss für alle Schmidt-Fans. Hin und wieder blitzt auch der leicht schwarze Humor des Autors durch, den er in seinen Kalmann-Büchern perfektioniert hat.

»Vielleicht ist es der Zauber des Nordens, der seine Bewohner im festen Griff hält. Wird man nämlich von solch dunklen Gedanken geplagt und entschließt sich vielleicht, der Insel den Rücken zu kehren, lässt die Sonne unverhofft ihr goldenes Licht durch die Wolken strahlen, und die Millionen Schneeflocken verwandeln sich in Kristalle, die sich sanft auf die Auen legen und das Land in eine zauberhafte Märchenwelt verwandeln, sodass das mürbe Islandherz voller Stolz zu schlagen beginnt. Und die Frage, wie man es hier in dieser Einöde nur aushalten soll, ist plötzlich vom Tisch.« S.124

Bewertung vom 28.09.2023
Einmal noch sterben
Bottini, Oliver

Einmal noch sterben


ausgezeichnet

Letztes Jahr bekam ich für den Autor eine große Empfehlung und habe mich nach über 20 Jahren mal wieder an einen Politikroman getraut. Ja, Bottini nennt es einen Roman, auch wenn die Spannung an vielen Stellen mit einem Thriller mithalten kann.

Nun ist es nicht gerade mein Wohlfühlgenre, aber schon nach ein paar Seiten fühlte es sich für mich an, als lese ich einen Carré.

Worum gehts?
2003 präsentiert der US-amerikanische Außenminister Powell angebliche Beweise für Saddam Husseins Massenvernichtungswaffen. Seine Quelle ist »Curveball«, ein fragwürdiger Informant des BND. Obwohl berechtigte Zweifel an dessen Aussage existieren, nutzt die Bush-Regierung sie als Legitimation für den Krieg gegen den Irak. Deutschland unter der Schröder-Regierung wird sich nicht daran beteiligen. So viel zu den Fakten. Im Roman gibt es eine irakische Regierungsgegnerin, die beweisen kann, dass Curveball lügt. Der Krieg könnte also noch abgewendet werden. Doch nun beginnt ein fieses Intrigenspiel. Frank Jaromin, Agent beim BND, wird nach Bagdad geschickt, um die Übergabe der Gegenbeweise zu sichern, doch schon seine Reise verläuft nicht wie gewünscht. Seine Mission läuft gründlich schief.
Gleichzeitig versucht die BKA-Sonderermittlerin Hanne Lay, die Identität Curveballs zu überprüfen, auch ihr werden von verschiedenen Seiten Steine in den Weg gelegt.
Schnell wird klar, dass beiden ein Gegner aus den eigenen Reihen gegenübersteht, eine Seilschaft, die im Gegensatz zur deutschen Regierung Interesse an dem Krieg hat.
Bottini hält sich natürlich an den Lauf der Geschichte, aber er stellt die Frage, ob der Krieg nicht frühzeitig hätte verhindert werden können. Was wäre gewesen, wenn? Und so konstruiert er einen vielschichtigen Plot, in dem es um Loyalität und Vertrauen, Verrat und verborgene Wahrheit geht.

Denn auch wenn man im Nachhinein festgestellt hat, dass Curveball gelogen hat, so bleiben doch einige Fragezeichen – wie das immer so ist, wenn Geheimdienste ihre Finger im Spiel haben. Bottini nutzt die Lücken, um seine Fiktion anzusiedeln und neue Fragen aufzuwerfen. Wie weit kann man staatlichen Institutionen trauen? Inwieweit war Deutschland tatsächlich am Krieg beteiligt? Dabei driftet Bottini aber nie ins Reich der Verschwörungstheorien ab.
Aber auch seine Figuren widmet er eine tiefe Charakterzeichnung. Was macht es mit einem, wenn man jahrelang als Agent arbeitet, seine Familie, die nichts davon wissen darf, daran zerbricht?
Bottins Politthriller ist ein absolut lesenswertes Buch, hochkomplex und rasant geschrieben. Schauplätze und Kapitel lösen sich in rascher Folge ab, und ganz allmählich verknüpfen sich alle Handlungsfäden. Köpfe rollen, Fäden werden gesponnen, Kollateralschäden in Kauf genommen. Die Welt ist und bleibt ein Wirrwarr aus Machtinteressen, die wir wohl nie durchschauen werden.
Erst dachte ich ja, dass ich an dem Genre scheitere, aber dem war nicht so. Ich habe mich zwar kurz in den historischen Hintergrund eingelesen, aber mit seiner Geschichte hat er mich restlos gefesselt.
Absolut verdienter 2. Platz beim Deutschen Krimipreis 2022.

Bewertung vom 26.09.2023
Andy Africa
Buoro, Stephen

Andy Africa


sehr gut

Andrew Aziza, den alle Andy Africa nennen, lebt mit seiner Mutter im Norden Nigerias. Er liebt sie, aber innerlich schämt er sich für sie, weil sie ungebildet und arm ist. Über seinen Vater schweigt sich die Mutter aus. Nachts träumt er von blonden Mädchen, auch wenn er die nur aus dem Fernsehen und von den Raubkopien westlicher Filme kennt. Doch dann begegnet ihm Eileen, die Nichte des örtlichen Pfarrers, die platinblonde Frau seiner Träume. Während er sich beim örtlichen Kirchenfest in sie verliebt, rast ein auf Rache sinnender muslimischer Mob auf die Kirche zu und verändert sein Leben dramatisch.
Dank eines kirchlichen Stipendiums kann Andy eine Privatschule besuchen – doch seine Mutter kann sich kein Fleisch leisten. Andy schreibt Gedichte, die hier immer wieder einfließen, – doch seine Stadt mit über 100.000 Einwohnern hat nicht mal eine Bibliothek. In seiner Heimatstadt Kontagora fliegen Müll und Plastiktüten durch die Straßen – die Hauptstadt dagegen sieht aus wie geleckt. Das ganze Buch strotzt von Gegensätzen, dass mir beim Lesen schnell klar wurde, in welcher inneren Spirale Andy feststecken muss.

Ein eindrücklicher Coming of Age Roman über die Zerrissenheit der Jugend in Buoros Heimatland, der mich schwer beeindruckt hat. Er zeigt, wie junge Afrikaner sich fühlen müssen, die einerseits nach alten Traditionen erzogen werden, aber von westlichen Medien und Vorstellungen überschüttet werden, die die Folgen der Kolonialisierung tragen, denen Religionen aufgezwungen wurden, die aber auf der Suche nach ihren Wurzeln, ihrer Identität sind. Und wie sich das anfühlt, wenn man zwischen den Stühlen sitzt, politisch instabile Machtverhältnisse Landstriche in die Armut stürzen, das Leben perspektivlos ist, all das zeigt Buoro sehr eindringlich, sehr facettenreich. Was also ist das Schicksal Afrikas? Die Flucht oder ein Ausharren »wie in einem langen Gebet«?

Dieses Buch ist in einem wahnsinnigen Tempo geschrieben, denn die Ereignisse überschlagen sich ab einem gewissen Punkt und bestärken Andy darin, dieses Land, »diesen ganzen beschissenen Kontinent« zu verlassen. Die Liebesgeschichte mit Eileen steht also nicht im Fokus, sondern erscheint Andy als einzige Lösung der Misere. Könnte er durch sie seinen Hass auf seine Hautfarbe überwinden?
Andy ist ein lustiger, intelligenter Kerl, der als Erzähler seine Leserschaft mit viel Charme, Bissigkeit und Selbstironie einfängt. Doch so lustig einige Teenager-Episoden daherkommen, so traurig und dramatisch sind andere Ereignisse, die in den wenigen Wochen nicht nur sein Leben für immer verändern.
Es fällt mir echt schwer, dem Buch annähernd gerecht zu werden, da es so überaus komplex ist, dass sich viele Themen erst nach und nach erschließen. Da hilft wirklich nur, es selbst zu lesen.

Einen Kritikpunkt habe ich, der aber nicht in meine Bewertung einfließt. Wenn ich etwas nicht verstehe, dann mache ich mich parallel zum Lesen gern schlau und hier habe ich sehr viel gegoogelt. Allerdings haben mich die ganzen Ausführungen zu Permutation, Animismus und Anifuturismus komplett überfordert. Aber wie gesagt, das ist mein Ding und hat dem Verständnis der Geschichte keinen Abbruch getan.

Über das Ende habe ich lange nachdenken müssen, denn ich hätte mir gern ein besseres, schöneres gewünscht. Aber nun glaube ich, dass es tatsächlich nur dieses eine Ende geben konnte. Im Original heißt das Buch »The Five Sorrowful Mysteries of Andy Africa«, was sich auf den Kreuzweg von Jesus bezieht, und sich in den Kapitelüberschriften widerfindet, und somit das Ende erklärt. Buoro hat hier ein richtig gutes, opulentes literarisches Debüt abgeliefert, das mich nachhaltig beeindruckt hat.

Bewertung vom 23.09.2023
Sinkende Sterne
Hettche, Thomas

Sinkende Sterne


weniger gut

Der namensgleiche Protagonist in Thomas Hettches neuem Buch hat seinen Job als Hochschullehrer verloren und macht sich auf ins Wallis, wo das Haus seiner Kindheit steht. Erinnerungen und Vergänglichkeit erwarten ihn im Chalet seiner verstorbenen Eltern. Doch im Ort ist man ihm nicht wohlgesonnen. Als Deutscher habe er kein Bleiberecht mehr, sein Haus würde in einer Kürze versteigert und er müsse das Land verlassen.
Irgendwie ist alles noch so, wie es war, aber eigentlich ist doch nichts mehr so. Vor einiger Zeit hat es einen massiven Bergrutsch gegeben, der die Rhone zu einem See angestaut hat und dabei etliche Dörfer versenkt hat. Alte Machtstrukturen haben sich wieder etabliert, nachdem sich das deutschsprachige Wallis vom französischsprachigen separiert hat.
Doch Hettche bleibt. Vielleicht ist auch seine alte Jugendliebe Marietta der Grund. Eine der wenigen, die geblieben ist, und nun in alter Tradition das Vieh im Sommer in die Berge treibt. Ihr folgt er für ein paar Wochen in die karge Welt der Hochalpen, wo er ihr wieder näherkommt, bei der Käserei hilft und Serafine, Mariettas Tochter, ihm Mythen der Berge erzählt.

Hettche hat mich mit seiner bildgewaltigen Sprache und kraftvollen Naturbeschreibungen durch die erste Hälfte des Buches getragen. Auch seine Erinnerungen an seine Gespräche mit seinem letzten Studenten Dschamil über die Odyssee und Sindbad mochte ich gern folgen. Etwas abgefahrener war da schon das Treffen mit einer etwas seltsamen Bischöfin. Aber dann hat er mich langsam verloren.

Auch wenn ich der Suche und dem Irren des Protagonisten oft folgen konnte, seine Zweifel an der immer schneller werdenden Zeit, die alles infrage stellt, verstehen konnte, verlor sich seine anfängliche Handlung in ausschweifenden, essayartigen Reflexionen. Immer wieder bezugnehmend auf Literatur und Kunst hätte ich wahrscheinlich unzählige Werke lesen müssen, um die Essenz dahinter zu verstehen. Ich fand es äußerst mühsam, seinen Gedanken und Ausführungen zu folgen, und habe gleichzeitig auf den Fortgang der Handlung gehofft. Doch anfänglich aufgeworfene Konflikte versanden, der Protagonist versinkt in einem Fieberwahn und schreibt lieber über Rilke.
Ich bin halt nur eine Durchschnittsleserin, und mich interessiert keine kritische Auseinandersetzung mit dem eigenen Schreibprozess oder wenn er über Wittgenstein, Proust oder Lukrez doziert. Sollen sich die Literaturkritiker daran erfreuen, ich bin raus. So wurde nach anfänglicher Freude das Buch für mich leider zur Enttäuschung.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 21.09.2023
Die Asche des Tages
Ó Cadhain, Máirtín

Die Asche des Tages


sehr gut

Wer kennt das nicht, wenn eine unangenehme Aufgabe vor einem liegt, schiebt man sie gern vor sich her.
Es ist Samstagmorgen und N.s Frau ist gerade nach langer Krankheit gestorben, doch N. hat etliche Fehlstunden und geht zunächst ins Büro, obwohl er sich um eine Grabstätte, einen Sarg und die Trauerfeier kümmern müsste.
Schon am missbilligenden Ton seiner Schwägerin, die ihn per Telefon antreibt, spürt man, dass N. es ihr wahrscheinlich nicht recht machen kann – egal, was er tut. Und so folgen wir Leser*innen ihm nicht nur seinen abwägenden Gedanken, sondern in die nächste Kneipe, wo ihm sein Bekannter Simón helfen soll, einen günstigen Sarg aufzutreiben. Doch allein die Kosten des Whiskeys sind N. zu hoch und er überlegt, wo er ihn günstiger bekommt. Er könnte ja noch schnell einen mit Tomás trinken, und dabei fällt ihm ein, dass der Leichnam seiner Frau auch noch aufgebahrt werden muss. Ob das nicht die Kleinen Schwestern der Armen für lau machen könnten?

»Und dann fielen ihm die Kirche und der Priester ein. Es gab so viel zu tun. Es war ein einziger Spießrutenlauf, und jede ausgestreckte Hand musste mit Geld geschmiert werden.« S.11

Doch Geld hat er bald keins mehr, denn ihm wird die Brieftasche gestohlen und die letzten Pence verliert er auf der Rennbahn. Und so nimmt das Schicksal seinen Lauf, denn mit jeder Stunde, die vergeht, wird es schwieriger, nach Hause zurückzukehren – wenn nicht sogar unmöglich.

Jetzt stellt sich die Frage: Was macht es für Lesende interessant, einem Menschen beim Prokrastinieren zuzusehen? Denn Handlung wird man in dieser Geschichte fast vergeblich suchen. Und ich habe mich ehrlich gesagt auch etwas schwergetan, brauchte mehrere Anläufe, um das Buch zu beenden. Aber Ó Cadhain hat es immer wieder geschafft, mich zurückzuziehen.

Und hier lag wohl auch die Kunst – es ist eine so anschauliche, zuweilen traurige Charakterstudie auf hohem Niveau. Ganz im melancholisch humorvollen Tenor, der der irischen Literatur eigen ist, vermittelt der Autor einen tiefen Einblick in die Gedankenwelt eines einfachen Mannes, den nichts anderes plagt, als auch uns in manchen Stunden. Ist es nicht allzu menschlich, sich nicht mit dem Thema Tod und Trauer beschäftigen zu wollen?
Ich schwankte oft zwischen dem Wunsch, ihn zu schütteln und zu sagen: »Jetzt mach doch endlich mal« und tiefem Verständnis für seine Situation, die durch seine Mitmenschen angefacht und befeuert wird. Auch mir waren seine Ausreden, seine Gedanken nicht fremd, die ihn immer wieder die Dinge verzögern ließen. Nun ja, da wäre ja noch das Thema mit dem »freien Willen«.

Ich denke, dass es kein Werk für jedermann ist, man sollte schon bereit sein, wirren, abstrusen Gedankengängen zu folgen. Aber dafür wird mit auch mit der Auflösung belohnt, ob N. seine Frau unter die Erde bekommt oder nicht.

Bewertung vom 15.09.2023
Dich zu verlieren oder mich
Qaderi, Homeira

Dich zu verlieren oder mich


ausgezeichnet

»Meine Großmutter war der Überzeugung, dass der Allmächtige einem Menschen kaum eine schwerere Prüfung auferlegen könne, als ein Mädchen in Afghanistan zu sein. Als Kind wollte ich kein Mädchen sein. Ich wollte nicht einmal, dass meine Puppen weiblich waren.« S.11

Das, was wir hier lesen, ist kein Roman! Ist ist die traurige, erschütternde aber auch hoffnungsvolle Lebensgeschichte einer afghanischen Frau und Mutter, die ergreifend und mutig schildert, was für uns Frauen hier in Deutschland unvorstellbar ist. Eine Geschichte, die unter die Haut geht. Unterbrochen werden die Kapitel von Briefen an ihren Sohn Siawash, der ihr mit nur 19 Monaten weggenommen wurde. Ihm versucht sie ihr Leben zu erzählen, damit er versteht, wie tief ihre Liebe zu ihm ist, und um Tausenden hilflosen afghanischen Frauen Mut zu machen.
Qaderi wächst in Herat, einer Großstadt im Westen Afghanistans auf. Schon früh wird für Qaderi deutlich, dass man ihrem Bruder andere Geschichten erzählt, Geschichten von Dschinns, von Wünschen, die in seinem Leben wahr werden können. Ihr machte vor allem ihre Großmutter, Nanah-jan, immer wieder deutlich, wo ihr Platz ist und was man von ihr erwartet.

»Meine Nanah-jan sagte immer: »In den Augen eines Mädchens sollte man Angst erkennen.«« S. 14

Unter der Herrschaft der Taliban wächst sie zur Frau heran und muss miterleben, wie den Frauen alle Rechte aberkannt werden. Sie dürfen nicht ohne männliche Begleitung auf die Straße gehen, sie dürfen nicht mehr lernen, keinen Beruf ausüben. Verstöße werden mit Auspeitschungen bestraft, schlimmstenfalls droht ihnen die Enthauptung. Doch Qaderi ist willensstark, mutig und rebellisch, findet immer wieder Wege, sich zu widersetzen und anderen Mädchen in ihrem Ort Mut zu machen.

Mit der Unterstützung ihrer Eltern gründet sie mit 13 Jahren eine Mädchenschule, offiziell, um den Koran zu studieren– das einzige Buch, das überhaupt noch gelesen werden darf. Aber sie bringt den Kindern Lesen und Schreiben bei, begleitet von der ständigen Angst, erwischt zu werden, denn es könnte für sie die Todesstrafe bedeuten. Doch das Leben wird sie noch vor eine Entscheidung stellen, deren Konsequenzen für jede Mutter unerträglich wären.

Dieses Buch hat mich immer wieder zu Tränen gerührt, manchmal war ich sprachlos, manchmal musste ich es zur Seite legen, weil es schier nicht zu verkraften war. Von Beginn an hat Qaderi mich mit ihren starken, poetischen und berührenden Worten gefesselt. Wie viel Mut es braucht, sich den Regeln und Gesetzen einer zutiefst konservativen patriarchischen Gesellschaft zu widersetzen, wenn klar ist, welche Konsequenzen zu befürchten sind. Ob russische Intervention, Bürgerkrieg oder Talibanherrschaft, das Land kennt keinen Frieden und keine Freiheit. Frauen werden zu Objekten degradiert, sind Vergewaltigungen, Zwangsheiraten und Polygamie ausgeliefert. Wie kostbar dagegen die kleinen Siege sind, die immer wieder errungen hat.

In einem sehr bewegenden Nachwort schreibt sie:
»Ich konnte es nicht fassen, dass ich eines Tages wieder gezwungen sein sollte, gegen die Taliban zu kämpfen. Aber die Wirklichkeit wurde zur Fratze, und die Weltgemeinschaft zeigte ihr wahres Gesicht, indem sie uns im Stich ließ.« S.233

Vielleicht erinnert ihr euch an die Bilder, als 2021 deutsche und US-amerikanische Truppen das Land verlassen, an die Menschen, die mit ihrer Verzweiflung und den neuen alten Talibanherrschern zurückgelassen wurden.
Bitte lest dieses Buch und vergesst nicht die Frauen in Afghanistan und all den anderen Ländern, die die Menschenrechte mit Füßen treten. Dieses Buch wird immer einen Platz in meinem Herzen haben.