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Benutzername: 
angie99
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dawo

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Insgesamt 43 Bewertungen
Bewertung vom 23.02.2022
Tell
Schmidt, Joachim B.

Tell


sehr gut

Tell? Kenn ich.
Tell, das ist in meinem Kopf verknüpft mit: langweiligem Geschichtsunterricht / der Armbrust, die unser Primarlehrer über seinem Pult hängen hatte / der obligaten Klassenfahrt nach Altdorf / schwer zugänglichen Schiller-Reimen / Abwandlungen derselben: „Durch diese Hose muss er gasen…“ / noch einem Ausflug, nämlich zur Hohlen Gasse / einer Filmparodie und einigen Werbesprüchen…

Tell, das ist in meiner Schweizer Birne Faszinosum und Abneigung zugleich.
Deshalb: Tell? Kenn ich. Einen neuen Tell? Brauch ich nicht.
- Oder doch? (Vielleicht gerade deswegen?)

Vorweg, meiner langen Liste dieses Buch von Joachim B. Schmidt hinzuzufügen, hat nicht geschadet, sondern meinen bergigen Horizont um eine sehr menschelnde Version erweitert.
Diese erfindet zwar das Rad nicht neu, kleidet den Herrn Wilhelm Tell jedoch in ein modernes und authentischeres Gewand als seine Vorgänger.

In kurzen Kapiteln und schnellen Sätzen entwirft Schmidt ein atemraubendes Panorama über das Leben „anno Tobak“. Jahreszahlen verwendet er keine; so hängt der historische Hintergrund an ein paar dünnen Fäden, in dem die handelnden Personen in habsburgische Besetzer und einheimische Bauern eingeteilt, Hellebarden und Armbrüste erwähnt werden. Das erschien mir dann leider doch etwas dürftig, gerade für Leser:innen, die über die Entstehung der Eidgenossenschaft vielleicht nicht so intensiv belehrt worden sind wie ich in meinen jungen Jahren.

Der Hauptmerk liegt eindeutig auf den Charakteren. Jede Figur erzählt in der Ich-Form, die einzelnen Mitglieder der Familie Tell kommen zu Wort, so wie auch der Dorfpfarrer, der Landvogt Gessler, seine rechte Hand Harras und seine Soldaten. Nach wenigen Seiten schon wieder ein Sichtwechsel, das hört sich anstrengend an, doch die einzelnen Figuren haben so viel Wiederkennungswert, dass man sie gut unterscheiden und der Handlung problemlos folgen kann. Schmidts Charakterisierungen wirken authentisch, es ist ein emotionales Leseerlebnis, das einen nur so durch die Seiten fliegen lässt. So entsteht ein Bild aus kleinen Mosaiksteinchen, wie die Geschichte um den Bauern und passionierten Jäger Wilhelm Tell hätte passieren können. Er selbst kommt erst gegen Ende zu Wort.

Als ziemlich hartherziger Grobian wird er beschrieben und damit – sehr bewusst – nicht als die typische, charismatische Heldenfigur aus der Überlieferung. Und nicht nur das, der Autor schreibt auch den Großteil von Tells angeblichen Heldentaten einigen dummen Zufällen und noch dümmeren Soldaten zu.
Hier ist mir leider das Bild der Besatzungsmacht etwas zu schief geraten. Die Charakterisierung Gesslers versteift sich allzu sehr darauf, dem störrischen Tell einen sanftmütigen Kontrahenten gegenüberzustellen, um das Heldenbild zusätzlich in Frage zu stellen. Zum Glück hat er Harras an der Seite, der mit seiner intensiven Brutalität noch ein bisschen von der Unterdrückung der Habsburger verkörpern kann. Alles andere verkommt nämlich eher zu einer Parodie.

Doch wahrscheinlich wollte Joachim B. Schmidt einfach nur zeigen, dass Tell eben doch nur ein sturer Bergbauer war und eher „cool durch Zufall“.
Tell als Mensch mit einigen Stärken und (vor allem) erheblichen Schwächen.
Tell als Glied einer Kette von familiären und dorfgemeinschaftlichen Reaktionen und Schicksalen.
Tell als Seifenoper. –
Und das gelingt ihm ganz gut.

Fazit: Ein rasantes, durch verschiedene Blickwinkel erzähltes Drama, das Tell als Mensch und nicht als Held (v)erklärt, aber mager an historischen / kulturellen Hintergründen.

Bewertung vom 13.02.2022
Die Feuer
Thomas, Claire

Die Feuer


sehr gut

Man kennt das: man sitzt im Theater, beobachtet das Geschehen auf der Bühne und ertappt sich gleichzeitig dabei, dass man ihm nur bedingt folgt, sondern sich gedanklich auf seine eigenen Pfade begibt, wobei die rezitierten Sätze immer wieder neue Anstöße zum Weiterdenken geben. So geht es auch den Protagonistinnen in diesem Roman, die da wären: Margot, die Literaturprofessorin (Anfang siebzig), Ivy, die Kulturmäzenin (Anfang vierzig) mit ihrer besten Freundin Hilary und Summer, die Studentin und Platzanweiserin (Anfang zwanzig). Sie alle befinden sich in einer Aufführung von Samuel Becketts Stück „Glückliche Tage“.

„(Das Stück) hat vor einer Viertelstunde angefangen, und nun spricht sie (die Darstellerin) über das Sprechen. ,Ich rede nicht nur zu mir selbst.‘ Ivy sollte an Winnies Lippen hängen, aber der schnarchende Mann zu ihrer Rechten lenkt sie ab. Anfang der Nullerjahre hat sie das Stück in Bristol gesehen – alle Akzente klangen furchtbar falsch…“ (S. 55)

Jedes Kapitel widmet sich dem Bewusstseinsstrom einer dieser Protagonistinnen.
Durch diese klare Abtrennung zwischen den Figuren ist es ein leichtes, jeder einzelnen zu folgen. Auf sehr geschickte Weise tröpfeln verschiedene Informationen über ihre Vergangenheit, ihre Arbeits- und Familienverhältnisse, ihre Ängste, Zweifel und Wünsche in den Text mit ein. Anders als bei anderen auf dem Stream of Cosciousness aufgebauten Werken, die verwirrend und schwer zugänglich wirken, wird man in diesem Fall nicht mit unlogischen Sprüngen oder Namedropping überfordert – ein Wohltat für das Leserherz!

„Allein dafür lohnt sich das Abonnement, für das stille Vergnügen, ein paar Mal im Jahr für einige Stunden im Theater zu sitzen, ungestört und geborgen. Aber ich habe irgendwo den Faden verloren, denkt Margot. Bei der Emse und dem Ei. Ach ja. Angst vor den falschen Dingen. Und dass sich meine Ängste in Bezug auf John als doppelt fehlgeleitet erwiesen haben.“ (S. 86)

Die titelgebenden Feuer bilden mit den in der Umgebung wütenden Buschfeuern eine eher zweitrangige Rahmenhandlung und gehen sowohl mit ihren zerstörenden als auch Wärme spendenden Aspekten in die Gedanken der Protagonistinnen ein. Trotzdem hätte ich persönlich den englischen Originaltitel „The Performance“ als treffender erachtet.

Denn in der Pause der Aufführung treffen die drei Frauen zufällig aufeinander und bilden ein eigenes Theaterstück im Theater, ein sehr kunstvoller und überaus geschickter Handgriff der Autorin.
Diese kurzen, eigentlich belanglosen Begegnungen sorgen für ein Umlenken und ein Umdenken der einzelnen Persönlichkeiten. Es sind leise Veränderungen, die hier ihren Anfang finden und deshalb umso authentischer, so wie auch die Figuren an sich aus dem Leben gegriffen wirken.

„Margot vermutet, dass es keine bestimmte Sorte Mensch gibt, die für ein gewisses Verhalten empfänglicher ist als andere. Es gibt immer wieder neue Situationen, und bevor wir uns darin wiederfinden, wissen wir nicht, was aus uns wird.“ (S. 201)

Dieser Roman gehört deshalb zu den Werken, die nicht mit viel Action, sondern mit einem geschliffenen Schreibstil und schön ausgearbeiteten Charakteren punkten.
Mich konnte dieses virtuose Werk mit seiner äußerst klug aufgebauten Struktur und den universal wichtigen Lebensthemen überzeugen.
Es hat mir aber der Funke Originalität gefehlt, der mich gänzlich dafür entzünden und aus dem soliden Werk ein Highlight hätte machen können.

Bewertung vom 11.02.2022
Die dritte Hälfte eines Lebens
Herzig, Anna

Die dritte Hälfte eines Lebens


gut

Das Gute zuerst: Anna Herzigs Sprachstil ist so eigenwillig wie eindrücklich. Er kratzt, fühlt sich unangenehm an, kratzt im Hals, kratzt an Oberflächen und Befindlichkeiten – und genau das soll er auch. In kurzen, minimalistischen Abrissen trifft die junge Schriftstellerin den Kern der Sache, destilliert damit die Wahrheiten heraus. Dabei gibt es, wie so oft, mehrere Wahrheiten, die auch über den zwei Teilen des Buches stehen: „Was man gehört hat“ und „Was die Leute sagen“. Es geht um Krimmwing, ein fiktives und doch universales Dort in Österreich. Und hier wird eben viel gesagt und gehört. Vor allem über die, die irgendwie nicht dazupassen.

Bei der Auswahl dieser dörflichen Außenseiter hat mir die Autorin jedoch zu tief in der Klischeekiste gegraben: ein Transsexueller, eine Dicke, ein uneheliches Mischlingskind. Vor allem das Schicksal des ungeliebten, stets drangsalierten Jungen mit seiner alleinerziehenden Mutter steht im Zentrum des Geschehens und wird mit scharfem Blick breitgetreten. „Die anderen und älteren Kinder, sie werden einen Kreis bilden, sich gegenseitig halten, zu zehnt, und beginnen, synchron mit langen, sommerbraunen Beinen nach dem kleinen, dicken Kind zu schlagen, das auch dunkel ist, aber eben nicht nur im Sommer.“ (S. 50)

Über die anderen Bewohner Krimmwings erfährt man nichts oder wenn doch, dann solches: „Eine stumme Mutter mit lila-gelblichen Flecken unter dem Hauskleid. Ein Ehemann nach dem Vorbild des eigenen Vaters. Und dessen Vater und dem davor.“ (S. 24) Das sind einerseits vielsagende Worte, die ganz deutlich die dörflichen Machtstrukturen erkennen lassen, andererseits aber arg schematisch die Grenzen abstecken: Hier sind die „Bösen“. Die Gewalttätigen, die das Sagen haben. Und damit begeht Herzig im Prinzip den gleichen Fehler wie die Figuren, die sie selbst kritisiert: Sie schafft es nicht, das Menschliche aus diesen verkrusteten Hüllen herauszuschälen.

Obwohl Herzig gegen Ende hin einige Wendungen einbaut, die das Gefühl geben, dass ja doch nicht alles ganz so ist, wie es am Anfang scheint, bleiben die Charaktere durchwegs auf ihre festgelegte Schiene beschränkt und haben keinen Freiraum, sich zu entwickeln.

Zu sehr konzentriert sich die Erzählweise auf ihre verknappende Weise darauf, immer nur häppchenweise die verschiedenen Wahrheiten preiszugeben. Gerade im Mittelteil hatte ich somit die Übersicht verloren, was wann passiert und – obwohl es eigentlich nicht viele sind – wer denn wer ist, denn der El-Kah-Ih heißt plötzlich nur noch Rathbauer und war jetzt der Warninger oder der Dohringer der wo früher mal… – zurückblätter – … aber wenn das der war, wie kann der dann jetzt… – hä?! Mich zu beschränkt für die nicht wirklich komplizierte, sondern nur (zu) kompliziert erzählte Story fühlend haben die vielen Hä?!-Momente meinen Lesegenuss verdorben. Fast so wie die Außenseiter in Krimmwing am Leben scheiterte ich an deren literarischer Aufbereitung.

So konnte mich das durchaus löbliche Grundanliegen dieses kurzen, dichten Romans aufgrund der zweidimensionalen Figurenzeichnung und ungeklärten Sicht- und Zeitverschiebungen leider nicht wirklich erreichen. Obwohl der Schluss der Schluss nochmals einiges aufklärt und schöne Sätze hier ihren Eingang finden: „Mit einem vom Dreck der Anderen verklebten Kopf weiß man nicht mehr, wer man eigentlich ist.“ (S. 124)

Fazit: literarisch anspruchsvoll aufgebaut - Charaktere klischeehaft und unzugänglich. Die Sprache kratzt an der Oberfläche, aber leider auch nur da.